Johnny Weißmüller liebte die Sonne. Ja, er liebte die Sonne so sehr, dass er auch im Winter an Orte reiste, an denen er ihr nah sein konnte. »Sonnenanbeter« nannte Natalie ihn immer dann, wenn er sein Surfbrett einpackte, um zu verreisen. »Meine Sonne im Herzen« nannte Johnny sie immer dann, wenn sich seine braun gebrannte Haut an die ihre schmiegte. Und dann lächelten die beiden so glückselig, wie nur der Frühling lächelt, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Blüten aus dem Winterschlaf wecken.
Die Sonne. Kein Ort schien ihm zu entlegen, an den er ihr nicht hinterherreisen würde. Eine Liebe, auf die Natalie nicht eifersüchtig zu sein brauchte. Johnny war eine treue Seele und liebte Natalie über alles. Andere Frauen existierten für ihn nicht. Nur deshalb akzeptierte Natalie diese sonderbare Geliebte, die ihren Johnny so oft von ihr trennte. Und sie freute sich, wenn er mit sonnengegerbter Haut zurückkehrte.
So kam es, dass Johnny wieder einmal an einem abgelegenen Inselstrand lag, um die Sonne anzubeten. Die ersten Anzeichen seines übermäßigen Sonnenkonsums wurden sichtbar: Seine Haut begann sich vom Rücken zu lösen, und sein brünettes Haar bleichte mehr und mehr aus. Doch Johnny hatte noch immer nicht genug. Stundenlang blieb er in der glühenden Mittagssonne liegen, während die anderen Badegäste und Inselbewohner Zuflucht im kühlen Schatten suchten. Die Temperaturen stiegen von Tag zu Tag. Die Straßen leerten sich untertags zunehmend. Einigen älteren Menschen wurde die Hitze zum Verhängnis. Und diejenigen, deren Kreislauf noch nicht verrückt spielte, brachten den klimatisierten Bars gigantische Umsätze. Die Medien sprachen – wie jedes Jahr – von einem Rekordsommer. Denn irgendeine Rekordmeldung brauchten sie schließlich, um das Sommerloch zu füllen. Doch in diesem Jahr waren die Temperaturen wirklich rekordverdächtig und hatten mit den üblichen Temperaturbestmarken des Sommers nichts zu tun. Vor allem schien die Hitzewelle kein Ende zu nehmen. Und irgendwann lag Johnny Weißmüller allein am Strand, während die anderen Touristen in den kühlen Hotellobbys saßen und über den seltsamen Sonnenanbeter lächelten.
Johnny starrte in die Sonne und die Sonne starrte zurück. Ja, sogar die Fische verabschiedeten sich bei dieser Affenhitze in die Tiefen des Meeres. Warum große Hitze nach Affen benannt wurde, ist unbegreiflich. Denn Affen sind weder besonders resistent gegen hohe Temperaturen, noch rufen sie solche hervor. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass eine derartige Hitze die Menschen animalisch werden lässt. Bemerkbar machte sich dies am Aggressionspotenzial, das sich in den letzten Tagen spürbar erhöht hatte. Es war bereits zu diversen Übergriffen gekommen, während Johnny seelenruhig am Strand lag, um sich ohne Sonnenschutz seiner geliebten Sonne hinzugeben. Ja, niemand ließ die Sonne so nah an sich heran wie Johnny. Es wäre verwunderlich gewesen, hätte das der alten Sonne nicht geschmeichelt.
Der Erste, der merkte, dass hier etwas Seltsames vor sich ging, war Doktor Peron, der nichts dafür konnte, dass er wie der argentinische Diktator hieß. Seinerzeit war er deshalb durch etliche Universitätsprüfungen gefallen und am Ende wusste keiner so recht, in was Peron seinen Doktor eigentlich absolviert hatte. Am wenigsten er selbst. Und wenn man ihn danach fragte, gab er nur patzig zur Antwort, dass er Doktor Solaris sei, was insofern der Wahrheit entsprach, als dass niemand auf der ganzen Insel die Sonne so eindringlich beobachtete wie er. Peron sei doch nur ein fauler Sack, der den ganzen Tag in der Sonne liege, behaupteten die einen. Keiner wäre auf diesem Gebiet so kompetent, widersprachen die anderen. Auf jeden Fall pilgerten die Einheimischen dieser Tage massenweise zu Doktor Peron, um ihn in Sachen Rekordsommer um Rat zu fragen.
