»Was ist los, hat es dir nicht gefallen?«, fragt Angelika.

Hornicek steckt sich eine Zigarette an und schüttelt den Kopf.

»Doch. Ich mag es nur nicht, wenn die Musik ausfadet und – ach vergiss es.«

Angelika hält ihr Lächeln zurück und liebkost stattdessen seinen schwitzenden Rücken. Auf seiner goldenen Halskette baumelt ein Anhänger, der die markante Unterschrift von Falco nachstellt.

»Vielleicht solltest du dir eine längere Version von Emotional besorgen.«

»Es gibt keine längere Version«, seufzt er.

»Dann spielen wir sie das nächste Mal zweimal.«

Er nimmt einen langen Zug und schaltet den Fernseher ein.

»Du bist verheiratet, Angelika, lass uns keine große Geschichte daraus machen, ja.«

Sie steht auf und schlüpft in ihren verschwitzten Tennisdress.

»Ich bin doch keine Statistin in einem schlechten Falco-Video! Wo sind meine Schuhe?«

Hornicek deutet ins Eck, wo die sandigen Sportschuhe stehen.

»Ich glaube es nicht.«

»Was ist los?«

Er zeigt mit der Fernsteuerung auf den Fernseher. Auf Astrovox ruft ein gewisser Herwig – Jeanshemd, Schnauzer, Pferdeschwanz und Bohrbrillen – die Zuseher dazu auf anzurufen.

»Eine tolle Klasse wart ihr.«

»Ich ruf da jetzt an.«

»Du spinnst. Ich bin dahin.«

Sie drückt ihm einen beiläufigen Kuss auf die Wange. Hornicek hält das Telefon in der Hand und wählt.

»Bis nächste Woche. Du solltest an deiner Vorhand arbeiten.«

»Vergiss es, Horni. Ich such mir was Neues. Vielleicht Golf.«

Wie jede Woche verlässt Angelika Horniceks Wohnung, um den restlichen Abend allein in einer Vorstadtvilla zu verbringen. Sie weiß, dass ihr Mann fremdgeht. Obwohl es sich inzwischen so anfühlt, als würde er bei ihr fremdgehen. Die Affäre mit Hornicek hat keine Zukunft. Aber auch kein Ende. Seine Brillantinefrisur, sein viel zu aufrechter Gang, sein vulgäres Grinsen, das der Hasenscharte jegliche Niedlichkeit entzieht, der schlecht imitierte Falcoduktus berühren sie peinlich. Andererseits nennt endlich jemand ihr Geschlechtsteil beim Namen. Sie kann nicht von ihm lassen. Solange es niemand erfährt.

 

Hornicek hängt schon seit 30 Minuten in der Warteschleife. Er hat darauf bestanden, in die Livesendung verbunden zu werden.

»Ich will mit Horst Martaler persönlich sprechen. Ich meine Herwig.«

»So, ich habe jetzt den Fritz in der Leitung. Fritz, kannst du mich hören?«

Heinz Hornicek hat einen falschen Namen angegeben.

»Ja. Sagen Sie mal, ist Herwig Ihr richtiger Name?«

Martaler wirft einen skeptischen Blick in die Kamera, der direkt in Horniceks Schlafzimmer landet.

»Selbstverständlich. So wie Fritz ja auch Ihr echter Name ist, oder?«

»Können Sie das auch sehen?«

»Fritz, wann sind Sie geboren?«

»18.5.1967.«

»Uhrzeit.«

»4 Uhr 12.«

»Sie haben ein schweres Jahr hinter sich, Fritz.«

»Eigentlich nicht, ich bin befördert worden.«

»Das ist schön, aber Geld ist nicht alles. Ich sehe eine Trennung.«

»Welche Trennung? Ich bin Single.«

»Eine Trennung, die schon länger her ist, die Sie aber noch nicht ganz verarbeitet haben.«

Hat ihn Martaler erkannt? Andererseits ist ihm Margit völlig egal.

»Das freut mich, Fritz. Aber warum rufen Sie an?«

»Na, ich will wissen, was die Zukunft so bringt.«

Herwig aka Horst wirft Fritz aka Heinz einen stirngerunzelten Günther-Jauch-Blick zu. Da Hornicek nicht reagiert, beginnt Martaler die Tarotkarten zu legen.

»Sie haben eine schwierige Zeit vor sich, Fritz. Es wird sich sehr bald etwas ereignen, das Ihr Leben auf den Kopf stellen wird.«

»Und was soll das sein?«

»In Ihnen schlummert ein ganz besonderes Talent, von dem Sie bis jetzt nichts ahnten.«

Herwig lächelt ihn vor laufender Kamera aus.

