Kessler spuckte aus dem Auto. »So. Noch eine Fuhr.«
Sein Assistent Rudi saß am Steuer und nickte abwesend. Er hasste es, wenn Kessler aus dem Auto spuckte. Genauso hasste er es, wenn Kessler ihn respektlos beim Vornamen rief, während Rudi ihn schön brav Herr Kessler oder Chef nannte. So wollte es die Hierarchie. Irgendwann – da war sich Rudi sicher – würde auch für ihn die Zeit kommen, ungestraft aus dem Fenster zu spucken. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, niemals so tief zu sinken wie sein Chef. Aber Kessler war eben Kessler. Da vermochte selbst die allgegenwärtige Weihnachtsstimmung nichts auszurichten. Kessler blieb Kessler, so wie er das ganze Jahr über Kessler war. Und deshalb wurde er von den Vorgesetzten auch als besonders zuverlässig geschätzt.
»Los. Starten«, schnauzte Kessler. Dann zündete er sich eine Zigarette. an. Schleimiges Husten. Aufheulen des Motors. Kessler warf einen kurzen Blick durch das vergitterte Fenster in den Laderaum. »Die Ware ist ruhig. Letzte Station: Böheimkirchen.«
Es war 12.23 Uhr. Und gegen 15.00 Uhr musste Kessler zu Hause sein. Da wurde Heiliger Abend gefeiert. Wegen der Kinder. Sonst bekam es Herr Kessler mit Frau Kessler zu tun. So wollte es die Hierarchie. Wenigstens am Weihnachtstag.
»Jedes Jahr die gleiche Fuhr«, blies Kessler den Rauch gegen die Scheibe. »Jedes Jahr die gleichen Verrückten. Seit fünfundzwanzig Jahren.« Resigniert schüttelte er den Kopf.
»Aber es ist doch eine schöne Idee von der Stationsleitung, finden Sie nicht?«
Kessler neigte sein speckiges Antlitz zur Fahrerseite. »Nette Idee? Auch der Kommunismus war eine nette Idee. Und was ist dabei rausgekommen?«
Rudi zuckte die Achsel.
»Gequirlte Scheiße!« Husten. Fensterkurbeln. Grüner Schleim, der aus Kesslers Mund schoss. Es gab wirklich keine Frage, auf die Kessler keine Antwort wusste. »Von mir aus können sie die Verrückten in der Anstalt lassen. Warum jedes Jahr die gleichen Wahnsinnigen einsammeln? Das ist doch … verrückt!« Er gab sich mit einem kräftigen Kopfnicken selbst recht.
Rudi, der viel lieber Rudolf genannt werden wollte, lächelte selig vor sich hin. »Aber es ist doch Weihnachten, Chef.«
Kessler blies ihm den Rauch mitten ins Gesicht. »Aber es ist doch Weihnachten, Chef! Wer zum Teufel sind Sie? Heinz Rühmann?« Er lachte kurz auf. Zigarette. Husten. Schleim.
»Wenigstens zu Weihnachten sollten wir für unsere Mitmenschen da sein. Ich finde, das ist eine schöne Tradition. Eigentlich sollte jeden Tag Weihnachten sein.«
Kessler warf die Zigarette zum Fenster hinaus, schickte ihr noch einen deftigen Schleimbatzen hinterher und richtete sich auf. »Hören Sie zu, Rudi. Weihnachten ist doch nichts als ein Haufen gequirlter Scheiße. Jeden Tag Weihnachten? Dann hätten wir lauter Amokläufer dahinten sitzen. Dagegen sind diese Ersatz-Jesusse eine Wohltat, das sag ich Ihnen!«
Rudis Gesicht wurde ernst. »Glauben Sie nicht an Jesus?« Kessler warf einen Blick in den Laderaum und schüttelte den Kopf. »Fragen Sie doch unsere Freunde dahinten.«
Rudi lächelte. »Ja, das könnte interessant sein.«
»Wie das Christkind sieht dahinten keiner aus!«, grunzte Kessler verächtlich.