»Entspannt euch!«, erklärte er salopp den Pilgern.
»Lasst euch die Sonne auf den Bauch scheinen! Ihr werdet noch froh sein! Bald ist der herrliche Sommer vorbei, und ein kalter Winter wird über die Lande ziehen!«
Das mussten sich die von der Dürre geplagten Bauern anhören, bevor Peron wieder die Augen schloss, um sein Sonnenbad fortzusetzen.
»Aber Doktor Peron!«
Die Einheimischen gaben keine Ruhe.
»Es ist Mitte Oktober und es hat über vierzig Grad. Wir haben nicht den Eindruck, dass der Sommer bald zu Ende geht. Im Gegenteil! Es wird von Tag zu Tag heißer und trockener!«
Da drehte sich Peron wieder den Bauern zu und öffnete verheißungsvoll seine schmalen Augen. Er starrte sie an. Sie starrten ihn an. Er sah zur Sonne. Ihre Blicke folgten ihm. Dann schaute er in die Ferne und dachte nach. Minutenlang. Er nickte und setzte an, um zu sprechen. Die Bauern hingen an seinen Lippen. Endlich würde Doktor Peron ihnen eine Antwort auf die unzähligen Fragen geben. Langsam murmelte er etwas vor sich hin. Alle mussten sich vorbeugen, um den Doktor zu verstehen. »Na und?«, sagte er. »Na und?« Dann schloss er wieder die Augen. Und die Bauern zogen enttäuscht ab.
Als sie außer Sicht waren, blinzelte Peron und sah nachdenklich zum Horizont. Die Bauern hatten schon recht. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und damit war Doktor Peron, wie gesagt, der Erste, der bemerkte, dass hier Seltsames vor sich ging. Sein Blick fiel auf die andere Seite des Strandes. Dort sah er Johnny liegen. Und in diesem Moment wusste er: Diese Geschichte hatte irgendetwas mit diesem Jungen zu tun. Doktor Peron dachte stundenlang nach. Hunderte von Theorien entwickelte der Wissenschafter, warum dieser Johnny Weißmüller die Schuld an diesem Rekordsommer tragen könnte. Doch nichts fiel ihm ein. Eigentlich war der Junge ihm ja ganz sympathisch. Er schien sich mit den gleichen Dingen zu beschäftigen wie er. Womöglich auch ein Akademiker, der sich hier nur zu Forschungszwecken aufhielt. Aber Doktor Peron war Pragmatiker und kein Esoteriker. Und deshalb wusste er, dass ihm etwas einfallen musste, wenn er eine wissenschaftliche Erklärung finden wollte.
Die Horde Bauern konnte ganz schön lästig werden.
Und Peron war ihnen eine Antwort schuldig. Sonst hätte er sie ewig am Hals. Eigentlich interessierte ihn nichts mehr, als den ganzen Tag in der Sonne zu liegen und die Seele baumeln zu lassen. Als er in der neunten Stunde lauthals »Eureka« schrie, konnte Peron froh sein, dass niemand anderer am Strand war. Sonst hätte man ihn womöglich wieder einmal gefragt, worin er eigentlich promoviert hatte. Auf jeden Fall schrie Doktor Peron lauthals sein »Eureka« heraus, schloss dann aber wieder friedlich die Augen, weil er wusste, dass dieser eine Schrei ausreichen würde, um die neugierigen Einheimischen anzulocken. Und siehe da. Bereits wenige Minuten später standen die gleichen verzweifelten Bauern vor ihm und warteten, dass der weise Peron zu ihnen sprach.
