»Geh nicht«, sagte Silvia.
Sie stand in der Badezimmertür und beobachtete Vera, die das Haar seit der Trennung nicht mehr offen getragen hatte.
»Ich sehe schon, es hat keinen Sinn.«
»Wenn die Kleine aufwacht, rufst du mich an, ja?«
»Wenn du um drei Uhr nicht zu Hause bist, dann ruf ich dich an.«
Vera schickte ihrer kleinen Schwester einen mütterlichen Blick.
»Du bist rührend.«
»Ich finde es komisch, dass er dich gleich nach Hause einlädt.«
»Wir leben im 21. Jahrhundert.«
»Aber es ist ein Blind Date. Da trifft man sich in einem Lokal, damit man rechtzeitig flüchten kann.«
Vera zuckte die Achseln und drückte Silvia einen Kuss auf die Wange.
»Was soll schon passieren?«
Vera hatte Henry2 auf Love.at kennengelernt. »Akademiker Ende 30 sucht intelligente Frau für extravagantes Dinner.« Dass dieses Abendessen bei Henry2 zu Hause stattfand, hatte sie zunächst auch irritiert, aber Klaus Graller, so sein richtiger Name, klang am Telefon ganz nach Magister und niveaulose Rüpel, die ausschließlich in der Kategorie Erotik annoncierten, hatte sie im vergangenen Jahr zur Genüge kennengelernt. Also sagte sie zu. Und als sie erfuhr, dass Mag. Graller auch noch im gleichen Bezirk wie sie wohnte, war sie beruhigt und begann, sich freien Kopfes auf den Abend zu freuen.
Vera ging zu Fuß. Sie hatte sich bürgerlicher angezogen, als es ihrem Naturell entsprach. Aber wer ist bei einem Blind Date schon ehrlich. Auch ihre 4-jährige Tochter ließ sie unerwähnt. Vor alleinerziehenden Müttern ergriffen die begehrten Junggesellen im Normalfall sofort die Flucht. Das »geschieden« strich sie hingegen besonders hervor. Es signalisierte einen eigenständigen Charakter, der nicht gleich bei einem einziehen wollte.
Mag. Graller hatte eine sehr ruhige, angenehme Stimme. Keine erotische Andeutung kam ihm über die Lippen. Und nach ihrem Aussehen hatte er auch nicht gefragt. Eine ungewöhnliche Erscheinung nach allem, was Vera sonst so untergekommen war. Er fragte sie nach ihren kulinarischen Vorlieben, nach etwaigen Allergien, wie es mit dem Genuss von Fleisch stand, ob sie auch etwas experimentellerer Küche aufgeschlossen wäre. Sie fragte ihn, warum er all dies fragte und was er denn kochen würde. Mag. Graller aber bestand darauf, dass es eine Überraschung wäre und dass er sich für diesen Abend etwas sehr Spezielles einfallen lassen würde.
Heute Morgen ließ er ihr eine kleine Aufmerksamkeit zukommen. Sie hatte am Telefon erwähnt, dass sie ein Faible für Schokolade von Fabrice Gillotte hatte. Keine Ahnung, wie er es schaffte, eine Schachtel Terroirs de Bougogne zu besorgen. Sie wusste allerdings, dass sie um die 70 Euro kostete, was ihre Freude auf den Abend steigerte. Auch wenn man nicht unbedingt von einem Faible sprechen konnte. Sie hatte sich den Namen zufällig gemerkt, weil sie diese exquisite Schokolade von ihrem Chef zu Weihnachten geschenkt bekam. Und ja, sie schmeckte ganz gut, aber eigentlich ging es darum, den offenbar kulinarisch gebildeten Mag. Graller mit Fachwissen zu beeindrucken.
Als sie vor seiner Tür stand, erkannte sie an der Reihung der Namensschilder, dass Mag. Graller im Dachgeschoss wohnte. Sie betrachtete noch einmal das ausgedruckte Foto aus dem Internet. Es zeigte einen gepflegten Richard-Gere-Typ in legerem Sakko. Seine Garderobe war geschmackvoll und alles andere als billig. Und sein Lächeln ließ keine gröberen Lebenskrisen vermuten. Er posierte ein wenig zu seitlich, drehte seine rechte Schulter in den Vordergrund, was sie aber als sympathisch ungeübt im Posieren interpretierte. Als sie läutete, vergingen 20 Sekunden – vermutlich genau der Weg von der Küche zur Tür. Sie stellte sich vor, wie er zur Gegensprechanlage lief, den letzten Stock als Ziel durchgab, um sofort wieder zurückzueilen, denn die Seezunge nach toskanischem Familienrezept drohte sonst anzubrennen. Flugs stand er natürlich wieder in der Tür, um sie ohne Schürze zu begrüßen. Er versprühte dabei jene liebenswerte Lässigkeit, die man eben von Richard Gere aus seinen Filmen kannte.
