Er saß jetzt schon seit drei Stunden vor dem Telefon. Nichts. Aber er war sicher. Sie hatten den 23. März als Stichtag ausgemacht. »Der Vertrag umfasst 365 Tage. Beginn: Heute null Uhr.« Das hatte der Herr von der Agentur Target gesagt. Zuerst hatte es Geiger für einen Scherz gehalten. Eine natürliche Reaktion, wenn jemand sagt: »Wir würden Sie gerne ein Jahr als Testperson gewinnen. Sie müssen nichts tun. Außer ganz Sie selbst sein. Gegen ein Entgelt von 6000 Euro monatlich erhalten wir im Gegenzug das Recht, Sie ein Jahr lang zu beobachten. Marktforschung, Sie verstehen? Am 23. März nächsten Jahres läuft der Vertrag aus.« Und tatsächlich. Geiger erhielt jeden Ersten die 6000 Euro. Von Target hatte er seitdem nichts mehr gehört.

 

»Es ist sehr wichtig für uns, dass Sie nicht wissen, was wir wann testen. Die Ergebnisse müssen objektiv sein. Unsere Agenten werden völlig unbemerkt vorgehen.« Immer wieder hielt Geiger Ausschau, ob ihn jemand beschattete. Er suchte die Wohnung nach Wanzen ab. Doch von den Agenten fehlte jede Spur. Jetzt saß er vor diesem Telefon. In der Annahme, dass sich die Agentur zumindest zum Auslaufen des Vertrages melden würde. Ein paar Dankesworte

 

Schon seit geraumer Zeit hatte er sich gefragt, was Target eigentlich untersuchte. Sein Konsumverhalten? Seine Fernseh- und Essgewohnheiten? Seinen Biorhythmus? Sein Sexualleben? In diesem Fall sähe es mit einer Vertragsverlängerung schlecht aus. Schließlich hatte ihn Ingrid bereits vor acht Monaten verlassen. Einerseits, weil ihr der Gedanke, ständig beobachtet zu werden, unheimlich wurde. Andererseits fiel ihr durch die andauernde Anwesenheit Geigers auf, dass sie ihn doch nicht liebte. Vielleicht lieben die meisten Menschen ihre Partner aufgrund ihrer häufigen Abwesenheit, dachte sich Geiger, der sich ein Leben ohne die unsichtbaren Beobachter kaum noch vorstellen wollte.

 

Schließlich hatten die Agenten sein ganzes Leben verändert. Nicht, dass etwas Außergewöhnliches passiert wäre. Aber das Wissen um die Observierung hatte Geiger dazu veranlasst, sein Leben wesentlich bewusster zu leben. Er hatte von Anfang an versucht, für die Agenten einen vorbildlichen Geiger abzugeben. Er trennte Müll. Er duschte sich täglich. Er hörte auf, sich den Serienmist im Fernsehen anzusehen. Er bemühte sich, möglichst abwechslungsreich zu kochen. Als Ingrid ging, war es ihm peinlich. Was sollten die

 

Die eine Stunde war vorbei. Geiger griff zum Hörer. Freizeichen. Als nach dreißig Sekunden niemand ranging, legte er auf. Seltsam. Keine Warteschleife. Hatte man Target geschlossen? Er hatte nie angerufen. Das Geld lag jeden Ersten am Konto. Er rief die Auskunft an, um eine gültige Nummer zu erfragen. Doch eine Agentur Target war nicht registriert. Handelte sich alles um einen schlechten Scherz? Wer steckte dahinter? Jemand, der es genoss, mit dem Leben anderer zu spielen? Die sichere Gewissheit Geigers, niemals allein zu sein, wich der Angst, mit dieser Ungewissheit nicht leben zu können. Er musste diesen Menschen finden. Nur wie?

 

Die Polizei würde ihn für verrückt erklären. Andererseits gab es die 6000 Euro am Konto. Gab es die wirklich? Er rief bei der Bank an. Man bestätigte ihm, dass die letzte Zahlung am 1. März einging. Allerdings wurden die Beträge allesamt bar eingezahlt. Ein Inserat aufgeben? Aber offensichtlich wollte er nicht gefunden werden. Warum sollte sich also jemand

 

»Sind auch Sie ein Opfer von Target? Bitte melden Sie sich unter 4538723.« Er gab die Anzeige sofort bei allen großen Tageszeitungen in Auftrag und verbrachte die nächsten Tage wartend vor seinem Telefon. Niemand meldete sich. Auch eine erneute Anzeigenoffensive half nichts. Nach neun Tagen verließ er das erste Mal die Wohnung. Er sah sich um. Doch niemand, der sich für Geiger interessierte. Er fühlte sich einsam inmitten dieser Menschenmasse, für die er unsichtbar war. Und plötzlich vermisste er Ingrid. Das erste Mal, seit sie ihn verlassen hatte, sehnte er sich nach ihrer Anwesenheit. Er hatte seit damals nichts von ihr gehört. Aber er wusste, wo sie wohnte.

 

Als er vor ihrer Tür stand, beschloss er, nicht zu läuten. Was sollte er ihr sagen? Er sehnte sich nach ihrer Anwesenheit, wollte aber nicht mit ihr leben. Vielleicht reichte es, sich ein paar Stunden in ihrer Nähe aufzuhalten. An ihrem Leben aus der Entfernung teilzuhaben. Geiger dachte an den Mann von Target, der sich nie mit Namen vorgestellt hatte. Geiger hatte sein Gesicht nur noch schemenhaft vor Augen – erkannte es aber in der Sekunde, als der Mann gemeinsam mit Ingrid das Haus betrat.