Wie jedes Jahr, dachte Joe Remick, als er durch das Schneegestöber in der weihnachtlichen Geschäftsstraße lief. Fast geräuschlos hetzten Passanten an ihm vorbei. Ihre Blicke paralysiert. Unnachgiebig rempelten sie sich von Kaufhaus zu Kaufhaus. Immer auf der Flucht vor einem betrunkenen Weihnachtsmann, der ihnen eine weitere Spendendose ins Gesicht halten wollte, und einem der allgegenwärtigen Schnäppchenangebote, das den letzten Cent aus ihren Portemonnaies quetschen sollte. Wie jedes Jahr, dachte Joe Remick, als er die Tür zum Green Door aufsperrte, um die Schwindel erregende Meute hinter sich zu lassen. Dahinter empfing ihn Stille. Auch wie jedes Jahr.

Wenn er am 22. Dezember durch diese Tür ging, wurde Joe beinahe festlich zumute. Er atmete tief durch und genoss die Ruhe vor dem Sturm. Diese zehn Minuten des Innehaltens waren für ihn Weihnachten. Jedes Jahr, wenn er mit den Vorbereitungen zum gesetzten Galadinner des Green Door begann. Eine Veranstaltung, auf die er sich stets freute wie ein kleines Kind auf Geschenke. Auch wenn er über dieses Dinner mit niemandem sprechen durfte. Das traf ihn immer noch mitten ins eitle Herz. Aber eine solche Möglichkeit konnte man als Koch unmöglich auslassen, selbst

Noch fünf Minuten, dann würde Lachman auftauchen. Das Green Door schwor auf ihn. Schließlich musste man bei einer so diskreten Angelegenheit wie dem Weihnachtsdinner dem Lieferanten bedingungslos vertrauen können. Weder Veranstalter noch Gäste waren daran interessiert, dass etwas über dieses exquisite Vergnügen an die Öffentlichkeit drang. Nachdenklich überflog Remick noch einmal die diesjährige Einladung.

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Green Door freut sich, Sie am 22. Dezember zu unserem traditionellen Weihnachtsdinner einzuladen. Auch heuer werden wir Ihnen sensationelle kulinarische Raritäten bieten. Für die Creation zeichnet wie immer Starkoch Joe Remick verantwortlich. Der Preis beträgt trotz des immer größer werdenden Organisationsproblems traditionell 5000 Dollar.

Wie jedes Jahr bitten wir Sie, diese Einladung vertraulich zu behandeln. Die Gründe dürften ausreichend bekannt sein und sollten keinesfalls in einer schriftlichen Einladung erläutert werden. Freundlich verbleiben wir mit epikureischen Grüßen:

Ihr Team des Green Door

Jedes Jahr beobachtete Remick diese selbstgefällige Horde dabei, wie sie seine Meisterwerke respektlos in sich hineinvöllerte. Meisterwerke, von denen nie jemand erfahren durfte.

Remick schreckte auf, als es läutete. Das musste Lachman sein. Remick mochte die meisten Menschen nicht besonders, aber an Lachman hatte er sich irgendwie gewöhnt. Ein komischer Kauz, aber Vollprofi. Das wusste Remick zu schätzen. Auch wenn ihn dessen Macken nervten.

»Setzen Sie sich, Remick! Sie werden sonst vor Freude umkippen. Ronnie Lachman hat dieses Jahr den Vogel abgeschossen. Und zwar im wahrsten Sinne des

Jedes Jahr versuchte Lachman sich selbst zu toppen. Als mindeste Voraussetzung musste die Ware auf den Roten Listen gefährdeter Tierarten stehen. Lachmans Ehrgeiz aber war es, die wirklich Letzten ihrer Art zu liefern. Er nannte dies dann stolz »Einzelstücke«. Aber das war ihm erst einmal gelungen. Mit besagten Elfenbeinspechten. Damals stand Lachman hinter Remick in der Küche, weil ihn plötzlich die panische Angst befiel, Remick könne den Braten verschmoren lassen und sein Meisterstück beschädigen. Inzwischen aber hatten die beiden Vertrauen zueinander. Remick, dass der Lieferant gute Ware besorgte, und Lachman wiederum, dass der Meisterkoch auf seine Arbeit noch eins draufsetzte. Man konnte durchaus von so etwas wie einer Männerfreundschaft sprechen. Auch wenn die beiden sich außer zu diesem Anlass nie zu Gesicht bekamen.