»Blödsinn, Martaler! Du kannst vielleicht ein paar Hausfrauen mit der Scheiße beeindrucken. Erzähl doch mal deinen Zusehern von den schwachsinnigen Gedichten, die du abgeschrieben hast. Die einzige Zukunft, die du siehst, ist …«

Das Besetztzeichen lässt Hornicek innehalten. Martaler wendet sich gelassen der Kamera zu.

»Fritz! Jetzt ist er leider aus der Leitung gefallen. Lieber Fritz, falls du uns noch sehen kannst: Du musst dich den Dingen stellen. Ich sehe, dass es in dir brodelt. Dass da noch einiges in dir arbeitet. Aber glaube mir, auch auf dich wartet eine Frau, die zu dir passt. Ein Tipp unter Freunden: Du darfst deine Erwartungen nicht zu hoch schrauben. Fritz! Gute Besserung. Du weißt ja, wo du uns findest!«

Hornicek wirft sein Telefon gegen die Mattscheibe, die es unbeeindruckt abprallen lässt. Martaler spricht längst mit Susanne, die wissen will, ob alles irgendwann besser wird.

 

»Es steht 102 zu 99, mein Lieber!«

Hornicek und Prandl treffen sich, seit sie aus dem Profitennis ausstiegen, wöchentlich zu einer Partie. Beide haben nach ihrer Vereinszeit als Tennislehrer angeheuert. Beide haben es unter die Top 300 der ATP-Liste geschafft. Beide sind zweimal geschieden. Beide kommen auf 3000 Euro im Monat. Beide fahren einen Porsche Boxter. Beide gewinnen die Turniere in ihren Clubs. Beide besitzen eine Dachgeschosswohnung. Beide haben das Gefühl, mit niemandem so gut über die alten Zeiten reden zu können. Hornicek und Prandl treffen sich auf Augenhöhe. Und sorgen dafür, dass es so bleibt.

Ihre Gespräche drehen sich um den Intellekt des Mats Wilander, den Frauenschwarm Stefan Edberg, die Katze Miloslav Mecier, der das Fischen dem Training vorzog, den verbissenen Ivan Lendl, Genie und Wahnsinn des John Mc Enroe, Jimmy Connors, der noch mit 40 konnte, den ewigen Verlierer Brad Gilbert, den Clown Henri Leconte und Sexfantasien mit Martina Navratilova.

Für heute Nachmittag hat sich Hornicek fix vorgenommen, auf 102:100 zu verkürzen. Dementsprechend aggressiv ist sein Spiel. 5:4, zweiter Satz, Aufschlag Hornicek. Da kein Platzsprecher vorhanden ist, flüstert sich Hornicek diesen selbst vor. In seinem Kopf spielt er das Finale in Roland Garros. »40:15. Ball de Match Hornicek.« Die Zuseher

 

Der Lebensfilm, der vor Horniceks Augen abläuft, hat Längen und kein befriedigendes Ende. Die wortkarge Jugend in Vösendorf. Betrunkene Autofahrten nach Discobesuchen. Sein ehrgeiziger Vater, der beim Wirten über Tennis doziert. Der Motorradunfall. Der eingegipste Oberkörper. Die weinende Mutter. Und der Vater, dem die Hand auskommt, bevor er sagt: »Weißt du überhaupt, was für ein Glück du gehabt hast?« Dann klebt er ihm noch eine.

Die Mädchen, die ihn und Prandl zu den Turnieren begleiten. Die Rückfahrten, die meistens auf abgelegenen Waldwegen unterbrochen werden. Ob Gerda das Kind wirklich bekommen hat? Er brachte Prandl dazu, ebenfalls mit Gerda

Als Hornicek auf dem Tennisplatz aufwacht, sind alle verschwunden. Sein Kopf schmerzt dumpf. Es durchdringt ihn das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Die Sonne geht gerade unter. Und die roten Sandplätze sind mit Laub bedeckt. Die Netze sind abgehängt und über die Kantinentische grüne Plastiklaken gespannt. Es weht ein eisiger Wind. Hornicek trägt einen dicken Trainingsanzug. Draußen wartet ein Taxi. Der Fahrer fragt ihn nach seinem Namen. Er nickt und fährt los.

