Steve musterte aufmerksam das alte Gemäuer. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, bis sie nahe genug an das Fort heran waren. Der Wagen stand in einer Senke, notdürftig mit Dornenzweigen getarnt.
Die Festung musste schon vor langer Zeit aufgegeben worden sein. Vermutlich diente sie damals dem Schutz der Karawanenstraßen, die die Arabische Halbinsel durchschnitten. Sie bestand aus Lehmmauern, die in der Hitze steinhart geworden waren.
Das ganze Bauwerk wirkte verfallen, aber doch nicht so, als sei es seit Jahrhunderten verlassen. Die winzigen Fenster wirkten wie dunkle Löcher, in denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Hoch oben zog ein einsamer Raubvogel seine Kreise.
„Ob wir wirklich an der richtigen Stelle sind?“, fragte Diana zweifelnd.
Steve drehte den Kopf. „Sehen Sie dort hinüber.“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Reifenspuren! Sie führen zur Festung. Und sie müssen ziemlich frisch sein. Damit steht fest, dass in der letzten Zeit Fahrzeuge dorthin gefahren sein müssen. Das Fort ist also nicht so verlassen, wie es scheint. Wir müssen aufpassen. Es sind sicher Wachen aufgestellt.“
„Was wollen Sie tun?“
Steve grinste. „Ich werde hinübergehen und mich ein bisschen umsehen. Sie bleiben hier.“
Sie wollte den Mund aufmachen, aber er stoppte sie mit einer Handbewegung. „Tut mir leid, aber das ist jetzt einzig und allein meine Angelegenheit. Ich kann nicht noch auf jemanden aufpassen, wenn ich mich hineinschleiche. Außerdem kann es gefährlich werden.“
Sie hob resignierend die Schultern. „Na schön, aber wenn ich in einer Stunde nichts von Ihnen höre, komme ich nach.“
Steve lächelte. „Wie Sie wollen. Aber wenn ich es in einer Stunde nicht geschafft habe, schaffe ich es nie.“
Er überprüfte rasch seine Waffe und machte sich anschließend auf den Weg. Das Gelände bot nicht allzu viel Deckung, aber wenn nicht jemand genau in seine Richtung blickte, musste es gehen.
Das Fort war auf einer flachen Kuppe erbaut worden, genau vor einer Schlucht in dem dahinter aufragenden Bergzug. Vielleicht führte früher ein Karawanenweg durch die Schlucht. Heute gab es dort keine Straße mehr. Die Schlucht war mit Geröll halb zugeschüttet.
Besonders viel Mühe hatte man sich beim Bau nicht gegeben. Das Wüstenfort hatte die Form eines Würfels, aus dem an einer Ecke ein Turm ragte, der keine Zinnen mehr besaß. Es gab ein altes Holztor, das geschlossen war. Vermutlich gab es einen Innenhof.
Steve rannte durch einen ausgetrockneten Bach, ein sogenanntes Wadi, und gelangte daraufhin durch eine Geländerinne noch näher an die Festung heran. Die Mauern hatten eine Höhe von etwa vier bis fünf Metern. Auf seiner Seite waren sie unmöglich zu erklettern. Vorsichtig ging er bis zur nächsten Ecke und spähte auf die andere Seite.
Er sah den Wächter sofort. Er lehnte am Torbogen eines zweiten Tores, das allerdings geöffnet war. Ein Auto stand direkt vor dem Tor, aber es befand sich niemand darin. Möglicherweise waren Hammond und Wilson damit angekommen, aber es war natürlich nicht sicher, dass sie ausgerechnet hierher gefahren sein mussten.
Der Wächter trug ein weites weißes Gewand, wie es Steve schon von den anderen Söhnen Allahs kannte. Der Mann hatte ein modernes Schnellfeuergewehr neben sich an der Wand stehen.
Steve überlegte. Er musste durch das Tor. Es war der einzige Zugang ins Innere der Festung. Das hieß, er musste den Wächter auf irgendeine Weise ausschalten oder ablenken.
Steve versuchte es mit einem der ältesten Tricks. Er hob einen kleinen runden Stein auf und schleuderte ihn gegen den Wagen. Es gab ein metallisches Geräusch, und der Posten zuckte deutlich zusammen. Seine Hand tastete nach dem Gewehr, dann ging er langsam auf das Fahrzeug zu.
Die Sonne stand jetzt schon so tief, dass es an der Mauer dunkle Schlagschatten gab. Steve bewegte sich leise an der Mauer entlang. Er hatte es fast bis zum Tor geschafft, als der Posten seine Inspektion beendete und sich umdrehte. Seine Schrecksekunde dauerte zu lange.