»Haben Sie ein Einzelstück für mich?«

Lachman sah ihn an und stellte das Kaugummikauen ein.

Er setzte diesen seltsamen Blick auf, der Remick an weihnachtliche Schnäppchenjäger erinnerte, wenn ihnen jemand das letzte Stück vor der Nase wegschnappte. »Nein. Kein

»Nicht schlecht, Lachman. Um welchen Vogel handelt es sich?«

Sein Gegenüber hob die Hand zu einer vertröstenden Geste. »Vorher will Ronnie Lachman einen Drink.« Das war eine seiner Macken. Er genoss es, Remick hinzuhalten. Für diesen Moment hatte er die letzten Monate gearbeitet. Das war seine Show. Und die wollte er jetzt auskosten.

Er stellte Lachman wie jedes Jahr einen Glenfiddich aus der legendären 37er-Collection vors Gesicht, um danach eine sehr ausgeschmückte Fassung des Abenteuers über sich ergehen zu lassen. »Waren Sie schon mal in Neuseeland?«

Remick schüttelte gelangweilt den Kopf.

»Ein schönes Land, dieses Neuseeland. Das sage ich Ihnen.«

Dreißig Minuten später hatte es Remick hinter sich. Lachmans abenteuerliche Geschichte bot das Hintergrundgeräusch zu seinen eigenen Gedanken. Während der Lieferant von den zugekifften Tierschützern erzählte, dachte Remick an seine Ex-Frau. Er fragte sich, warum er sich seit der Scheidung ausgerechnet sie beim Onanieren vorstellte. Liebte er sie noch? Oder stellte man sich beim Wichsen immer das vor, was man nicht kriegen konnte?

Lachman protzte gerade mit seinen Schmiergeldaktionen, als Remick an seine Mutter dachte, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und die auch heuer wieder vergeblich auf

»Der Schmuggel der Ware war dann ein Klacks«, schloss Lachman seine selbstverliebte Abschweifung ab, als Remick grübelte, ob sich die kleine Sue trotz seiner Tiraden von letzter Nacht noch mal von ihm einkochen lassen würde.

Warum hasste er die Frauen, mit denen er schlief, immer im Nachhinein?

»Remick?«

»Ja?«

Lachman zwinkerte ihm zu. »Das Wichtigste in meinem Geschäft ist das Gespür. Ich kann sie förmlich riechen, diese Viecher, auch wenn sie sich in den entlegensten Winkeln dieser Welt verstecken.«

Remick sah ihn gedankenverloren an. »Haben Sie nie ein schlechtes Gewissen?«

»Wollen Sie mich testen?« Der Lieferant sah ihn irritiert an.

Er spürte, dass irgendetwas anders war als sonst. »Ich bin ein Profi. Das sollten Sie inzwischen wissen.«

Remick nickte. Eine beklemmende Stille hing zwischen dem ausgetrunkenen Glas und Lachmans Warten auf Applaus.

»Ja, wie auch immer. Ich hole mal die Ware.« Eilig stand Lachman auf. Er schien ein wenig beleidigt, weil Remick

Nachdenklich sah er Lachman hinterher und bemerkte erst jetzt, wie stark der Lieferant seit letztem Dezember gealtert war. Auch an Remick war das Jahr nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte sich zwar mit Arbeit betäubt. Aber in untätigen Momenten tauchten die alten Geschichten wieder auf. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, einen Seelenklempner aufzusuchen. Aber Remick tat sich schwer, mit irgendjemandem zu reden. Das war schon immer sein Problem. »Du kriegst dein verdammtes Maul nicht auf!«, hatte seine Ex-Frau Julie gesagt. Und wahrscheinlich war das der Grund für das Scheitern ihrer Beziehung. Für das Scheitern jeder Beziehung.