Die Stadt ist menschenleer. Das Auto fährt mit enormer Geschwindigkeit, obwohl es sich anfühlt, als würde es ruhig über die Straßen gleiten. Der Fahrer, der ihn an seinen Vater erinnert, sitzt regungslos am Steuer und starrt geradeaus. Obwohl er nicht lenkt, folgt das Auto dem Verlauf der Straße. Aus dem Radio tönt leise Sambamusik. Und als der Wagen ohne Rückstoß stehen bleibt, dreht sich der Fahrer um und sagt: »Toi toi toi, Herr Hornicek.« Die Tür geht auf und Hornicek steht am Fuß eines Glasturms, in dessen Eingang bereits jemand die Tür aufhält. Hornicek muss die hundert Meter selbst gehen. Er kann seine eigenen Schritte nicht hören. Der Mann, der eine graue Uniform trägt, nickt ihm zu, bevor er hinter Hornicek die Tür schließt.

An der Rezeption sitzt eine blonde Frau, die einen Telefonhörer in der Hand hält. Ihr Blick ist auf Hornicek gerichtet. Als er vor ihr steht, lässt sie den Hörer wortlos in die Gabel sinken.

»Man wartet bereits auf Sie.«

»Es ist soweit.«

Hornicek folgt ihr schweigend. Als sie im Aufzug stehen, bemerkt er, dass es aus ihrem Nacken nach verbrannten Kabeln riecht. In Stock 34 bleibt der Aufzug ruckartig stehen. Hornicek steigt aus und als er sich umdreht, schließt sich die Tür vor dem Gesicht der Empfangsdame. Er ist allein. Am Beginn des Ganges steht ein Holzsessel. Die Tür öffnet sich genau im Moment, als er sich hinsetzen will.

»Heinz Hornicek, da sind Sie ja endlich!«

In der Tür wartet ein Mann, der ihn frappant an Martaler erinnert. Nur dünner, jünger, gepflegter, reicher, belesener.

»Setzen Sie sich.«

Hornicek nimmt Platz und starrt aus dem Panoramafenster auf die nächtliche Stadt. Kein einziges Auto bewegt sich auf den Straßen.

»Was führt Sie zu mir?«

Das Prandl-Lookalike lehnt sich zurück und schwenkt vergnügt sein Cognacglas. Hornicek sieht gleichgültig aus dem Fenster und zuckt die Achseln.

»Ich kann es Ihnen sagen«, erlöst ihn Martaler.

»Sie sind gekommen, um sich Ihr neues Talent abzuholen!«

Er sagt das, als hätte er im Lotto gewonnen.

Martaler lehnt sich kumpelhaft nach vor.

»Sie können sich eines aussuchen.«

Dann lächelt er wie ein Autoverkäufer, der gerade eine Sonderausstattung verkauft hat.

»Aha.«

»Freuen Sie sich denn gar nicht?«

»Doch. Aber ich muss überlegen.«

»Keine Frage.«

Er schnippt mit den Fingern.

»Sie haben 30 Sekunden Zeit.«

Hornicek schließt die Augen.

Ich will mit allen Frauen vögeln.

Ich will wie Falco sein.

Ich will noch einmal von Neuem anfangen.

Ich will reich sein.

Ich will wissen, was ich will.

»Ich will, dass alle meine Wünsche in Erfüllung gehen.«

Martaler schnippt erneut mit den Fingern.

»Wünsche zweiter Ordnung sind leider nicht möglich.«

»Was sind Wünsche zweiter Ordnung?«

»Wünsche nach mehr Wünschen, Wünsche nach Änderung des Wunschtyps, Wünsche zur Aufhebung von Wünschen. Zu den Wünschen zweiter Ordnung gehören alle Wünsche, die hinsichtlich eines Wunsches selbstbezügliche Eigenschaften haben oder einen Wunsch zum Inhalt haben, also Wünsche auf einer höheren Ebene sind.«

Horniceks ausdrucksloses Gesicht. Er versucht Martaler zu verstehen.

»Ich will in die Zukunft sehen können.«

Etwas Besseres war ihm beim Anblick von Martaler nicht eingefallen.

»Sind Sie sicher?«

Hornicek nickt und hofft gleichzeitig, jetzt nicht unheimlich großen Mist zu bauen.

»Gut, dann unterschreiben Sie das.«

Martaler legt ihm einen zwanzigseitigen Vertrag hin.

»Was steht da drin?«

»Im Wesentlichen, dass wir keine Haftung für die Folgen übernehmen, dass kein Recht auf Rückführung besteht und dass Sie uns mit dem Ableben Ihre Seele überlassen.«

Hornicek überlegt.