Doch wenn sich Peron neben seinen Sonnenstudien in irgendetwas auskannte, dann im Imitieren von Findlingen am Südrand skandinavischer Gletscherzonen. Wie jene Riesensteine, deren Herkunft größte Rätsel aufgaben, saß er da und beachtete die Menschentraube nicht weiter. Erst als ein Bauer seinen Herzschlag und Atem überprüfen wollte, drehte er sich zur Gruppe, die sich gemeinsam erschreckte und einen gruppendynamischen Schritt nach hinten setzte. »Was?«, warf er dem Bauern patzig entgegen.
»Sie haben ›Eureka‹ geschrien, Doktor Peron«, gab einer der Bauern schüchtern zu bedenken.
»Na und? Ist das neuerdings verboten?«, entgegnete Peron missmutig.
»Nein. Aber wir haben gehofft, dass Ihnen etwas eingefallen ist.«
Perons Blick schweifte bedeutungsschwanger in die Ferne. »Ist mir auch.«
Die Einheimischen applaudierten. Inzwischen hatte die Menschentraube weitere Menschen angezogen. Sogar die Touristen krochen aus ihren unterkühlten Hotellobbys hervor, um den Ausführungen von Doktor Peron zu lauschen. Doch dieser zierte sich und dachte gar nicht daran, seine Erkenntnisse so billig preiszugeben. Vielleicht war ihm auch gar nichts eingefallen, und er nutzte die Zeit nur, um sich aus der Affäre zu ziehen. Erwartungsvoll sahen ihn die Menschen an. Peron begann zu schwitzen. Und wenn ein Sonnenforscher zu schwitzen beginnt, muss das nichts Gutes verheißen. Das ahnten die Menschen und ein ängstliches Raunen ging durch die Menge. Sie wurden ungeduldig. Und Peron schwitzte noch mehr. Wahrscheinlich würden sie ihn lynchen, wenn er ihnen jetzt keine plausible Lösung präsentierte. Und da schoss es aus seinem Mund. Kurz. Und kaum verständlich. »Die Sonne kommt näher!«
Verständnisloses Schweigen in der Menge. »Was?«, fragte einer. »Wie meinen Sie das?«, ein anderer. »Was genau soll das heißen?«, ein Dritter, der gleich merkte, dass eine veränderte Formulierung der gleichen Frage auch niemandem weiterhalf.
Ganz langsam wiederholte Doktor Peron die Antwort, in der Hoffnung, dass sie ihn selbst auf einen weiteren Gedanken brachte: »Die Sonne kommt näher.« Dann nickte er und wartete auf weitere Reaktionen. Schweigen. Nachdenken.
»Aber die Sonne ist doch unbeweglich«, konterte schließlich der unglückliche Dritte von vorher, der sich damit endgültig den Zorn Perons zuzog.
»Was? Was weißt du schon von der Sonne? Nichts weißt du! Du Wurm!« Peron sah ihm tief in die Augen. Wahrscheinlich weil er selbst nicht weiterwusste und hoffte, dass ihm irgendeine Reaktion weiterhelfen könnte.
Eingeschüchtert gab der Mann zurück: »Aber warum sollte sie?«
»Warum sollte sie was?«
»Na, sich plötzlich bewegen?«
Peron schaute fassungslos. Er schwitzte jetzt am ganzen Leib und schluckte aufgeregt Luft. »Warst du noch nie verliebt, du Nichtsnutz?«, rief Peron aus, der wieder nicht so genau wusste, warum er das gesagt hatte, und selbst darauf wartete, dass noch etwas aus seinem Munde käme. Wieder Schweigen. Und Peron ahnte, dass sich die Menschen mit dieser Antwort nicht zufriedengeben würden.
Inzwischen war auch Johnny neugierig geworden.