 

Remick fühlte sich seltsam müde. Zu müde, um die Rolle des begeisterten Publikums zu spielen. Lachman tat ihm den Gefallen und kürzte das altvertraute Prozedere deshalb ab. »So. Zwölf Stück. Hier der Lieferschein.« Er stellte eine große Holzkiste vor Remicks Füße. »Bitte um ein Autogramm. Danke. Also, Remick … Schöne Weihnachten.«

»Ja, schöne Weihnachten. Und bis nächstes Jahr.«

Lachman sah ihn schweigend an. Dann, plötzlich, spielte ein überlegenes Lächeln auf seinen Lippen. Was wusste er, was Remick noch nicht wusste?

Er nickte und verschwand im Schneegestöber.

Komischer Kauz, dieser Lachman. Und trotzdem: Irgendwie beschlich Remick das Gefühl, ihn nie wiederzusehen. Merkwürdig.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Karton zu, den er langsam öffnete. Wie jedes Jahr ein unvergleichbarer Adrenalinschub. Die Pappe knarrte. Die Viecher reagierten aufgeregt. Licht fiel in den Karton. Zwölf Köpfe sahen den Koch fragend an. Stille. Joe Remick musste ob des lächerlichen Bildes, das sich ihm bot, lächeln. »Good morning, ladies and gentlemen«, begrüßte er die seltsamen Vögel, die ihn noch immer debil anglotzten. »Welcome to America.«

Komisch. Er hätte schwören können, dass die Vögel ihm freundlich zunickten. Remick schüttelte den Kopf und sah noch einmal hin. Nein, jetzt starrten sie ihn einfach wieder

debil an und warteten, was als Nächstes passierte. Seltsame Viecher, dachte Remick, als er den Karton wieder schloss. Saßen einfach nur da und glotzten ihn an. Kein Wunder, dass ihnen das Aussterben drohte. Sie würden ihm jedenfalls keine Probleme bereiten. Also begann Remick, sich Gedanken über die Zubereitung zu machen.

 

Er stand in der Küche, als plötzlich aus dem Nebenraum eine seltsam gedämpfte Stimme ertönte.

»Sir, dürften wir Sie mit einer Frage belästigen?«

»Sir?«

Es hatte sich doch nicht etwa ein Schnäppchenjäger in seinen kulinarischen Elitetempel verirrt?

»Sir, entschuldigen Sie, wir wollen Sie wirklich nicht belästigen, Sir?«

Das reichte nun aber wirklich. Remick ging langsam zum Eingangsbereich. Er versuchte dabei auf lächerliche Weise bedrohlich zu wirken. Aber außer den paar Möbeln und dem Karton mit den Viechern war der Raum leer. Vielleicht knallte er jetzt durch? Er hatte schon längere Zeit Angst, an einer Geisteskrankheit zu leiden. Die letzten Wochen hatten ihn seltsame Träume gequält. Diese Inkarnationsfantasien, in denen er ständig die Gestalt von gejagten Tieren annahm. Erst gestern Nacht diskutierte er als Gazelle mit einem Panther, der ihn dann aufgrund eigener rhetorischer Defizite auffraß. Es begann ihn zu irritieren, dass es in diesen Streitgesprächen immer um seine Vergangenheit ging. Manchmal ging es um seine Mutter und seinen Sohn. Und seine Frau in Alligatorgestalt, die ihn, den fleißigen Biber, erst letzte Woche in tausend Stücke zerfetzte. »Sir. Wir sind hier. Im Karton.«

Remick erschrak. Langsam ging er auf den Karton zu. Ein Blick links. Ein Blick rechts. Ein Blick nach oben. Nichts. Zögerlich nahm er den Deckel vom Karton.