»Den letzten Punkt kann man nicht ändern?«

»Nein, es handelt sich um Standardverträge.«

»Ich bin Atheist.«

»Na, dann kann Ihnen dieser Punkt ohnehin egal sein.«

Hornicek überprüft noch einmal seinen religiösen Standpunkt, schließt aber die Existenz einer Seele grundsätzlich aus. Martaler hält ihm den Stift hin. Ohne zu zögern unterschreibt er. Dann schnippt Martaler erneut und Hornicek wacht auf.

 

»Können Sie mich hören?«

Eine verschwommene Krankenschwester beugt sich über Horniceks Gesicht. Sie riecht nach altem Schweiß.

»Wie heißen Sie?«

»Heinz Hornicek.«

»Tennislehrer.«

»Können Sie etwas spüren?«

»Ich habe Kopfweh.«

Dann verschwindet die verschwommene Krankenschwester und sein Vater taucht auf. Als dieser die Hand hebt, wird er scharf.

»Papa.«

Er senkt die Hand und sieht ihn mit seinen schmalen, gefühlsarmen, niederösterreichischen Schweinsaugen an.

»Sind Sie sicher, dass es keine bleibenden Schäden gibt?«

Neben dem Vater erscheint ein Arzt, der mit einer routinierten Handbewegung Horniceks Augen schließt.

»Das wäre sehr unwahrscheinlich. Ihr Sohn hat eine schwere Gehirnerschütterung, aber er wird ganz der Alte bleiben.«

»Verstehe«, sagt der Vater enttäuscht.

Dann schläft Hornicek wieder ein.

 

In seinem Traum dringt er in das Astrovox-Studio ein. Martaler schießt vor Schreck auf. Er hat ihn gleich erkannt.

»Damit hast du nicht gerechnet, du Dilettant. Stell mir einen deiner schwachsinnigen Kunden durch. Na, los!«

Martaler weicht zur Seite.

»Was soll das?«

»Wenn du in die Zukunft sehen könntest, wüsstest du es.«

»Das wäre unseriös. Ich bin Profi.«

»Profi im Abzocken vielleicht. Die Menschen da draußen haben ein Anrecht auf Wahrheit. Hornicek kann für euch in die Zukunft sehen. Also ruft an!«

»Die brauche ich nicht. Wer ist in der Leitung?«

»Ja, hallo, hier spricht die Verena.«

»Verena! Sagen Sie nichts. Sie werden weiterhin als Sekretärin von diesem Arschloch arbeiten. Er wird Sie noch ein Jahr lang vögeln und dann wird er sich eine Jüngere suchen. Eine Woche später diagnostiziert man bei Ihnen unheilbaren Krebs. Sie hätten die Affäre nicht Ihrem Mann beichten sollen. Denn es heißt: Sie werden einsam sterben. Tut mir leid, Verena, aber so sieht es aus!«

In das Freizeichen mischt sich noch das Schluchzen von Verena.

»Der Nächste bitte!«

»Hier ist Thomas.«

»Thomas. Bei Ihnen sehe ich weder große Katastrophen noch große Höhepunkte. Ihr Leben bleibt so langweilig wie es ist. Sie werden mit 62 an einem Herzinfarkt sterben, weil Sie Ihr ganzes Leben aus purer Langeweile geraucht haben.«

»Was ist mit meiner Frau?«

»Die kommt nicht mehr zurück. Der Nächste bitte.«

Der Aufnahmeleiter deutet ihm, dass keiner mehr in der Leitung wartet.

»Was soll das? Rufen Sie an! Heinz Hornicek sagt Ihnen die echte Zukunft voraus!«

»So wird das nichts.«

Hornicek schnauft Martaler ins Gesicht.

»Was willst du noch hier, du Betrüger!«

»Hören Sie, Hornicek, Sie haben keine Ahnung vom Geschäft. Die Leute wollen diese Dinge nicht hören. Sie vergrämen die Kundschaft mit Hiobsbotschaften!«

»Gehen Sie jetzt, sonst verklage ich Sie wegen Geschäftsschädigung.«

Von hinten fasst ihn eine Hand und zieht ihn zu sich. Es riecht nach altem Schweiß.

»Schwester?!«

»Guten Morgen. Ich wechsle nur Ihre Bettwäsche.«

Die Schwester steht gestochen scharf vor ihm.

»Die Unschärfe hat Ihnen besser gestanden.«

»Was?«

»Nichts. Ich bin noch benommen.«

»Stehen Sie auf. Das wird Ihnen guttun.«

Die unsanfte Schwester schiebt ihn zur Seite. Hornicek greift sich an den Kopf.

»Schmerzen?«

»Ja. Achtung!«

Sein Blick fällt auf die Lampe am Nachtkästchen.

»Was?«, sagt die Schwester.