Von Weitem hatte er die Menschen beobachtet, wie sie sich um diesen alten Mann kreisten. Er fragte sich schon längere Zeit, was da drüben wohl vor sich ging. Gemütlich schlenderte er hinüber und blieb ganz hinten in der schweigenden Menge stehen, die einen schweigenden alten Mann anstarrte. Johnny gefiel dieses Bild, und er wollte soeben sein braun gebranntes Gesicht wieder der Sonne zuneigen, als plötzlich der alte Mann wie elektrisiert aufsprang, auf ihn zeigte und schrie: »Die Sonne ist in diesen Mann verliebt!« Ja, es herrschte seit Tagen eine Affenhitze, aber als sich die Menge fragend in Johnnys Richtung drehte, lächelte dieser nur und nickte den Anwesenden zu. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, um was es hier eigentlich ging.
Abermals ging ein Raunen durch die Menge. Die ersten kleinen Grüppchen formierten sich zur Diskussion. »Könnte schon sein.« – »Das würde erklären, warum sie näher kommt.« – »Typisch Frau!« – »In Frankreich heißt es aber le soleil, dort ist sie also männlich.« »Vielleicht ist sie schüchtern.« – »Die Sonne schüchtern, so ein Schwachsinn!« – »Aber wie kann sich die Sonne bewegen?« – »Hast du vielleicht eine bessere Erklärung?« – »Eben!« – »Tatsache ist: Es muss etwas passieren!« – »Niemand kennt die Sonne so gut wie der alte Peron.« – »Es ist der einzige Weg!« – »Ja, meine Felder sind völlig ausgedörrt!« – »Wir werden alle verhungern!« – »Und die Klimaanlagen kosten einen Haufen Geld!« – »Ist ja auch ein attraktiver junger Mann. Das kann man schon verstehen.« – »Teufelswerk!« – »Wir müssen ihn loswerden!« – »Oder als Gott verehren!« »Ich verehre doch keinen Touristen!« – »Warten wir auf einen Vorschlag von Peron.«
Johnny Weißmüller hatte noch immer nicht den blassesten Schimmer, um was es hier ging. »Lieben Sie die Sonne, Mister?«, forderte ihn ein untersetzter Bauer mit großer Schnapsnase heraus.
»Ja, schon. Ich liebe die Sonne sehr. Sonst wäre ich ja nicht hier«, antwortete Johnny im Glauben, den Bewohnern damit zu schmeicheln. Ein Raunen ging durch die Menge, und die meisten zogen sich wieder in kleine Diskussionsgrüppchen zurück.
»Ja, aber wenn er sie auch liebt, dann sind wir verloren!« – »Ja, dann gibt es keinen Grund, warum sie innehalten sollte.« – »Typisch Frau!« – »Ach, halt doch die Klappe!« – »Was tun wir jetzt?« – »So hört dieser Sommer nie auf!« – »Schlimmer. Es wird heißer und heißer werden.« – »Was können wir tun?« – »Jemand muss die Sonne zur Vernunft bringen.« – »Wir werden alle verglühen!« – »Jemand muss mit ihr reden.« – »Und was sagen?« – »Na, dass auch andere Mütter schöne Söhne haben oder so.« – »Und was soll das bringen?« – »Vielleicht ist sie einsam.« – »Die Sonne? Du spinnst wohl.« – »Es kann nicht sein, dass wir wegen einer sinnlosen Liebschaft alle untergehen.« – »Ja, die Liebe.« – »Was, die Liebe? Halt doch die Schnauze!« Und so ging es minutenlang. Die Stimmung wurde zunehmend angespannter.
Johnny stand mit einem großen Fragezeichen im Gesicht daneben. Als er Doktor Peron Hilfe suchend ansah, drehte sich dieser mit einem leisen Seufzer weg. Als er wieder zurück an seinen Strandplatz gehen wollte, zwangen ihn die Einheimischen, in einer nahen unterkühlten Hotellobby Platz zu nehmen. Schließlich durfte man die Sonne jetzt nicht auch noch herausfordern. Die Situation war schon gefährlich genug.