»Good morning, America!« Die zwölf Vögel glotzten ihn lächelnd an und warteten auf Reaktion. Er glotzte zurück.

»Wenn Sie uns die Frage gestatten: Wohin hat man uns gebracht?«

Remick runzelte die Stirn, wie man die Stirn runzelt, wenn ein freundlicher Vogel diese Frage stellt.

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte der Vogel.

»Amerika«, sagte Remick, der noch mal prüfte, ob ihn jemand dabei beobachtete. Er schaute nach rechts, nach links, nach oben. Und dann wieder in den Karton.

Der Rädelsführer blickte in die Runde und wiederholte: »Amerika!« Die anderen nickten zufrieden und glotzten synchron wieder zu Remick. »Das ist sehr nett. Danke sehr.«

Remick war verwirrt und wusste beim besten Willen nicht, was er sagen sollte. Also schwieg er.

»Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nicht?«, bemühte sich der Vogel, das Gespräch am Laufen zu halten.

Remick nickte. »Sie können sprechen?«, fragte er schließlich.

Der Vogel sah ihn verdutzt an. »Ja, natürlich können wir sprechen. Was einem in der Tierwelt aber auch nicht unbedingt weiterhilft, das können Sie mir glauben.« Plötzlich machte der Vogel seltsame Hüpfbewegungen, kam aber nicht vom Fleck. »Sir, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich aus dem Karton zu heben? Ich würde wahnsinnig gerne das sehen, was Sie als Amerika bezeichnen.«

»Jetlag?«

»Und nachtaktiv. Aber wahrscheinlich nur eine Frage der Gewohnheit«, sagte der Vogel, während er sein Gefieder kräftig durchschüttelte.

Ein plötzlicher Reflex nötigte Remick dazu, dem Vogel seine Hand entgegenzustrecken: »Remick. Joe Remick.« Der Vogel sah ihn freundlich, aber verwirrt an.

»Das ist mein Name. Joe Remick. Und Sie sind …?«

»Wir sind Kakapos. Aus Neuseeland. Ein gewisser Mister Lachman war so freundlich, uns in diesen Karton zu stecken.«

»Und Sie fragen gar nicht, warum?«, fragte Remick erstaunt.

»Warum?«, gab der Vogel ebenso erstaunt zurück. Spätestens jetzt wusste Remick, dass dieser Kakapo sogar für Vogelverhältnisse völlig bescheuert war. Da half die Tatsache, dass er sprechen konnte, auch nichts.

»Die Kakapos sind vom Aussterben bedroht«, erklärte Remick.

»Papperlapapp.« Der Vogel sah ihn milde lächelnd an. »Wir sind doch hier. Oder?«

»Ja, schon, aber es gibt nur noch sechsundachtzig Stück von Ihnen.«

Der Vogel watschelte durch den Raum. Vor einem Tisch setzte er wieder zu Hüpfbewegungen an. »Mister Remick, wären Sie vielleicht so freundlich?« Remick hob ihn auf den Tisch. Ein begeistertes: »Amerika!«

»Sagen Sie, können Sie nicht fliegen? Sie sind doch ein Vogel.«

»Fliegen? Wozu?«

»Ja, zum Beispiel, um vor Ihren Feinden zu flüchten.«

»Feinde? Papperlapapp.«

Der Vogel sah sich um.

»Amerika«, hauchte er noch einmal begeistert in den leeren Speisesaal.

»Ihnen ist aber klar, dass Sie in Kürze in meiner Pfanne landen?«

Eine Anmerkung, die Remick im selben Moment unpassend formuliert erschien. Aber irgendwie war es ihm ein Bedürfnis, den Vogel über seine missliche Lage aufzuklären.

»Pfanne? Das klingt doch gut. Sehr gut.« Der Vogel setzte wieder sein japanisches Reisegruppengesicht auf.