Dann fällt sie um.

Sie wirft ihm einen erstaunten Blick zu.

»Sind Sie Hellseher oder was?«

Er sieht sie an. Er versucht, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Ihre rotspeckigen Backen, die kleinen Äderchen auf der Nase, die vom Alkohol zerronnenen Augen.

»Von Zukunft keine Spur«, flüstert er.

»Was?«

»Nein, ich kann nicht in die Zukunft sehen. Zumindest nicht in die Ihre.«

»Ich glaube, es ist besser, Sie legen sich wieder hin.«

Wie konnte er nur glauben, der Traum würde tatsächlich in Erfüllung gehen. Alles, was er sich wünscht, ist, dass diese verdammten Kopfschmerzen aufhören.

 

Die Frau wird ihren Schirm ausschütteln.

Das Kind wird gleich grundlos schreien.

Achtung: Ein dunkelblaues Cabriolet mit zerrissenem Verdeck bremst sich ein.

Der Augustinverkäufer springt zur Seite.

Hornicek hätte ihn nicht mehr rechtzeitig erreicht.

Von hinten kommt gleich ein Bus.

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Der Bus.

Er wird die Station passieren, weil niemand wartet.

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Gleich wird ein junger Mann ums Eck laufen.

Er wird den Bus nicht mehr erreichen.

Hornicek wird stehen bleiben, weil

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sein Telefon läutet.

»Angelika!«

Gut, das hätte er auch vom Display ablesen können.

»Woher wusstest du, was ich sagen wollte?«

»Intuition.«

»Du wirst mir unheimlich, Horni. Seit du im Spital warst, bist du so …«

»Gelassen?«

»Nein, überheblich.«

Hornicek wandert durch sein Leben wie durch einen Film, den er bereits kennt. Er hat beschlossen, so lange mit niemandem darüber zu reden, bis er sich Klarheit verschafft hat. Die hat er jetzt. Das erste Mal seit 18 Jahren trifft er Prandl abseits des Tennisplatzes.

»Es ist wichtig«, hat er gesagt, und »nein, ich kann nicht am Telefon darüber sprechen.«

Hornicek wartet vor der Tür des Cafés, weil sich gleich eine Dame mit Hund durch diese zwängen wird.

 

»Ich kann in die Zukunft sehen, Gerhard.«

»Aha, seit wann?«

»Seit diesem Unfall.«

»Aha. Und was wird als Nächstes passieren?«

Hornicek sieht sich um.

»Nichts.«

»Aha.«

»Gleich kommt der Kaffee.«

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Der Kellner bringt den Kaffee.

»Du glaubst mir nicht.«

»Wie wird mein Leben mit 50 sein?«

Gerhard hebt die Tasse zu seinem Mund.

»Achtung. Heiß.«

Gerhard nimmt einen Schluck.

»Ahhh. Das darf doch nicht wahr sein.«

»Doch. Aber es gibt ein Problem.«

Gerhard stellt die Tasse verärgert auf den Unterteller zurück.

»Und was soll das sein?«

»Es sind nur drei Sekunden.«

»Was?«

»Ich kann nur drei Sekunden in die Zukunft sehen.«

»Aha. Das ist nicht viel. Und du bist dir sicher, dass es so ist?«

»Ja. Telefon.«

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Das Telefon des Tischnachbarn läutet.

»Aha.«

»Ich habe es genau ausgetestet. Es sind exakt drei Sekunden.«

»Und was macht man damit?«

»Nichts. Ich kann weder reich werden noch die Welt retten.«

Gerhard überlegt ungefähr 30 Sekunden.

»Roulette?«

»Nein.«

»Black Jack?«

»Nein. Ich kann nicht mal in Wetten, dass..? auftreten.«

»In meinem Alter nützen mir die drei Sekunden auch nichts mehr.«

»Du könntest beim Geheimdienst anheuern.«

»In Österreich?«

»Und warum erzählst du mir das?«

»Weil du mein Freund bist.«

»Aha.«

»Gerhard, ich leide darunter. Wenn es wenigstens 10 Sekunden wären. Aber drei sind mehr Behinderung als Nutzen.«

»Wenn das stimmt, dann bedeutet das etwas.«

»Und was?«

»Dass es das Schicksal wirklich gibt.«

»Und?«

»Kannst du das Geschehen eigentlich verändern?«

»Klar.«

Gerhard sitzt mit starrer Miene da. Er muss sich konzentrieren. Kurz bevor er droht, ohnmächtig zu werden, sagt er:

»Das ist unlogisch.«

»Oder das Schicksal gibt es eben nicht.«

»Das ist genauso unlogisch.«

»Na, vielleicht ist die Logik ja unlogisch.«

»Das wäre dann komplett unlogisch.«

»Ich sehe schon, du kannst mir nicht helfen.«

»Nein, ich muss nachdenken.«

Gerhard steht auf und verschwindet in der Toilette. Als er zurückkommt, bleibt er stehen und sagt:

»Du musst auf jeden Fall etwas dagegen tun.«

»Wieso?«

»Brücke?«

»Vergiften wäre dir zu feminin. Erschießen zu riskant. Für Erhängen bist du zu feig. Und deinen Porsche gegen die Wand zu fahren, bringst du nicht. Also Brücke.«

 

Drei Monate später: Prandls Prognosen sind alle eingetroffen. Angelika war die Erste. Sie sagte, dass er jetzt noch lächerlicher wäre als früher, weil ihm der liebenswerte Teil der Lächerlichkeit fehlte. Hornicek fand das ein wenig ungelenk formuliert. Aber schließlich war er auch Tennislehrer und kein Germanist. Er zeigte sich einsichtig und deutete auf die Schuhe, bevor sie noch danach fragen konnte. Im Club hatte man ihm gekündigt, weil es die Kundschaft nervte, vorschnell kritisiert zu werden. Es fiel ihm zunehmend schwerer, Fehlverhalten zu akzeptieren. Seine Umwelt

»Noch zwei Monate, dann legen wir los.«

Poldi Hornicek steht täglich zwei Stunden am Platz. Doch die Fortschritte sind überschaubar. Sein Sohn ist faul, langsam und unwillig.

»So wird das nix, Heinz. Willst du nach Wimbledon oder nicht?«

Hornicek weicht der erhobenen Hand des Vaters aus und sagt:

»Die Frage ist doch nur, ob du willst. Um mich ist es dabei noch nie gegangen.«

»Jetzt sei gescheit, Bub. Siehst du nicht, dass du eine reale Chance hast, ein ganz Großer zu werden?«

»Ach was, wir blamieren uns in Grund und Boden!«

»Nicht, wenn wir mehr trainieren. Du bist noch zu langsam.«

»Ich bin auch keine 20 mehr.«

»Aber du hast ein Talent!«

»Und wohin hat mich das gebracht? Zurück nach Vösendorf. Ich will, dass es weggeht.«

»Und ich will, dass es mehr wird. Drei Sekunden reichen nie. Ich spreche noch heute mit Doktor Leipzig.«

»Der lebt noch?«

 

»Ich bin die Urenkelin. Sie haben Glück. Heute ist ein guter Tag. Sein konvulsivisches Zittern ist kaum merkbar. Bitte, kommen Sie weiter.«

Der Gang ist so eng, dass die drei hintereinander gehen müssen. Hornicek starrt auf den knochigen Po von Fräulein Leipzig. Ihr Hinken, das linke Bein ist länger als das rechte, wirkt durch die hohen Stöckelschuhe klobiger als sonst. Dementsprechend langsam kommt die Reihe voran. Hornicek erschrickt drei Sekunden bevor Fräulein Leipzig die Tür öffnet.

»In diesem Fall zählt die Erfahrung, Heinz. Und sein Kopf funktioniert wie der eines Zwanzigjährigen.«

Doktor Leipzig sitzt an seinem Schreibtisch und ringt nach Luft. Das Zittern seiner Hände ermöglicht ihm nicht, die Sauerstoffmaske zu seinem Mund zu führen. Meistens trifft er nicht mal das Gesicht. Fräulein Leipzig läuft in Schieflage hin und stülpt ihm das Gerät über die Nase.

»Das war knapp. Bitte stellen Sie ihm nur einfache Fragen, die er in knappen Sätzen beantworten kann. Länger als zehn Sekunden hält er ohne das Gerät nicht durch. Danke.«

»Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht stehlen, Herr Doktor, also kommen wir gleich zur Sache.«

Vater Hornicek erzählt Doktor Leipzig die gesamte Krankengeschichte des Sohnes. Er schmückt diese mit peinlichen Familienanekdoten aus. Und fügt noch seine eigenen Leiden hinzu.

»Sind Sie noch bei uns, Doktor?«

Doktor Leipzig wird von einem elektrischen Schlag durchflutet. Die Sauerstoffmaske kullert zu Boden.

»Da kann man schulmedizinisch wenig tun!«

Panisch versucht er sich die Maske zu krallen. Hornicek steckt sie ihm zurück ins Gesicht.

»Heißt das, es gibt keine Hoffnung?«

Der Doktor schüttelt den Kopf, während er panisch nach Luft ringt.