Ehe er noch das Gewehr in Schussposition bringen konnte, schnellte Steve mit zwei raschen Sätzen auf ihn zu. Aus dem Lauf heraus sprang er den Mann an und riss ihn zu Boden. Ein knallharter Schlag erstickte einen Warnschrei. Ein zweiter Hieb schickte den Wächter ins Land der Träume.
Steve zerrte ihn hoch und schleifte ihn hinter den Wagen, wo man ihn nicht sofort bemerkte. Anschließend nahm er das Gewehr an sich und schlich durch das Tor. Er blickte auf einen Innenhof, der ebenso wie die ganze Festung schon bessere Zeiten gesehen hatte.
In der Mitte lag ein Trümmerhaufen aus Steinen und verkohlten Balken. Überall sah man geschwärzte Feuerstellen, die vermutlich von umherziehenden Nomaden stammten.
Jetzt erst sah man richtig, wie klein das Fort eigentlich war. Nur an zwei Seiten des Innenhofes befanden sich Gebäude. Auf ihren Dächern lief ein Wehrgang hinter zerfallenen Zinnen entlang. Steve schätzte, dass dieses Fort früher vielleicht eine Besatzung von nicht mehr als zehn oder zwanzig Männern gehabt hatte. Die hölzernen Ställe gab es schon lange nicht mehr. In die Gebäude führten kleine Öffnungen. Die hölzernen Türen waren ebenfalls verschwunden.
Im Hof stand ein weiteres Fahrzeug, ein Geländewagen. Es war kein Mensch zu sehen. Steve fragte sich, wo man Dianas Bruder gefangen halten könnte. Sehr viele Möglichkeiten gab es nicht. Er beschloss, als Erstes den Eingang zur Rechten zu untersuchen.
Ein kühler Luftzug wehte ihm aus dem Gewölbe entgegen. Die Bauweise in dieser Gegend war darauf angelegt, die Hitze des Tages von den Innenräumen fernzuhalten.
Er brauchte einen Augenblick, bis er sich an die Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatte. Von fern drang ein Murmeln an sein Ohr, das er als menschliche Stimmen identifizierte. Vorsichtig tastete er sich weiter.
Plötzlich hörte er Schritte. Steve drückte sich in eine Nische zwischen zwei massiven Pfeilern. Es war wieder einer der Wächter in dem typischen Gewand. Steve hoffte, dass der Mann vorbeiging, ohne ihn zu bemerken.
Aber der Wächter blieb abrupt stehen, drehte langsam den Kopf und zog die Luft tief in die Nase – wie ein Raubtier, das eine Witterung aufnimmt. Er befand sich höchstens drei Schritte von der Nische entfernt. Es ging um Sekunden.
Steve stieß sich von der Wand ab und überbrückte die Entfernung mit einem einzigen Satz. Seine Hände krallten sich um den Hals des Mannes und rissen ihn zu Boden. Der Araber war so verblüfft, dass er nur ein Grunzen herausbrachte, ehe ihn ein sauber platzierter Schlag aus dem Gefecht zog. Steve ließ ihn liegen – für einige Minuten würde die Betäubung anhalten. Er nahm das Gewehr und schlich weiter.
In Abständen gab es Türen an einer Seite. Sie waren alle verschlossen. Er lauschte, hörte aber nicht das Geringste. Immerhin musste es hier noch jemanden geben, denn die Stimmen von vorhin gehörten mindestens zu zwei Männern.
Der Gang bog jetzt rechtwinklig ab. Steve zuckte zurück. Etwa in der Mitte hockte ein weiterer Posten auf dem gestampften Lehmboden. Das Gewehr lag in seiner Armbeuge. Sein Kopf war leicht nach vorn gesunken. Der Mann schien zu dösen.
Der Wächter saß vor einer der niedrigen Türen, die er zu bewachen schien. War dort Nick Lester?
Steve kratzte einen Kiesel aus der Wand und schleuderte ihn über den Posten hinweg auf die andere Seite des Ganges. Der Mann hob den Kopf, als er das Geräusch hörte.
Wieder startete Steve seinen Angriff, aber dieser Posten war nicht so langsam wie die ersten. Er riss sein Gewehr hoch und blockte den Angriff ab. Danach versuchte er, Steve zu rammen. Nur eine geschickte Drehung half ihm aus der Klemme.
Steve setzte sein eigenes Gewehr als Hiebwaffe ein, aber der Araber war zu schnell. Hart prallten die Läufe gegeneinander. Der Araber keuchte, hatte aber noch nicht laut geschrien. Er schien sicher zu sein, dass er die Auseinandersetzung für sich entschied.