»Sie verstehen nicht. Ich werde Sie braten und eine Gruppe degenerierter Gäste wird Sie genüsslich verspeisen.«

Der Kakapo nickte zufrieden. »Sehr gut. Man hat wirklich für alles gesorgt.«

Inzwischen war sich Remick nicht mehr sicher, ob der Kakapo wirklich verstand, was er sagte, oder Sätze nur phonetisch

»Ich verstehe Ihre Aufregung nicht ganz. Ich spreche für die Gruppe, wenn ich sage: Pfanne klingt gut.«

Remick nickte. »Gut. Dann hole ich jetzt das Küchenmesser und wir bringen es hinter uns.«

Der Kakapo lächelte. »Ich müsste zwar noch mit der Gruppe Rücksprache halten, aber das ist reine Formalität. Sie können davon ausgehen, dass das in Ordnung geht.«

Remick ging wütend in die Küche. Als hätte er den verdammten Kakapo gefragt, ob das in Ordnung ginge! Niemand interessierte sich für die Meinung eines unterbelichteten Vogels! Kurzen Prozess und ab in die Pfanne. Diese Viecher waren eine Schande für die Evolution. Man konnte sie ruhigen Gewissens verspeisen. Der Natur war damit nur ein Gefallen getan. Remick nahm ein Messer und ging zurück.

»Warum sind Sie eigentlich so wütend?«, erkundigte sich der Vogel unverändert höflich.

Genau. Warum war Remick eigentlich so wütend?

»Könnte es sein, dass Sie gar nicht auf uns wütend sind?«

Remick stand mit dem Messer direkt über dem Vogel. Dieser zeigte sich unbeeindruckt und blieb ruhig.

»Wie meinen Sie das?«

Er konnte es noch immer nicht glauben, dass er dieses Gespräch führte.

»Nun, mir scheint, dass Sie die Wut, die Sie auf sich selbst haben, jetzt auf uns projizieren.«

»Schwachsinn. Sie landen in meiner Pfanne. Das ist rein professionell.«

Der Vogel schüttelte den Kopf. »Na, ganz unemotional scheinen Sie mir die Sache aber nicht anzugehen. Ich will Ihnen natürlich nicht zu nahe treten.«

»Dann halten Sie den Schnabel!«

Der Vogel gehorchte und sah ihn lächelnd an. Remick hielt das Messer zittrig in der Hand. Zum Ausholen bereit. Aber irgendetwas hemmte ihn. Warum konnte er den Vogel nicht einfach schlachten, wie er schon Tausende von diesen Viechern der Pfanne zugeführt hatte?

»Sir, Sie zögern?«, sprach der Vogel.

»Und Sie nerven!«, stieß Remick aus, als er das Messer sinken ließ. Warum? Hatte er Mitleid? Nein.

Dachte er an das Aussterben der Kakapos? Nein.

Fiel es ihm schwer, einen völlig Bescheuerten, der offensichtlich nichts verstand, zu töten? Vielleicht. Obwohl er den Eindruck nicht loswurde, dass dieser Kakapo genau verstand, um was es hier ging. Vielleicht sogar besser als Remick selbst.

»Ich bin nicht wütend auf mich selbst«, sagte Remick mehr zu sich als zu seinem Gegenüber.

»Na, dann cheerio! Voran, voran!«, rief der Vogel in seinem provokant milden Ton.

Genau: Voran, voran! Remick hob das Messer, kniff die Augen zu und versuchte seine gesamte Energie in die Hand zu leiten. Jetzt! Jetzt! Jeeeeeetzt!

Starr stand Remick vor dem Vogel. Er brachte es einfach nicht fertig. In wenigen Minuten würde der Lehrling kommen. Was für eine Blamage! Er konnte schon das Gerede hören. »Joe Remick ist am Ende.« »Joe Remick geht vor einem Vogel in die Knie.« »Joe Remicks neue vegetarische Küche!« Kalter Schweiß trat auf seine Stirn.