Als Vera im letzten Stock ankam, stand die Tür zu Grallers Apartment angelehnt offen. Zögerlich ging sie darauf zu. Kurz bevor sie in greifbarer Nähe war, riss sie Graller recht unlässig auf. Wie auf dem Foto, drehte er seine Schulter nach vorn, was jetzt noch viel ungelenker aussah als auf dem Foto. Die linke Schulter versteckte sich hinter der Türkante. Er lächelte beim Anblick von Vera. Vielleicht war ihm erst jetzt bewusst geworden, dass er sie nicht nach ihrem Aussehen gefragt hatte. Vera lächelte höflich zurück. Graller war um einiges kleiner, als sie sich vorgestellt hatte. Ohne Stöckelschuhe müssten sie sich aber ungefähr auf Augenhöhe treffen. Seit ihrer Scheidung prüfte Vera die Männer nach Dingen, die sie in wenigen Monaten stören könnten. Neben Grallers Größe fiel ihr sofort seine zu trockene Haut auf. Und dass er ihr nicht in die Augen sehen konnte. Aber das ließ sie jetzt noch als angemessene Schüchternheit durchgehen.
»Es freut mich wirklich sehr, dass sie gekommen sind.«
Langsam öffnete Graller die Tür. Sie legte jetzt auch die andere Schulter frei. Der linke Sakkoärmel baumelte lose. Mag. Graller fehlte ein Arm.
»Ich wohne ja gleich ums Eck.«
Ihr Blick fixierte den unbefüllten Sakkoärmel des Magisters. Dieser reagierte mit einem verlegenen Blick, der sagte: Sie können ruhig gehen, ich würde es verstehen, aber ich bitte Sie um Verständnis, dass ich es Ihnen nicht gleich am Telefon sagen konnte, denn ich bin hauptsächlich damit beschäftigt, dass mich meine Umwelt nicht auf den Einarmigen reduziert und daher wollte ich den fehlenden Arm nicht wichtiger machen als er ist, im Übrigen bin ich dadurch sexuell keineswegs beeinträchtigt, im Gegenteil, es ergeben sich dadurch ein paar äußerst interessante Spielformen, die ich natürlich jetzt nicht verfrüht ausspielen will, aber denken Sie daran, eine Behinderung legt Energien und Qualitäten in anderen Bereichen frei, so wie Serienmörder eine völlig konzentrierte Intelligenz entwickeln, wenn es um das Töten geht, ja, zugegeben, ein schlechter Vergleich, aber ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.
Vera fühlte sich in ihren banalen Gedanken sofort entlarvt und beschloss, den fehlenden Arm für den Rest des Abends zu ignorieren. Auch wenn sich ihre Gedanken um nichts anderes drehten. Sie musste an den Schwarzafrikaner denken, der sie beinahe täglich bei Starbucks bediente. Ihre Versuche, den Mann möglichst farbenblind anzulächeln, führte aufgrund der daraus folgenden Intensität, das beinahe ins debile Grinsen ging, sicher zu Missverständnissen seinerseits. Und hätte er jemals einen Annäherungsversuch unternommen, hätte sie ihn wahrscheinlich aus reiner Höflichkeit erwidert, nur damit er nicht glaubte, sie würde ihn aufgrund seiner Hautfarbe zurückweisen. Vielleicht entstanden auf diese Art viele Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, dachte sie, verschmähte diesen Gedanken aber gleich wieder, weil sie ihn für rassistisch und dumm hielt.
»Bitte kommen Sie herein.«
Mit leerem Blick, Vera versuchte nirgends mehr hinzusehen, folgte sie Graller in die Wohnung.
»Schön.«
»Ja, ich sammle diese Schwerter seit meiner Jugend. Es freut mich, dass es ihnen gefällt.«
Die Wohnung war sehr großzügig. Vera blieb vor einem riesigen Ölbild stehen. Es zeigte Graller als Bacchus – ohne Behinderung –, wie er eine korpulente, halbnackte Dame, die mit laszivem Blick vor seinen Füßen lag, mit Weintrauben fütterte.
»Meine Frau – also Ex-Frau.«
»Seit wann sind Sie geschieden?«
»Seit drei Jahren. Wir haben uns auseinandergelebt.«
»Gewiss.«
»Der Salon.«
Ein Kerzenmeer türmte sich vor Vera. Die Gerichte waren bereits gedeckt und verbargen sich unter goldenen Glocken. Die geschnitzte Holzdecke, die Motive der Passionsgeschichte abbildete, drückte auf den überladenen Raum.