Steve hatte das Gewehr mit beiden Händen gepackt und hieb es schräg nach oben. Der andere nahm elegant den Kopf weg und fing den Stoß ab. Sofort trat er blitzschnell einen Schritt zurück und hob die Waffe. Auf diese Entfernung würde das Schnellfeuergewehr Steve McCoy in zwei Teile schießen. Er sah, wie sich der Zeigefinger krümmte.
Steve ließ das Gewehr fallen und warf sich nach vorn.
Eine ohrenbetäubende Salve ratterte los, ging aber knapp über seinen Kopf. Die Geschosse prasselten in die Wand und schlugen große Stücke heraus. Staub wallte auf.
Steve bedachte den Wächter mit einer linken Geraden und setzte mit der Rechten nach. Der Mann wurde zurückgeschleudert und fiel gegen die Wand. Steve stand mit einem Sprung bei ihm und riss ihm die Waffe aus der Hand. Mit einem Handgriff ließ er das Magazin herausschnappen und warf das Gewehr zur Seite.
Der Araber bewegte sich stöhnend am Boden. Als Steve sich abwendete, bemerkte er gerade noch aus den Augenwinkeln, wie der Mann einen verzierten Krummdolch aus dem Gürtel riss und erneut auf ihn losging. Dabei stieß er einen langen Schrei aus.
Steve trat mit dem Fuß zu und erwischte die Messerhand präzise am Gelenk. Der Mann heulte auf, und der Dolch flog durch die Luft, bis er zitternd in einem hölzernen Balken stecken blieb.
Steve zog die Beretta und richtete sie auf den Mann. „Schluss jetzt! Wo ist der Gefangene?“
Der Araber verzog nur die Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln. „Allah ist groß“, sagte er auf Englisch.
Steve ließ ihn nicht aus den Augen und bewegte sich zu der Tür, vor der der Mann gehockt hatte. Rasch schob er die Riegel zurück und stieß die uralte Tür auf. Er sah sofort, dass er den richtigen Raum erwischt hatte. Das schwache Licht erhellte eine Gefängniszelle, wie man sie sonst nur in historischen Abenteuerfilmen sah.
Der Mann, der sich darin befand, hob den Kopf und blickte Steve fragend an. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Sie wirkten fiebrig. Das verfilzte Haar hing ihm wirr um die Stirn. Er streckte eine zitternde Hand aus und ließ sie wieder sinken. Danach versuchte er mühsam, sich auf die Beine zu stemmen.
„Sind Sie Nick Lester?“, fragte Steve. Denn nach einem Foto hätte er diesen Mann nicht unbedingt wiedererkannt.
Der andere lauschte dem Klang nach, als wollte er sich vergewissern, dass wirklich jemand seinen Namen ausgesprochen hatte. Anschließend nickte er langsam. „Lester, ja, das bin ich.“ Seine Stimme war krächzend, als sei sie lange nicht in Gebrauch gewesen.
„Kommen Sie, ich hole Sie hier heraus.“
„Wer sind Sie?“, flüsterte Lester.
„Für Erklärungen haben wir später Zeit“, antwortete Steve. Er streckte seine freie Hand aus. Lester griff danach, und nur Augenblicke später kroch er aus der Zelle. Er blinzelte, und sah sich unsicher nach allen Seiten um. Als er den Wächter bemerkte, zuckte er zurück und wollte wieder in die Zelle.
„Der tut Ihnen nichts mehr“, sagte Steve. „Wir werden jetzt diese ungastliche Stätte schnellstens verlassen.“
„Das werden Sie nicht!“, kam eine Stimme von oben. Gleich darauf krachte auch schon ein Schuss. Steve hatte sich instinktiv bei der ersten Silbe zur Seite geworfen und Lester gleichzeitig einen Stoß in die Seite gegeben. Das Geschoss schlug genau zwischen ihnen in den Boden.
Der Posten nutzte die Situation aus, warf sich nach vorn, um nach Steves Waffe zu krallen – als der zweite Schuss fiel.
Der Posten wurde mitten in seinem Sprung gestoppt. Auf seinem Gesicht erschien ein fassungsloser Ausdruck, dann sank er zu Boden.
Inzwischen hatte Steve sich herumgerollt, die Pistole mit beiden Händen fest umklammernd. Er jagte drei Schüsse aus dem Lauf, die rings um die Öffnung in der Decke einschlugen, durch die Hammond geschossen hatte. Denn seine Stimme hatte Steve genau erkannt.