»Das habe ich nicht gesagt«, hebt er die Maske nur kurz.

Der Vater wird ungeduldig.

»Aber was haben Sie dann gesagt?«

Hornicek hält den Vater am Arm.

»Keine komplizierten Fragen, Vater. Was schlagen Sie vor?«

Der Doktor nickt akademisch.

»Schläge auf den Hinterkopf.«

»Dann würde es verschwinden?«, fragt der Sohn.

»Wäre es dann ausbaufähig?«, der Vater.

Der Doktor zuckt mit den Achseln und deutet auf den Schrank hinter sich.

»Was ist dort?«

Der Doktor nickt großräumig. Hornicek öffnet den Schrank und deutet auf einen abgewetzten Cricketschläger.

»Wozu brauchen Sie den?«

Der Doktor imitiert mit der Hand eine Schlagbewegung und zeigt mit dem Finger auf den Vater.

»Ich soll meinen Sohn schlagen? Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Es wäre mir auch lieber, wenn ich das selbst übernehme.«

Leipzig zieht die Maske kurz vom Gesicht und schreit: »Fest!«

»Dann ist es vielleicht doch besser, wenn ich das mache«, meint Vater Hornicek.

Hornicek steht gebückt vor dem Liegebett. Doktor Leipzig hebt die Hand zu einer olympischen Eröffnungsgeste. Ungewohnt zögerlich holt der Vater aus.

»Pass auf, dass du nicht im Gefängnis landest«, stöhnt der Sohn mit zugekniffenen Augen.

Der Vater wirft einen fragenden Blick zu Leipzig. Dann schlägt er zu.

»Ahhhh!«

Heinz greift sich an den Kopf.

»Und?«, fragt der Vater.

»Na was und?«

»Ist es besser?«

Hornicek konzentriert sich und wartet, bis etwas passiert. Als von draußen eine Klospülung ertönt, sagt er: »Wie gehabt, drei Sekunden.«

Leipzig reißt sich die Maske vom Gesicht und stöhnt:

Vater Hornicek seufzt gequält. Heinz nimmt wieder Stellung ein. Dieses Mal zuckt der Doktor beim Geräusch des Aufpralls zusammen. Der Schmerz ist so stark, dass der Sohn erst zeitverzögert schreit. Vater Hornicek deutet dies als Zeichen, dass es funktioniert hat.

Stille. Sie warten, bis sich das Pochen im Hinterkopf beruhigt. Heinz starrt weggetreten in die Luft. Nach einem kaum wahrnehmbaren Hupgeräusch schüttelt er apathisch den Kopf.

»Fester!«, tönt es aus der kratzigen Lunge Leipzigs. Hornicek winkt ab, doch der Vater holt bereits aus. »Für Wimbledon, Bub! Komm! Einmal noch!« Widerwillig bückt sich Hornicek und schließt die Augen. Drei Sekunden vor dem Schlag weiß er, dass er den Schmerz nicht mehr spüren wird.

 

Als er zu sich kommt, riecht es wieder nach altem Schweiß. Die Krankenschwester lächelt ihn an. Das kann er trotz Unschärfe erkennen. Sie weiß alles. Doch neben dem allgegenwärtigen Schmerz findet die Scham keinen Platz. Der Vater starrt auf das debil sabbernde Gesicht des Sohnes und sagt: »Habe ich jetzt einen Trottel als Sohn?«

Der Arzt stellt ihm in Aussicht, dass das in den nächsten Tagen absehbar sein wird. Dann verliert Hornicek wieder das Bewusstsein und wacht erst am nächsten Morgen auf.

»Und?«

Die Mutter hält einen Rosenkranz in der Hand. Vater und Arzt starren mit grunzendem Blick.

»Kopfweh«, sagt Hornicek.

»Ja, aber sonst?«

Der Vater schüttelt enttäuscht den Kopf und die Mutter wirft einen dankbaren Blick zum Himmel.

»Wohin willst du?«

Hornicek setzt sich auf und schiebt die glotzenden Gesichter zur Seite.

»Einfach weg.«

»Das können Sie nicht. Sie sind krank!«

»Ja, ihr macht mich krank!«

Er zieht sich im Eiltempo den Trainingsanzug an und verschwindet aus dem Spital.

»Zu Astrovox!«, befiehlt er dem Taxifahrer.

Als der Inder unsicher in sein Navigationssystem zu tippen beginnt, flucht Hornicek: »Mit V, nicht mit W!«

 

Vor dem Sender steht ein Security, der Hornicek aufhält.