»Kennen Sie die Geschichte vom Christkind, Herr Kessler?«
Kessler hasste Rudis altkluge Art. Ginge es nach ihm, würde der schon längst hinten bei den anderen sitzen. Kesslers Alter und vorrangige Stellung in der Hierarchie geboten es ihm allerdings, souverän zu bleiben. »Nein, ich kenne nicht die Geschichte des gottverdammten Christkindes. Aber Sie werden sie mir bestimmt gleich erzählen.«
Rudi ignorierte die jähzornige Art seines Chefs. Viel zu sehr empfand er sich als Missionar des Wissens und schob die zurückweisende Art seines Gegenübers auf den verletzten Stolz des Ungebildeten. »Also. Die Kunstfigur des Christkinds hat Martin Luther um 1535 erfunden, weil er den katholischen Heiligen Nikolaus abschaffen wollte. Das Christkind eroberte zuerst das evangelische Deutschland, später breitete sich der Brauch ins Rheinland aus, dann nach Bayern und Österreich. So wurde auf Initiative des ›Ketzers‹ Martin Luther das Christkind zum Gabenbringer für die Kinder umfunktioniert. Das engelhafte Christkind bringt seither die Geschenke heimlich und bei Nacht, genauso wie das ursprünglich der Nikolaus getan hat. Bizarrerweise ist aber das weihnachtliche Christkind heute nur noch in katholischen Regionen verankert.« Rudi sprach, ohne Atem zu holen. »Später, Anfang des 20. Jahrhunderts, wird das Christkind dann durch den vom Nikolaus abgeleiteten Weihnachtsmann ersetzt, der weltweit einen Siegeszug antrat. Großen Anteil an seiner Verbreitung hat der Schriftsteller August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der schon 1835 das Lied Morgen kommt der Weihnachtsmann schrieb. Die rote Kleidung mit dem weißen Pelz bekam der Weihnachtsmann erstmals 1927 in New York, 1931 wurden die Farben in einer Werbeaktion von Coca Cola übernommen. Diese Farbkombination hat sich, wie es sich für einen Weltkonzern gehört, allgemein durchgesetzt. Steht genau so bei Wikipedia«, verkündete Rudi stolz.
Lauthals hustete Kessler auf. »Ich sag’s ja!«
»Was sagen Sie?«
»Na, dass Weihnachten nichts als gequirlte Scheiße ist. Ein Fest für die Wirtschaft. Da mache ich nicht mehr mit. 6000 Euro in den letzten drei Jahren und kein Dankeschön.
Von Freude keine Spur. Dieses Jahr ist Schluss damit. Weihnachten fällt flach. Das sag ich Ihnen!«
»Weiß das Ihre Frau schon?«
Kessler schwieg und zündete sich eine Zigarette an.
»Und Ihre Kinder. Die ahnen wohl auch nichts?«
Kessler schwieg weiter und blies den Zigarettenrauch möglichst unweihnachtlich gegen die Vorderscheibe.
»Weihnachten ist doch das Fest der Kinder, Chef!«
»Na, da kennen Sie meine Kinder nicht. Undankbare Fratzen sind das. Sonst nichts!«
Ortstafel Böheimkirchen. Die fünf Männer, die hinten im Laderaum schweigend nebeneinandersaßen, sahen kurz auf, als der Wagen ruckartig stehen blieb. Sie kannten das Prozedere bereits. Jeden 24. Dezember wurden sie von Kessler abgeholt und auf die Station gebracht, denn am Heiligen Abend, so die Anstaltsleitung, dürfe niemand allein sein. Nach ein paar Tagen wurden sie wieder in die Freiheit entlassen, da schließlich keiner von ihnen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellte.
Der wahre Grund für diese Aktion hatte natürlich mit Geld zu tun. Wenn am Weihnachtsabend die Lokalpolitiker auftauchten, um sich am 24. Dezember mit diversen gesellschaftlichen Randgruppen fotografieren zu lassen, sollte der Eindruck vermittelt werden, dass die Station aus allen Nähten platzte und man unbedingt mehr Geld benötigte. Wenn die Politiker verschwunden waren, hatten die Eingesammelten ihren Zweck erfüllt und wurden bis zum nächsten Jahr wieder auf freien Fuß gesetzt. Da man niemanden zum Mitmachen zwingen konnte, fand die ganze Aktion unter dem Deckmantel des weihnachtlichen Mitgefühls statt.