Sie schoben Johnny an die Bar, wo er von den Kellnern nur sehr widerwillig bedient wurde. Die Touristen ignorierten ihn, so gut es ging, und die Einheimischen warfen ihm böse Blicke zu. Als er einen Tequila Sunrise bestellte, setzte aufgeregtes Murmeln ein, was sich Johnny nicht erklären konnte. Also strich er genussvoll über seine braun gebrannte Haut und betrachtete im Spiegel hinter der Bar stolz das Ergebnis seines Sonnenbades. Bald müsste er wieder heimfahren. Nicht, dass er Natalie nicht vermisste, aber er begann schon im Geiste die Tage ohne Sonne zu zählen. Natalie würde ein brauner Teint gut stehen. Doch sie bevorzugte blasse Haut und vermied es wenn möglich nach draußen zu gehen. Wie auch immer. Er liebte sie. Und wenn er an die seltsamen Vorkommnisse des heutigen Tages dachte, dann entwickelte sich langsam die Ahnung, dass es unter Umständen besser wäre, möglichst bald abzureisen. Sonne hin oder her.
In der Zwischenzeit hatten sich die Einheimischen wieder um Doktor Peron geschart. Energisch – so weit das die Hitze zuließ – versuchten sie auf ihn einzuwirken, damit er wiederum auf die Sonne einwirkte.
»In solche Dinge mische ich mich nicht ein. Liebe ist eine delikate Privatangelegenheit, und mein Anstand verbietet mir auch nur die kleinste Indiskretion«, sagte er und gab sich damit edler, als er war. Schließlich hatte er keinen blassen Schimmer, wie er mit der Sonne Kontakt aufnehmen sollte. Aber die Gruppe ließ nicht locker: »Irgendjemand muss mit ihr reden, Doktor Peron! Und wer soll das sonst sein?« Peron deutete in Richtung Rathaus: »Der Bürgermeister!« Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Der Bürgermeister war zwar beliebt, aber nur wegen seiner Trinkfestigkeit gewählt worden. Nun konnte man aber die Sonne nicht unbedingt unter den Tisch trinken. Noch dazu wüsste der Bürgermeister ebenfalls nicht, wie er mit der Sonne in Kontakt treten sollte. Er brachte ja nicht einmal die traditionelle Neujahrsansprache zustande. Das Murmeln wurde lauter. Und das Flehen eindringlicher. Irgendwann fielen Doktor Peron auch keine Argumente mehr gegen seine eigene Eitelkeit ein. Also sagte er: »Sei es drum, von mir aus rede ich mit der Sonne. Aber versprechen kann ich euch nichts.« Die Menge applaudierte und Doktor Peron bat darum, dass er während des Sonnenuntergangs allein am Strand gelassen würde.
Die Einheimischen versammelten sich mit den Touristen in den unterkühlten Hotellobbys und beobachteten von dort aus das Geschehen. Johnny blieb an der Bar sitzen und wunderte sich. Er wurde von niemandem weiter beachtet – und wenn, dann warf man ihm vorwurfsvolle Blicke zu. Johnny verstand die Welt nicht mehr und beobachtete das Geschehen aus sicherer Entfernung. Die Blicke aller hafteten gespannt auf Doktor Peron, der wieder zu einem skandinavischen Findling mutiert war. Die Sonne ging unter. Es wurde dunkel. Und Doktor Peron verharrte in seiner stoischen Starre. Niemand traute sich vor die Tür. Alle schwiegen. Nur der Bürgermeister machte lauthals darauf aufmerksam, dass ein Gentleman jetzt, da die Sonne untergegangen war, endlich trinken dürfte. Der Bürgermeister war kein Gentleman.