Der Vogel stand weiter unbeeindruckt vor ihm. »Und jetzt, Joe Remick? Sie werden doch nicht erwarten, dass wir uns selbst der Pfanne zuführen?«

Remick steckte das Messer weg. »Ich brauche einen Whisky.«

»Ich will Sie ja nicht unter Druck setzen, Mister Remick, aber Alkohol erscheint mir jetzt kontraproduktiv. Finden Sie nicht, dass Sie einen klaren Kopf behalten sollten?«

Remick stürzte den Inhalt des Glases in den Rachen, als könne er sich damit in ein neues Leben beamen. »Was wollen Sie von mir?« Remick begann zu ahnen, dass hinter dieser merkwürdigen Begegnung so etwas wie ein Plan steckte. Schließlich war Weihnachten und vielleicht hatte ihm jemand einen Engel der Vergeltung geschickt?

»Mister Remick, wir wollen nichts. Absolut nichts.«

Das war es. Genau das. Es war diesen Vögeln egal, ob sie ausstarben, ob sie lebten, ob sie in Amerika waren oder ob sie in seiner Pfanne landeten. Sie erwarteten nichts von ihm, sondern ergaben sich vollkommen ihrem Schicksal. Und damit konnte Remick nicht umgehen.

Er war es gewohnt, gefordert zu werden. Seine Frau forderte jeden Monat höhere Alimente. Sein Sohn forderte Liebe. Seine Mutter forderte Nähe. Seine Freundin forderte … keine

Kalter Schweiß auf Remicks Stirn. Lachman!

»Mister Remick, ich will wirklich nicht ungeduldig erscheinen, aber irgendwie haben wir das Gefühl, dass die Situation ins Stocken gerät.«

Er bedeutete dem Vogel, kurz innezuhalten. Dann zückte er panisch das Telefon. Er wählte Lachmans Nummer. Mobilbox. Nach dem dritten Mal hinterließ er eine Nachricht. »Lachman, Sie Gauner. Sie können die verdammten Viecher wieder abholen. Hören Sie. Die taugen nichts. Das Dinner fällt aus. Sie haben versagt!«

Doch Lachman würde nicht zurückrufen. Nicht heute. Nicht morgen. Und auch nicht in einem Jahr.

Remick war überfordert. »Sie … Sie können gehen«, sagte er. »Es ist mir aus unerklärlichen Gründen nicht möglich, Sie der Pfanne zuzuführen.«

Der Vogel ging langsam auf ihn zu und rieb sein Gefieder am Fuß des Koches. Arm hatte er ja keinen, den er um den armen Remick legen konnte.

»Ein gutes Herz. Scheiße. Ich kann es nur nicht ertragen, wenn man mich nicht ernst nimmt.«

»Wir nehmen Sie ernst.« Der mitleidige Tonfall des Kakapos war eine einzige Provokation. »Mister Remick. Darf ich Sie um etwas bitten?«

Remick sah ihn verdutzt an.

»Sie werden verstehen, dass wir ortsunkundig sind. Wo können wir hier etwas Nahrung finden?«

Remick schüttelte den Kopf, lachte laut auf und setzte dann ein schicksalsergebenes Gesicht auf. »Was darf es sein?«, fragte er entnervt.

»Das überlassen wir ganz Ihnen.«

Für was hielt sich dieser verdammte Vogel eigentlich?

»Nun, wir sind Vegetarier, aber sonst …«

»Schon gut. Ich sehe, was sich machen lässt. Aber dann … dann verschwinden Sie.«

»Natürlich, Sir.« Der Kakapo setzte ein Lächeln auf, das Remick versicherte, dass er die Viecher nie wieder loswerden würde.

»Mister Remick?«

»Ja?«

»Frohe Weihnachten.« Der Vogel lächelte und kämpfte mit den Tränen.

Remick schnappte sich eine Karotte und begann, sie zu schneiden. »Ja, ja … frohe Weihnachten.«