Da saßen sie nun, wie jedes Jahr: Jesus vom Alsergrund saß neben Jesus von Korneuburg, der wiederum neben Jesus von St. Pölten saß, und dessen Gegenüber Jesus von Fünfhausen wiederum neben dem Jesus von Baden. Neben diesem war noch ein Platz frei. Und der war wie jedes Jahr für den Jesus von Böheimkirchen reserviert. Der Einzige, der sich wie üblich nicht zu ihnen gesellen würde, war Jesus von Nazareth.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Was sollte man schon reden: Schließlich vermutete jeder im anderen einen Ketzer. Und für eine theologische Diskussion, um ein für alle Mal klarzustellen, wer von ihnen nun der wahre Messias sei, waren sich die Herren dann auch zu schade. Stattdessen saßen sie wortlos nebeneinander und starrten stumm auf den Boden.
Durch das kleine Gitterfenster erschien das rot unterlaufene Auge von Kessler.
»So. Die Ware ist ruhig. Ich werde mal nachsehen, wo der letzte Ersatzjesus steckt. Weit kann er ja nicht sein. Rudi, Sie geben derweil acht.«
Rudi nickte. Sein Blick schweifte über den menschenleeren Marktplatz. Es herrschte eine beunruhigende Stille. Irgendetwas stimmte nicht. Seufzend stieß Kessler die Wagentür hinter sich zu und marschierte los. Rudi beobachtete ihn, bis er in einer kleinen Nebengasse verschwand.
Rudi fragte sich, ob er sich im Zweifelsfall wohl für den Weihnachtsmann oder das Christkind entscheiden würde. Nun, ehrlicherweise gefiel ihm die amerikanische Version, so bizarr auch die Entstehungsgeschichte sein mochte, um einiges besser. Ein Kleinkind, das in der Nacht Geschenke brachte, kam ihm eher unheimlich vor. Ein alter Mann, der sich durch den Schornstein in fremde Wohnungen schlich, erfüllte ihn allerdings auch nicht mit Wohlbehagen.
Seine Gedanken begannen abzuschweifen. Irgendwie ließ die Weihnachtsstimmung heuer auf sich warten. Und er dachte darüber nach, woran dies liegen konnte, denn eigentlich liebte Rudi Weihnachten. Nicht, weil er den Namen eines rotnasigen Rentiers trug – zu Weihnachten fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Glückliche Tage auf dem Bauernhof seiner Großmutter. Der knisternde Kamin. Der süße Duft von Lebkuchen, der sich mit dem trägen Geruch der Karpfenpanier vertrug. Überhaupt schien sich alles an diesem Tag zu vertragen. Die schnarchende Großmutter, die neben dem Kamin eingeschlafen war.
Das war es! Es fehlte der Schnee. Es herrschte zwar klirrende Kälte, welche die Luft noch klarer erscheinen ließ, aber weit und breit war keine Schneeflocke in Sicht. Wie wohl in südlichen Ländern, wo es nicht einmal im tiefsten Winter schneite, jemals weihnachtliche Stimmung aufkam? Braun gebrannte Menschen, die schwitzend in kurzen Hosen vor einem synthetischen Tannenbaum standen und »Stille Nacht« sangen. Ob der Weihnachtsmann in solchen Gefilden Winterkleidung trug? Oder musste er aufgrund der Witterung in roten Bermudahosen auftreten und statt »Hohoho« so etwas wie »Aloha« von sich geben? Rudi konnte sich weder den Weihnachtsmann noch das Christkind in einer mild klimatisierten Umgebung vorstellen. Obwohl es damals in Israel keineswegs kalt gewesen sein konnte.
Nachdenklich riskierte Rudi einen Blick durch das kleine Gitterfenster in den Laderaum. Seelenruhig saß ein Jesus neben dem anderen, so als wäre der Sitznachbar überhaupt nicht vorhanden. Warum hatten sie sich für ein Leben in der Illusion entschieden? Was war passiert? Hatten sie sich überhaupt dafür entschieden? Oder hatte das Leben für sie entschieden? Handelte es sich tatsächlich um eine psychische Krankheit? Oder steckte etwas anderes dahinter? Einer der Männer – sie trugen alle Vollbart – sah auf. Er schenkte Rudi ein gütiges Lächeln.
Plötzlich ein Knall. Rudi und der Jesus vom Alsergrund schreckten gleichzeitig hoch. Kessler klopfte verärgert gegen die Beifahrerscheibe. »Verdammt!«
»Was ist los, Chef?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Ja, dort wo er jedes Jahr seine Weihnachtspredigt hält, steht ein Staubsaugervertreter!« Kessler spuckte ein gewaltiges Stück Schleim auf den Boden. Er wusste: Wenn er mit einem Jesus weniger in der Anstalt auftauchte, gab es Ärger. Dort war man heute Abend auf jeden Irren angewiesen.