Stundenlang blieb der Doktor draußen sitzen und rührte sich nicht. Keiner wagte es, ihn zu stören. Gegen Mitternacht wurden allerdings die ersten Zweifler laut. Wahrscheinlich, weil sie betrunken waren. Die lautesten unter ihnen vermuteten, Doktor Peron sitze nur deshalb so lange da draußen, weil er sich überlegte, welchen Bären er ihnen als Nächstes aufbinden könnte. Doch diese subversive Minderheit wurde von den anderen Betrunkenen mehrheitlich ignoriert. »Bären aufbinden? Was soll das überhaupt heißen?«, meldete sich der Dorfetymologe zu Wort und machte auf die inflationäre Verwendung solcher Floskeln seit dem Beginn der Hitzewelle aufmerksam. Als den meisten diese Diskussion zu langweilig wurde, beschloss man, Doktor Peron am Strand aufzusuchen.
Die Gruppe bildete einen Kreis um den alten Mann, der in sich zusammengesackt im Türkensitz da saß. »Türkensitz? Was soll das heißen?«, fragte der Etymologe – wurde aber von den anderen sofort wieder zum Schweigen gebracht. »Ich glaube, er ist eingeschlafen«, flüsterte der Dritte von vorhin, der sich den Zorn des Doktors zugezogen hatte. Die anderen murmelten vor sich hin. »Ja, ich glaube auch.« – »Was sollen wir jetzt tun?« – »Vielleicht will ihn jemand wecken?« – »Das ist nur eine Trance, wie soll er sonst mit der Sonne sprechen?« – »Ach Schwachsinn, der alte Sack schläft doch. Das kann ja jeder sehen.« – »Ich glaube, er schnarcht ganz leise!« Schweigen. Alle hörten hin.
Bis der kettenrauchende Bürgermeister einen Hustenanfall bekam und Peron aufschreckte. Verwirrt sah er sich um. »Was wollt ihr denn hier?«
Die Menge starrte ihn an. »Nun – wir wollen erfahren, wie Ihr Gespräch mit der Sonne verlaufen ist.« Plötzlich durchzuckte es Peron, der dieses Thema schon wieder verdrängt hatte. »Ach ja, die Sonne. Nun, es sieht nicht gut aus.«
Verunsichertes Raunen. Gemurmel. »Was heißt nicht gut?«
Doktor Peron sah dem fragenden jungen Mann ins Gesicht. Zuerst überlegte er, ob er aus strategischen Gründen das Wort »gut« genauer definieren sollte. Aber als er das fragende Gesicht Johnnys erkannte, sparte er sich diesen rhetorischen Ausflug. »Die Sonne ist vernarrt in Sie, mein Herr.«
Johnny fühlte sich geschmeichelt und glaubte, der charmante ältere Herr meinte seinen unwiderstehlichen Teint.
»Die Sonne ist so verliebt in Sie, dass sie nicht daran denkt, von ihrem Vorhaben abzulassen.« Jetzt war Johnny irritiert. »Welches Vorhaben?«, fragte er Peron, an dessen Lippen fünfzig weitere Personen klebten. »Möglichst nah bei Ihnen zu sein. Ja, sie sprach sogar davon, dass sie für einen Kuss alles gebe!«
Aufgeregtes Murmeln baute sich auf, das wie eine Welle am Felsen brach und zu panischem Zischen wurde.