»Schön«, sagte Vera, die bereits darüber nachdachte, wie sie aus dieser Rokokohölle möglichst schnell entkam.
»Händel?«
»Scarlatti.«
»Ah«, gab sie vor, diesen zu kennen.
»Darf ich Sie bitten.«
Er bot ihr den Stuhl an. Als sie sich setzte, musste sie nachhelfen, da die Kraft einer Hand nicht reichte, um Vera zum Tisch zu schieben.
»Was gibt es denn Köstliches?«
Sie überlegte sich, ob sie ihm zur Hand gehen sollte. Andererseits hatte er bereits alles so vorbereitet, dass es keine uneleganten Handgriffe mehr benötigte.
»Ich bin mir sicher, dass Sie es erraten werden.«
Vera war sich nicht sicher, ob er das zynisch meinte. Bevor sich Graller gegenüber von ihr hinsetzte, zog er recht umständlich das Sakko aus. Er musste sich stark zur Seite lehnen, damit der Arm aus dem Ärmel glitt. Graller trug ein kurzärmeliges Hemd, das den Stummel an der linken Schulter freilegte. Jetzt musste Vera hinsehen. Der Stummel zappelte, als würde er ihr winken. Graller ignorierte ihre Blicke und hob sein Glas.
»Es freut mich, dass Sie hier sind. Auf uns.«
Er lächelte und nahm einen Schluck. Der Abstand zwischen ihnen war zu groß, um wirklich anzustoßen. Erst jetzt fiel ihr die Narbe auf. Sie zog sich vom Oberarm bis zum Handgelenk. Sie fragte sich, ob die Narbe und die Amputation zusammenhingen. Graller deutete auf ihre Speiseglocke.
»Bitte. Fangen Sie an, es wird sonst kalt.«
Langsam hob sie die Glocke. Darunter lag zart geschnittenes Fleisch. Als Beilage dünne Kartoffelscheiben und gebratene Äpfel.
»Ich bin sehr gespannt, ich habe das Fleisch nach einem alten Rezept zubereitet.«
Er führte die Gabel zum Mund und kaute genüsslich.
»Ein bisschen zu viel Thymian. Weniger süß als erwartet. Ich finde, es schmeckt nach Huhn. Und ein bisschen nach Pferd. Probieren Sie.«
Veras Blick fiel auf den fehlenden Arm von Graller. Er beantwortete den Blick mit einem unzuordenbaren Lächeln.
»Vielleicht auch wie Ziege«, sagte er nach dem zweiten Bissen. Vera zögerte noch.
»Sagen Sie, Herr Magister Graller, darf ich Sie etwas fragen?«
Er stellte das Kauen ein und sah sie ernst an. Vera bekam es mit der Angst zu tun.
»Ihre Narbe, woher haben Sie die?«, versuchte sie sich langsam vorzuarbeiten.
Graller kaute weiter, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Nachdem er geschluckt hatte, lächelte Graller konspirativ.
»Ich möchte Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Aber Sie müssen mir versprechen, es niemandem zu erzählen.«
Vera versuchte seinem eindringlichen Blick auszuweichen.
»Es bleibt unter uns, ganz sicher.«
»Ich habe mir diese Narbe selbst zugefügt.«
Vera schluckte.
»Warum?«
»Wissen Sie, es mag seltsam klingen, aber ich war schon immer ein Einzelgänger. Mit ein Grund, warum ich im Internet inseriere. Ich glaube, dass ich einfach kein spannender Gesprächspartner bin. Über die Narbe kann ich die unterschiedlichsten Geschichten erzählen. Vom Haiangriff bis zur Kriegsverletzung. Wollen Sie eine hören?«
Vera nickte verdutzt. Sie hatte keine Ahnung, ob es in einer solchen Situation noch immer angebracht war, höflich zu bleiben.
»Ich erzählte sie vor gut zwei Jahren einer Dame, die man während einer Kreuzfahrt ungefragt an meinen Tisch setzte. Auch sie sprach mich darauf an. Ich trage bei solchen Anlässen meistens Kurzarmhemden, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Gesprächsthema auf die Narbe richtet. Da ich aber in jenem Fall kein Interesse an Gesellschaft hatte, diente mir die Geschichte dazu, die lästige Dame loszuwerden. Ich erzählte, dass man mir bei meiner letzten Südamerikareise einen sehr langen Wurm entfernen musste, der sich offenbar in meinem Arm eingenistet hatte. Man musste akut operieren, sonst hätte man den Arm amputieren müssen. Die Dame ließ sich am nächsten Abend an einen anderen Tisch setzen.«
Graller lächelte stolz.