»Haben Sie bestimmt überall nachgesehen?«
Er schenkte Rudi einen Blick, den er normalerweise nur für die Verrückten übrig hatte.
»Chef, warum glauben eigentlich so viele Menschen, dass sie Jesus sind?«
»Woher soll ich das wissen?« Was Rudi als Aufmunterung meinte, führte bei Kessler zu einer massiven Schleimabfuhr. »Wahrscheinlich eine Modeerscheinung. Vor zwanzig Jahren glaubten die meisten Wahnsinnigen, Napoleon zu sein. Mit denen hatten wir wenigstens unseren Spaß. Aber diese Weltverbesserer …« Er führte den Satz mit einer abwinkenden Geste zu Ende.
Rudi dachte darüber nach, ob es wohl einen Grund dafür gab, dass Jesus bei Persönlichkeitsgestörten momentan so populär war. Und warum vorher ausgerechnet Napoleon? Aber Kessler war jetzt nicht in der Stimmung, die großen Fragen der Menschheit zu klären. Er hatte andere Sorgen.
»Was machen wir jetzt, Chef?«
»Wir müssen ihn finden!«
Die fünf Herren, die hinten im Laderaum saßen, waren keineswegs irritiert, als Kessler den Wagen abschloss, um gemeinsam mit Rudi auf die Suche nach dem Vermissten zu gehen. Viel zu sehr waren sie mit ihren Auferstehungsgedanken beschäftigt, auch wenn der eine oder andere sich tatsächlich dachte, dass es wieder mal typisch war, dass ausgerechnet der Kollege aus Böheimkirchen Zicken machte. Aber was sollte man sich als Messias groß ärgern? Es wäre alles andere als souverän, eine Zornespredigt auf den Lokalmatador zu halten. Aber Gedanken! Gedanken durfte man sich schließlich noch machen. Das konnte einem niemand verbieten. Und so blieben die fünf hinten sitzen, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben.
Kessler ging eiligen Schrittes voraus. Rudi stolperte hinterher. Sie gingen durch alle Gassen von Böheimkirchen. Über dreißig Minuten suchten sie jeden Winkel ab. Böheimkirchen war wie ausgestorben. Kessler blieb stehen und spuckte resigniert auf den Boden. »Gottverlassenes Kaff!«
Rudi lächelte. »Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Kessler knurrte.
»Moment!«, kam es Rudi. »Gibt es eine Kirche in Böheimkirchen?«
Kessler nickte. »Kluger Junge«, murmelte er, als er eilig vorausging.
Die Kirche war eigentlich eine Kapelle, in der gerade mal dreißig Menschen Platz fänden. Der Konjunktiv war hier angebracht, da die Kapelle nie so vieler Böheimkirchner ansichtig wurde. Der Name des Ortes war daher irreführend und drückte vielleicht eher eine schwindende Hoffnung aus. Böheimkirchen war vom Vatikan längst aufgegeben worden. Da musste man schon ordentlich was ausgefressen haben, wenn man in den Umkreis von BK versetzt wurde, wie man es in Fachkreisen abwertend nannte.
Die Tür stand sperrangelweit offen, so als handelte es sich um eine letzte, verzweifelte Tat, doch noch jemanden in das Innerste des Glaubens zu locken. Hinter der Tür: Dunkelheit. Keine einzige Kerze ließ auf einen Zuständigen schließen. Die Kapelle stand genauso gottverlassen da wie das restliche Böheimkirchen.
Vorsichtig wagte sich Kessler ins Innere. Rudi folgte ihm zögernd und fragte sich gleichzeitig, warum ihm Gotteshäuser so viel Angst einjagten. Schließlich sprach man ja ständig von einem gütigen, lieben Gott.
Plötzlich eine dumpfe Stimme aus der Dunkelheit: »In Wahrheit ist es würdig und recht, dass Ihr eintretet unter mein Dach.«
Rudi hielt inne. Auch Kessler stand wie gelähmt im Dunklen und rührte sich nicht. Das war nicht Gott. Erstens fehlte der Stimme mystischer Hall. Und zweitens würde sich Gott vermutlich nicht falsch zitieren.
»Wer ist da? «, schnauzte Kessler in Richtung Altar.