»Tut mir leid, da können Sie nicht hinein.«

»Aha, ich nehme an, hier tauchen öfters wütende Kunden auf, die sich die vorhergesagte Zukunft anders vorgestellt haben.«

»Nein, eigentlich sind Sie der erste.«

»Sie missverstehen mich. Ich bin kein Kunde.«

»Was wollen Sie dann?«

»Ich habe einen Termin mit Herrn Martaler.«

»Hier arbeitet kein Herr mit diesem Namen.«

»Gut, dann mit Herrn Herwig.«

»Der hat gerade Sendung.«

»Ich kann ja in der Kantine auf ihn warten.«

Der Security überlegt. Im Prinzip weiß nicht mal er, warum

»Von mir aus. Ich benachrichtige Herrn Herwig, dass Sie auf ihn warten.«

»Danke, sehr freundlich.«

 

Zwei Stunden lang lauscht Hornicek den Gesprächen in der Kantine. Die Schichtwahrsager monieren die schlechte Bezahlung, die mangelnde Qualifizierung von Kollegen und geben Schätzungen über den Jahresverdienst des Senderchefs ab. Sie plaudern die Macken ihrer Kundschaft aus und stellen Mutmaßungen zu möglichen Affären innerhalb der Belegschaft an. Als der Kellner Horniceks drittes Bier abserviert, blickt dieser auf, denn gleich kommt Martaler ums Eck.

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»Hornicek! Ich nehme an, du willst dich entschuldigen.«

»Ähhhh.«

»Keine Angst – den aufgeschlitzten Rucksack zahle ich dir noch heim.«

Hornicek kann sich beim besten Willen nicht erinnern. Ist aber erleichtert, dass ihn Martaler am Telefon nicht erkannte.

»Ja, die Schulzeiten. Bist ja eine richtige Berühmtheit geworden.«

Horst Martaler lächelt milde. Beinahe täglich malt er sich ein Klassentreffen aus, bei dem ihn die ehemaligen Kollegen zum Klassensieger krönen. Der Martaler hat’s als Einziger geschafft. Wer hätte das gedacht. Meine Frau und ich schauen uns

»Warum hat es eigentlich noch nie ein Klassentreffen gegeben?«, fragt Martaler.

»Willst du die ganzen Lemuren wirklich sehen?«

Martaler bestellt sich einen biologischen Apfelsaft.

»Es würde mich schon interessieren, was aus den anderen geworden ist.«

»Das hättest du ja schon damals wissen können, als Hellseher.«

»Ist auch nur ein Geschäft. Was treibst du?«

»Ich bin beim Tennis geblieben.«

»Profi?«

»Ich unterrichte.«

»Verstehe.«

Bereits nach drei Minuten entsteht das erste unüberwindbare Schweigen. Hornicek und Martaler hatten sich schon in der Schulzeit wenig zu sagen.

»Was führt dich eigentlich zu mir?«

Hornicek hat diese Frage kommen sehen.

»Ich habe ein Problem und du bist der Einzige, den ich kenne, der mir vielleicht helfen kann.«

»Wieso ich?«

»Weil du in die Zukunft sehen kannst.«

Martalers Gesicht verzieht sich zu einer bitteren Vorahnung.

»Ich mache keine privaten Termine. Du fragst ja einen Zahnarzt auch nicht auf der Straße, ob er dir in den Mund schauen kann.«

»Das ist von Josef Hader.«

»Ich will nicht, dass du in meine Zukunft schaust.«

»Dann bin ich erleichtert.«

»Aber die Zukunft ist mein Problem.«

»Das ist in den meisten Leben so.«

»Horst, ich kann in die Zukunft schauen. Und es macht mich wahnsinnig. Achtung.«

»Was ist?«

Der Kellner stolpert über Martalers wippendes Bein und schüttet der Wahrsagerin Milva Rotwein aufs Kleid.

»Siehst du?«

»Was?«

»Ich habe es vorhergesehen.«

»Ja und?«

»Ich kann in die Zukunft schauen. Aber eben nur drei Sekunden.«

Horst Martaler sieht Heinz Hornicek kopfschüttelnd an.

»Ganze drei Sekunden. Dann kannst du nicht bei uns anfangen.«

»Eben. Wie hast du es geschafft? Ich habe alles probiert. Es bleibt bei den drei Sekunden.«

»Naja, vielleicht liegt es daran, dass die Zukunft nicht länger als drei Sekunden vorherbestimmt ist.«

Hornicek sieht ihn ernst an.

»Das meinst du wirklich.«

Martaler lacht.

»Ja, das meine ich wirklich.«