»Und Ihr fehlender Arm, haben Sie sich den auch …«
»Wollen Sie nicht kosten? Warm schmeckt es bestimmt besser als kalt.«
Vera nickte.
»Ja, gleich.«
»Ich habe es extra für Sie zubereitet. Es sollte ein besonderer Abend werden.«
Vera hob langsam die Gabel und führte sie zu ihrem Mund. Sie hielt inne.
»Ich bin gar nicht hungrig. Es tut mir leid. Aber ich bin so … aufgeregt.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass es mir nicht anders geht. Aber Sie dürfen es nicht verschmähen. Ich muss Sie bitten, es wenigstens zu probieren. Es hat mich viel gekostet.«
Veras Blick fiel wieder auf den Stummel.
»Wie lange ist es her?«
»Nicht sehr lange«, antwortet Graller, als hätte sie nach dem Ablaufdatum des Fleisches gefragt.
»Und haben Sie noch Phantomschmerzen?«
»Kosten Sie«, wurde sein Ton fordernder.
Sie starrte auf den Teller und stellte sich vor, wie Graller den Arm auftaute, um lustvoll dünne Scheiben des zarten Fleisches zu lösen. Gleichzeitig versuchte sie, telepathische Verbindung mit ihrer Schwester Silvia aufzunehmen. Silvia, ruf an! Jetzt! Hol mich hier raus!
»Darf ich ehrlich sein, Vera?«
Sie nickte, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das wollte.
»Ich glaube, Sie haben mich am Telefon ein bisschen angeschwindelt, was Ihre ausgeprägten kulinarischen Interessen betrifft.«
»Ich wollte nur einen guten Eindruck machen. Das tut mir leid.«
»Warum haben Sie mich angelogen? Es wirft kein gutes Licht auf Sie, eine Beziehung so zu beginnen.«
»Beziehung?«
»Ich frage mich jetzt natürlich, welche Überraschungen mich sonst noch erwarten.«
»Ich habe ein Kind. Es ist erst vier Jahre alt.«
»Ein Kind, sehr gut.«
Vera stand auf.
»Es tut mir leid, ich muss jetzt wirklich gehen.«
Der Magister lächelte und nahm einen Schluck von seinem Wein.
»Das tut mir leid, Vera.«
Vera lief hinaus. Sie stolperte über den Teppich im Vorzimmer und landete beinahe in dem Bacchusbild. Sie riss an der Tür. Sie war verschlossen. Sie rüttelte. Sie schrie um Hilfe. Und als sie die Schritte von Magister Graller näher kommen hörte, rannte sie panisch in den dunklen Trakt der Wohnung.
Sie lief durch zwei kleine Zimmer, dann bog sie rechts ab. Sie hatte das Gefühl, einen Halbkreis gerannt zu sein. Vor einer geschlossenen Tür kam sie zum Stehen. Geografisch gesehen musste dahinter wieder der Speisesalon liegen. Sie lauschte. Es waren keine Schritte mehr zu hören. Wahrscheinlich stand Graller genau hinter dieser Tür. Sie atmete tief durch und suchte nach einem Lichtschalter. Sie fand keinen. Der Fußboden knarrte. Graller schlich sich näher. Vera schloss die Augen und riss die Tür in einem schnellen Zug auf. Mit voller Wucht fiel sie ins Leere.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, drehten sie sich um. Sie lachten und grölten. Klatschen konnten sie ja schlecht, die drei Männer mit den amputierten Armen. Von hinten hörte sie die Stimme von Graller, der ihr an die Schulter fasste. Sie zuckte zusammen.
»Nichts für ungut! Sie können sich beruhigen. Es war nur ein Scherz.«
Die anderen Einarmigen streckten ihr die Hände entgegen und stellten sich vor.
»Bis jetzt ist noch jede darauf reingefallen. Sie brauchen sich also nicht zu schämen«, kriegte sich Graller noch immer nicht ein vor Lachen. »Sie haben es wirklich geglaubt, oder?«
Vera nickte. Sie war zu perplex, um mit angemessenem Ärger zu reagieren. Erst jetzt fiel ihr der Spionspiegel auf, der direkten Einblick in das Speisezimmer gewährte. »Also, ich sterbe vor Hunger«, sagte einer der Männer. »Schließlich stehen wir schon eine ganze Weile hier. Leisten Sie uns doch noch ein wenig Gesellschaft, dann erzähle ich Ihnen alles über unseren kleinen Verein.«