Die Wohnung meiner Großeltern war still. Denn Großvater schlief und da hatte das Haus zu schweigen. Da hatte man das Atmen einzustellen. Da machte die Welt Pause. Ja, sogar die Erde hielt inne, um seinen wohlverdienten Schlaf nicht zu stören. Wann ein Schlaf verdient ist und wann nicht, konnte ich schon damals nicht verstehen. Schließlich konnte das keine Kategorie für faktische Müdigkeit sein. Auf jeden Fall war der Schlaf meines Großvaters immer verdient, so wie der Urlaub meiner Eltern immer verdient war. Nur meine Generation hatte sich noch um nichts verdient gemacht. Und während alle Verdienten schliefen, schlich ich mich in das winzige Wohnzimmer eines typischen niederösterreichischen Vororts und setzte mich davor. The Golden Trees. Ein goldener Herbstwald, der unter gleißendem Sonnenlicht eine märchenhafte Sehnsucht aufbaute. Ich wusste: Das war schön. Jeder fand das.

 

Aber warum? Weil es eine Sehnsucht widerspiegelte? Weil man hier den unerreichbaren Platz im Paradies vor Augen gehalten bekam? Einen Ort, den man nie in natura (als ob das irgendeinen Unterschied ergäbe) sehen würde. Einen Ort, den man sich sonst nur vorstellen konnte – aber eben

 

Sind Fototapeten die Meditation des Westens?

Gibt es ein Leben nach dem Leben nach dem Tod?

(Das kann doch nicht alles gewesen sein.)

Gibt es ein Leben für die Fototapete nach dem Retrotrend?

Entsprechen Fototapeten noch unseren Sehnsüchten?

Und wie oft kommt in Popsongs die Zeile »I want« vor?

 

I want to break free.

I want to know what love is.

I want to know if he really loves me.

I hate myself and want to die.

I want to enter.

I want to be an astronaut.

Everything I want to do is illegal.

I want to hold your hand

I want you to want me

I want to be called President (Sierra Leone)

I want a family (Keanu Reeves)

I want to be a cyborg (Kevin Warwick)

Money, that’s what I want (Beatles)

I want to make a hiphop album (Elton John)

 

Ich sehne mich nach ewiger Liebe.

Ich sehne mich nach ewigem Reichtum.

Ich sehne mich nach ewigem Leben.

Ich sehne mich nach ewigem Urlaub.

Ich sehne mich, nicht ewig ich sein zu müssen.

Ja gut, aber wo?

 

Am kristallklaren Bergsee?

Am menschenleeren Strand?

Am tropischen Wasserfall?

Nein – in meiner gottverdammten Wohnung. Hier und jetzt.

Ich will die perfekte Wohnung an der Wand!

Die Wohnung, die wir nie bewohnen werden.

Möbelhäuser, passt auf.

Schmeißt die Fototapeten raus.

Wir bleiben daheim.

Für immer.

 

Ihre Traumwohnung!

Wohnung mit Kamin.

Exklusiver Nussholzboden, Erstbezug.

Jakuzzi!

Perfekte Lage

182 qm (5 Zimmer), Terrasse

Absolut ruhig gelegen, riecht man hier das Grün …

Casa Toscana AG

Die perfekte Synthese aus Luxus und Understatement.

»Hinter der Fachwerkfassade des Gebäudeensembles entstehen Wohnungen mit hervorragender Ausstattung über dem allgemeinen Standard.«

Das perfekte Zusammenspiel von Dessin, Farbe und Material machen diese maschinengewebten Brücken und Teppiche zum Mittelpunkt Ihrer Wohnung.

Das Obergeschoss kann als eigenständige Wohnung vermietet werden.

Naturliebhaber aufgepasst!

Die zweistöckige Bibliothek.

Das lichtdurchflutete Bad.

Mediterranes Loft mit Meerblick!

Halt!

Die Tapete.

 

Die menschenleere Wiese.

Der menschenleere Tropenwald.

Makellos. Perfekt. Eben von Gott erschaffen. Erstbezug. Ein Garten Eden, den wir mit unseren Gedanken bewohnen dürfen. Für immer.

Ich betrete ihn. Den menschenleeren Strand. Seit Ewigkeiten wollte ich ihn mit einem Fußabdruck im Sand als meinen Ort markieren. Das Meer beginnt sich zu bewegen. Der warme Südwind umschmeichelt mein Gesicht wie ein Song von Carla Bruni. Der Sand ist lauwarm. Die Wolken ziehen ab. Langsam schleiche ich zum Ufer. Um niemanden zu wecken. Um nicht erwischt zu werden. Ich habe zwar kein »Zutritt verboten«-Schild gesehen. Aber etwas in mir sagt: Ich werde beobachtet.

Willkommen in der unwirklichen Wirklichkeit. Selbst das Licht wirkt unverbraucht. Ich werde diesen Ort bewohnen. Aus dem Meer taucht eine Frau. Sie winkt mir von Weitem und kommt auf mich zu. Ein Mann mit Bauchladen verkauft mir Möglichkeiten. Ich spüre eine zarte Hand, die mich massiert. Das Rauschen der Wellen. Eine sanfte Stimme, die mir etwas verspricht. Jemand, der mir unaufdringlich Drinks serviert. Menschen kommen von allen Seiten, um mich einzuladen. Ich muss nichts sagen. Alles besprochen. Ich schließe die Augen. Das Paradies. »Bild frei!« Alles hält inne. Blick zurück.

 

Es ist John Burst. (Mein Gott, ist der alt geworden. Ich dachte, er sei tot.)

John Burst?

John Burst reist mit einer Entourage von 50 Menschen. Die meisten sind damit beschäftigt, den Meister bei Laune zu halten.

»Drinks, Sir?«

»Evakuieren Sie zuerst den gottverdammten Strand. So wird das nichts! Wissen Sie, wie viele gottverdammte Strände ich schon fotografiert habe? Hunderte, Sie Ignorant. Na los, ab durch die Mitte. Bild frei!«

 

John Burst akzeptiert keine Menschen im Bild.

»Sie verstellen mir den Blick auf das Wesentliche, Junge.«

»Und das wäre?«

»Ich selbst. Andere Menschen hindern mich daran, mich selbst in diese gottverdammte Tapete hineinzuträumen. Deshalb räumt den gottverdammten Strand endlich!«

 

Die Assistenten arbeiten schnell und vertreiben meine Mitbewohner aus dem Paradies. Dazwischen ein paar hingefetzte Anekdoten. Nicht zu detailliert. Sonst wird der Blick auf das Wesentliche verstellt.

»Der Bergsee damals war gar nicht so klar, wie er auf dem Foto aussieht.«

»Die Räumung des tropischen Wasserfalls, das war etwas, Junge. Man konnte herumballern, was man wollte, aber sie kamen aus allen Löchern, diese gottverdammten Schlitzaugen.«

»Die Wüste war ein Nukleartestgebiet. Scheißegal, habe ich gesagt, wenigstens ersparen wir uns eine Evakuierung.«

»Bild frei!«

Klick.

Das ewige Leben.