Ein Zischen, und die Kapelle wurde von einem armseligen Ikea-Teelicht erleuchtet. »Das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.«
Kessler setzte erneut an, sich seines Schleims zu entledigen, wurde aber rechtzeitig gewahr, wo er sich befand, und schluckte ihn gequält hinunter.
Das Lamm Gottes stand traurig vor dem Altar. Es war um die fünfzig, in ein weißes Leintuch gewickelt und wirkte einigermaßen verwirrt.
»Was machen Sie hier?«, forderte Kessler Rechtfertigung. Schließlich kannte man sich seit Jahren. Und dieses Versteckspiel wertete Kessler als Vertrauensbruch.
»Ich bete für die Menschheit.«
Rudi betrachtete das Kruzifix an der Wand. Der geschnitzte Jesus am Kreuz hatte nicht die marginalste Ähnlichkeit mit dem Jesus, der da vor ihm stand. Er überlegte, ob er den Böheimkirchner Kollegen darauf hinweisen sollte, befürchtete aber, für noch mehr Verwirrung zu sorgen, weil natürlich die Frage der Chronologie gleich mit anhängig wäre. Für jemanden, der sich für Jesus hielt, musste es seltsam sein, das eigene Abbild zu betrachten, das ihn bei etwas zeigte, was bereits vor zweitausend Jahren passiert war. Aber mit Logik hatte das hier wohl nichts zu tun. Gut, die Geschichte vom Weihnachtsmann oder die vom Christkind schien vom logischen Standpunkt aus betrachtet auch nicht gründlich durchdacht. Aber das hier warf ja ausschließlich Fragen ohne Antworten auf.
»Alles Gute zum Geburtstag!«, versuchte Kessler das emotionale Rad zu drehen.
»Danke«, antwortete der Jesus von Böheimkirchen. Müde setzte er sich hin und bedeutete Kessler, neben ihm Platz zu nehmen. Der aber blieb stehen und versuchte es mit der üblichen Pflegermasche: »Sie müssen an Ihrem Geburtstag nicht allein sein. Wollen Sie nicht mitkommen?« Zwingen konnte er den armen Irren ja leider nicht.
»Mitkommen? Wohin soll ein Mann wie ich noch gehen?«
»Nun, Sie sehen aus wie jemand, der ein wenig Gesellschaft gebrauchen könnte.«
»Was für Gesellschaft?«
Kessler zögerte. »Nun …« Er rang um die richtige Formulierung. »Gleichgesinnte.«
Jesus vergrub seinen Kopf in den Händen. »Gleichgesinnte? Ich habe schon seit Monaten niemanden mehr getroffen, der sich für die Worte Jesu interessiert hätte. Was ist ein Messias ohne Jünger schon wert?«
»Was ist los mit den Böheimkirchnern? Haben sie den Glauben verloren?«
Jesus seufzte. »Viel schlimmer. Sie hören mir nicht mehr zu. Ich vollbringe ein Wunder nach dem anderen. Aber sie ignorieren mich.« Sein Blick fiel auf das Holzkreuz. Verzweifelt sah er sich selbst an. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!«
Da lag also der Hund begraben. Früher machten sich die Passanten wenigstens noch lustig über ihren ortsansässigen Jesus, waren sie ihm doch gleichzeitig auf seltsame Weise wohlgesinnt. Schließlich wollte ihnen der verwirrte Mann im Leintuch nichts Böses, und im tristen Böheimkirchner Alltag sorgte der einstige Kleinbauer Mayerhofer für die Gewissheit, dass man selbst normal, wenn jemand anderer offensichtlich verrückt ist.
»Warum ist niemand auf der Straße?«
Jesus zögerte mit der Antwort. Autoritäres Verhalten rief bei ihm eine sofortige Trotzhaltung hervor. »Sie wollen wissen, warum niemand auf der Straße ist?«
Kessler nickte bestimmt.