»Wir wissen, was das bedeutet!«
Johnny verstand nur Bahnhof. »Aber Doktor – wie können wir das verhindern?«
Peron schüttelte den Kopf und seufzte: »Liebende kann man nicht aufhalten. Selbst, wenn das die Apokalypse bedeutet.«
Die Einheimischen standen kurz davor, den armen Johnny zu lynchen. Und als sich der Kreis um ihn enger schloss, bekam er es ernsthaft mit der Angst zu tun. Doktor Peron erkannte, was vor sich ging, und hob drohend die Hand. »Lasst den Mann in Ruhe. Er kann ja nichts dafür. Und wenn ihr ihm ein Haar krümmt, dann Gnade uns Gott vor der Rache der gekränkten Sonne! Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren!«
In diesem Moment musste sich der Etymologe übergeben, was aber niemanden hinter dem Ofen hervorholte. Alle warteten auf eine Ansage von Doktor Peron, der gerade begriffen hatte, in welch missliche Lage er den Jungen gebracht hatte. Johnny merkte, dass er es hier mit ganz eigenen Gesetzen zu tun hatte, und hielt sich deshalb nicht lange mit Fragen der Logik auf. Außerdem war ihm nicht entgangen, dass Doktor Peron der einzig relevante Gesprächspartner war. Also wandte er sich ihm zu: »Was kann ich tun, Sir?«
Doktor Peron lächelte milde und verstand, dass man sich gemeinsam aus diesem Schlamassel befreien musste. Schließlich war der ganze Unsinn ja auf seinem Mist gewachsen. Auch wenn die Hitze das Ihre dazu beigetragen hatte. »Nun. Es gibt nur einen Weg, mein Freund. Und ich nehme an, dass Ihnen die Problematik bekannt ist?«
Johnny nickte artig, auch wenn er dies hier für eine Ansammlung von ausgemachten Vollidioten hielt. »Gut«, sagte Peron mit einem Nicken. »Es gibt nur einen Weg. Sie müssen der Sonne die Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst machen.«
Johnny stand da und versuchte vor allem körperlich Haltung zu bewahren. »Und wie soll ich das anstellen?«
Peron lächelte das senile Lächeln des alten Weisen. »Liebe, mein Freund, funktioniert manchmal ausschließlich nach dem Prinzip Hoffnung. Und in Ihrem Fall haben Sie der Sonne ein wenig zu viel davon gemacht, finden Sie nicht? Sie müssen verstehen. Die Sonne ist eine alte, einsame Frau!«
»In Frankreich ein Mann!«, konterte einer aus der Klugscheißerfraktion.
Johnny begriff gar nichts, nickte aber artig. »Es ist Zeit, dass Sie der Sonne klarmachen, dass Sie nichts für sie empfinden. Dass sie sich keine Hoffnung zu machen braucht. Und zwar so unmissverständlich, dass auch nicht der kleinste Schimmer davon übrig bleibt – denn bereits ein Funke Hoffnung sät größte Anstrengungen, das Blatt doch noch zu wenden. Können Sie mir folgen?« Johnny nickte schweigend, wusste aber noch immer nicht, wie er dem Lynchvorhaben der Einheimischen entgehen sollte. »Geben Sie die Sonne auf, junger Mann. Und zwar komplett. Fahren Sie nach Hause. Und meiden Sie ab jetzt den Sonnenschein. Leben Sie in der Nacht. Schlafen Sie untertags. Zeigen Sie der Sonne, dass ihre Liebe aussichtslos ist! Haben Sie mich verstanden?«
Johnny nickte. Die Einheimischen nickten.
»Denken Sie an die Menschheit. Denken Sie an die Katastrophe, für die Sie verantwortlich wären. Nur ein unvorsichtiger Moment und wir stehen alle am Rande des Abgrunds. Das müssen Sie sich vor Augen halten. Und jetzt gehen Sie. Reisen Sie ab, bevor es wieder hell wird!« Johnny blickte in die erregte Menge, der sich inzwischen auch die Touristen angeschlossen hatten. Kein Zweifel. Es wäre keine gute Idee, auch nur eine Sekunde länger hierzubleiben. Eiligen Schrittes ging er in Richtung Hotel, warf seine Sachen in den Koffer, lief zum nächsten Taxistand und verließ fluchtartig die Insel.
Innerhalb weniger Tage fielen die Temperaturen auf der Insel unter null. Ein Rekordwinter bahnte sich an. Ein Rekordwinter, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Experten sprachen sogar von einer neuen Eiszeit. Die Insel wurde aus den Touristenkatalogen gestrichen und fortan als Schattenzone bezeichnet. Die Klimaforscher standen vor einem Rätsel. Wie war es möglich, dass sich auf einer derart winzigen Insel das Klima so rasant änderte? Johnny verstand noch immer nicht. Blieb aber fortan zu Hause bei Natalie, die ihn auch ohne braunen Teint liebte.