„Gehen Sie da hinüber!“, befahl Steve und machte eine ungeduldige Handbewegung.
Lester nickte und setzte sich schwerfällig in Gang. Steve wollte ihn jetzt nicht noch durch eine verirrte Kugel verlieren. Allmählich schien Lester wieder zu sich zu kommen. Sicher war er ein harter Bursche, aber eine Gefangenschaft in diesem Drecksloch konnte jeden fertig machen.
Steve zog sich langsam zum Eingang zurück und behielt die Deckenöffnung im Auge. Es fiel kein weiterer Schuss. Sie würden draußen auf ihn warten. Und er musste durch den Hof.
Vorsichtig spähte er hinaus. Eine Salve knatterte, und Steves Haar wurde von Steinsplittern überschüttet.
Der Schütze saß auf dem Wehrgang auf der anderen Seite. Nur notdürftig hinter einem Mauerrest getarnt.
Steve hob die Beretta und gab schnell hintereinander drei Schüsse ab. Der Mann sprang auf und hetzte über das schräge Dach. Es war Hammond.
„Vorsicht!“, schrie Steve. „Das Dach!“
Hammond konnte es nicht sehen, als er über das Dach turnte. Genau in seiner Richtung wurde die uralte Dachkonstruktion von einem halb durchgebrochenen, verrotteten Balken gehalten.
Jetzt erkannte auch Hammond die Gefahr. Er wollte seinen Sprung noch stoppen, aber es war zu spät.
Sein Schnellfeuergewehr klapperte über das Dach, er stieß einen verzweifelten Schrei aus, dann brach er durch – und hinter ihm stürzte das halbe Dach zusammen.
Es krachte dumpf. Eine riesige Staubwolke stieg auf, dann war Stille.
„Wilson!“, rief Steve McCoy. „Kommen Sie heraus! Es hat keinen Sinn mehr! Sie haben verloren!“
Nick Lester erschien hinter ihm. In seinen Augen glühte wieder das alte Feuer. Er schien seine gesamte restliche Energie in diese letzte Anstrengung zu senden. Anschließend würde er wahrscheinlich für ein paar Tage ins Krankenhaus müssen, dachte Steve flüchtig.
Lester schob den Wächter vor sich her, den Steve bewusstlos geschlagen hatte. Der Araber sah ängstlich aus. Er schien begriffen zu haben, dass für ihn das Spiel aus war.
„Wo steckt Wilson?“, fragte Steve leise.
Nick hielt dem Araber den Dolch an die Kehle, den er ihm aus dem Gürtel gezogen hatte.
Der Araber hob den Kopf. Sein Blick fiel auf den kleinen Eckturm.
Steve gab ihm einen Stoß zwischen die Schultern. „Verschwinde und nimm deinen Kumpan mit, der draußen hinter dem Auto liegt. Wenn ihr Glück habt, könnt ihr unerkannt untertauchen“
Der Mann eilte mit klatschenden Fußsohlen davon. Lester sah Steve fragend an.
„Was soll’s?“, erklärte Steve McCoy. „Er nützt uns nichts. Das ist nur ein kleiner Fisch. Wir wollen den großen dort oben!“
Steve lief zum Turmeingang. Eine Art Hühnerleiter führte nach oben. Er stieg auf die erste Sprosse.
„Kommen Sie nicht herauf!“, drohte Wilson. „Ich schieße.“ Die Stimme zitterte leicht.
Steve grinste. Wilson war unsicher. Er bluffte, weil er verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Aber es gab keinen. Wilson hatte ausgespielt.
Steve turnte die Leiter hinauf und rollte sich oben mit einem Satz durch die Luke. Schon hielt er die Waffe im Anschlag.
Wilson reagierte nicht so schnell. Er zielte mit einem Revolver immer noch auf die Luke, durch die sich Steve eben geschnellt hatte. Er wurde blass, als er die dunkle Mündung von Steves Beretta auf sich gerichtet sah.
„Nicht schießen!“, rief er und ließ seine eigene Waffe fallen.
Wilson war ein Feigling, stellte Steve McCoy fest. Jetzt, allein, wagte er keinen Widerstand. Das war ein Mann, der nur andere die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen ließ.
„Das Spiel ist gelaufen“, stellte Steve fest. „Sie sind eine miese Ratte ohne Ausweg. Die Bruderschaft der Killer ist verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Sie werden sich jetzt für alles verantworten müssen.“
Wilson wankte mit glasigen Augen auf die Luke zu.
„Schön vorsichtig auf der Leiter!“, warnte Steve. „Sonst brechen Sie sich noch den Hals – und das wäre doch zu einfach.“