Jesus warf einen flehentlichen Blick auf sich selbst an der Wand. Dann schluchzte er in die stumme Dunkelheit hinein. »Ich wollte den Menschen doch nur eine Freude machen!«
»Was ist passiert?«
»Ich habe ihnen alles geschenkt, was ich besitze. Und jetzt sperren sie mich aus!«
»Was heißt, Sie haben ihnen alles geschenkt?«
»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich sonst in so einem Aufzug herumliefe?«
Kessler betrachtete das weiße Leintuch, in das Jesus gehüllt war. »Kommt mir jetzt nicht wirklich ungewöhnlich vor.«
»Sagen Sie, in welchem Jahrhundert leben Sie eigentlich?«
Kessler sah den Verrückten, der ihn offensichtlich für verrückt hielt, verblüfft an. »Sie haben alles verschenkt?«
Jesus nickte. »Meine Uhr. Mein Auto. Mein Telefon. Meine gesamte Kleidung. Als ich nackt war, flüchteten sie vor mir, weil sie mich wahrscheinlich für einen Perversen hielten. Und das nach all den Jahren.«
»Die werden Sie schon wieder in die Dorfgemeinschaft aufnehmen«, versuchte Kessler den armen Mann aufzumuntern. Allerdings dachte er dabei nur daran, wie er es schaffen konnte, den durchgeknallten Kleinbauern zum Mitkommen zu überreden.
»Herr Kessler, da müsste ein Wunder geschehen.«
»Na, das ist doch genau Ihr Metier!«, scherzte Kessler zurück und verschlechterte damit seine Verhandlungsbasis enorm.
»Was nützt ein Wunder, wenn die Menschen nicht mehr fähig sind, bedingungslose Liebe anzunehmen? In so einer Welt will ich nicht leben.«
Plötzlich spürte Kessler eine Hand auf seiner Schulter. Er schreckte auf.
»Darf ich Sie kurz sprechen, Chef?«
Kessler zögerte. Ging aber mit dem Assistenten hinaus. Dort durfte er immerhin wieder spucken. »Was ist?«
»Ich glaube, ich weiß, wie man ihn zum Mitkommen überreden könnte.«
Kessler wohnte in einem Reihenhaus, das genauso lieblos aussah, wie sich die Anwesenheit seines Eigentümers anfühlte. Es war Punkt 15 Uhr, und man hatte die letzte Stunde in erster Linie mit hektischer Organisation verbracht. Zuerst erforderte es ein halbstündiges, sehr eindringliches Telefonat mit Kesslers Frau, um sie von dem Vorhaben zu überzeugen.
Das Weihnachtsmannkostüm schwatzte man einem Alkoholiker, der ohnehin sehr widerwillig vor einem Kaufhaus stand, für hundert Euro ab. Dass es dem Jesus von Böheimkirchen um mindestens zwei Nummern zu klein war, nahm man aufgrund des Zeitdruckes in Kauf, auch wenn sich dieser in seiner Eitelkeit verletzt fühlte. Hektisch hatte Kessler dem Weihnachtsmann noch einen Sack voll mit Geschenken in die Hand gedrückt.
Während die anderen Jesusse das Geschehen misstrauisch beobachteten und nicht ganz verstanden, was da eigentlich vor sich ging, postierte sich der Jesus von Böheimkirchen vor dem trostlosen Portal des Reihenhauses und drückte aufgeregt die Klingel. Er zupfte sich das zu kleine Kostüm zurecht.
Frau Kessler und die beiden Kinder, denen die Lieblosigkeit des Reihenhauses auf einen Blick anzusehen war, lachten erfreut auf. Ja, sie hörten gar nicht mehr auf damit. Sie lachten und lachten. Frau Kessler fiel dem perplexen Weihnachtsmann um den Hals. Die Kinder tanzten ausgelassen um ihn herum, in der Erwartung, dass es für jede Übertreibung ein Geschenk mehr gab.
Der Jesus von Böheimkirchen, der glaubte, ein neuerliches Wunder bewirkt zu haben, stand mittendrin und lachte glücklich darauflos. Er lachte, und alle lachten mit. Frau Kessler, die Kinder, die immer wieder verstohlene Blicke auf den Geschenkesack warfen. Im Hintergrund standen Herr Kessler und sein Assistent und beobachteten gemeinsam mit den Patienten das Geschehen. Die fünf anderen Jesusse wunderten sich nach all den Jahren über gar nichts mehr.
Rudi empfand es zwar als elendes Schauspiel. Aber es war das erste Mal, dass zu Weihnachten im Hause Kessler gelacht wurde. Auch wenn es eine inszenierte Freude war. Die Freude des Weihnachtsmannes war echt.
Und als gegen 18 Uhr ein überglücklicher Jesus von Böheimkirchen zwischen fünf Gleichgültigkeit vortäuschenden Kollegen saß, dachte Kessler, dass er gar nicht so unfroh war, in einer Zeit zu leben, in der es unter den Verrückten populärer war, Jesus zu sein und nicht Napoleon.