4. KAPITEL

EMERY

»Kommen Sie schon, Oliver. Lassen Sie mir wenigstens ein paar Zentimeter«, murmelte ich, während ich ihn die Stufen zu dem Haus hochzuhieven versuchte, in dem sich meine Wohnung befand. Den Rockstar mit zu mir nach Hause zu nehmen, war meine letzte Option gewesen. Ich hatte versucht herauszufinden, wo er wohnte, aber er war nicht mal in der Lage, einen einzigen zusammenhängenden Satz zu formulieren. Mehr als Brummen und Sabbern war nicht drin. Also hatte ich mir sein Handy geschnappt, um vielleicht eine Nummer zu finden, die ich anrufen konnte, aber sein Akku war platt, und ich hatte nicht das passende Ladegerät, um es aufzuladen. Am Ende fiel mir nichts Besseres ein, als Oliver mit zu mir zu nehmen. Aber schon ihn aus dem Auto zu kriegen, war schwer genug gewesen, aber ihn nun dazu zu bewegen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war der schiere Albtraum.

»Du kriegst gleich ein paar Zentimeter«, murmelte er.

Was der schüchterne, distanzierte Oliver wohl sagen würde, wenn er von den Sprüchen hörte, die er an diesem Abend abgelassen hatte?

Ich legte mir seine Arme um die Schultern und zog, so gut ich konnte. Er hatte einen Schluckauf und brummte immer wieder etwas vor sich hin, was ich nicht verstand – und wenn ich ehrlich war, interessierte es mich auch nicht besonders. Alles, was mich interessierte, war, ihn irgendwie auf die Couch zu kriegen, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte, sodass ich in mein Schlafzimmer gehen und ebenfalls schlafen konnte.

Ich hatte unterwegs Abigail angerufen und sie gefragt, ob Reese die Nacht über bei ihr bleiben konnte. Normalerweise benutzte ich den Schlüssel, den Abigail mir gegeben hatte, um meine schlafende Tochter bei ihr abzuholen. Doch an diesem Abend hielt ich es für das Beste, sie von dem betrunkenen Rockstar fernzuhalten.

Endlich hatten wir es ins Gebäude geschafft und waren auf dem Weg zum Aufzug. Kaum hatten Olivers Füße den Boden der Liftkabine berührt, stützte er sich schwer auf den Handlauf und begann lauthals und mit geschlossenen Augen einen Alex-&-Oliver-Song zu singen.

Selbst betrunken klang er noch perfekt. Es war nicht das Konzert meiner Träume, und Oliver stank eindeutig nach altem Fisch, aber er sang, und ich fand es gar nicht mal so übel.

Ich musste an meine Schwester Sammie denken und fragte mich, was sie wohl von dieser Begegnung mit Oliver gehalten hätte. Hätte sie sich über ihn geärgert, oder wäre sie hin und weg gewesen von diesem betrunkenen Mann, der da vor mir schwankte? Ich fragte mich, ob sie wohl mitgesungen hätte.

In meiner Wohnung angekommen, konnte ich ihn endlich loslassen. Er wankte vor und zurück und stieß gegen meine Beistelltische und Lampen – die ich gerade noch rechtzeitig auffing, bevor sie zu Boden krachten.

»Okay«, murmelte er, als hätte jemand etwas zu ihm gesagt.

»Wie bitte?«, fragte ich irritiert.

»Badezimmer«, erklärte er schwankend.

»Oh, richtig. Gleich da …« Ich wollte ihm gerade die Richtung weisen, wurde jedoch von einem leisen Plätschern hinter meinem Rücken daran gehindert. Als ich in Lichtgeschwindigkeit herumwirbelte, sah ich, wie Oliver, mein Idol, in meine Zimmerpflanze pinkelte. »Was machen Sie denn da?«

»Die brauchte Wasser«, murmelte er.

Ich schnappte nach Luft, während ich schockiert auf sein gutes Stück starrte. Selbst in seinem aktuellen Zustand war Oliver Smith untenrum mehr als gut bestückt. Meine Wangen glühten.

Ich wandte den Blick ab und versuchte die Peinlichkeit dieser Situation von mir abzuschütteln. »Nun, also, äh, vielleicht sollten Sie versuchen, ein wenig zu schlafen. Sie können die Couch haben, wenn Sie wollen, und …« Ich drehte mich wieder zu ihm um und riss die Augen auf. Oliver hatte jetzt auch sein T-Shirt ausgezogen und präsentierte mir nicht mehr nur seine untere Körperhälfte, sondern auch sein definiertes Sixpack.

Irgendwie gelang es ihm, sich gänzlich von seiner Hose und den Boxershorts zu befreien, und hier stand er nun, vollkommen nackt, schwankend in meinem Wohnzimmer, die Hände wie Superman in die Hüften gestemmt.

Genauso hatte ich mir meine allererste Nacht mit Oliver vorgestellt – wie mit einem betrunkenen, nackten Superhelden.

»Was tun Sie da?«, keuchte ich und versuchte nicht auf seinen Penis zu starren, während ich, nun ja, irgendwie auf seinen Penis starrte.

»Also los, tun wir’s«, hickste er und rieb sich mit seiner Penishand über den Mund.

»Was sollen wir machen?«

»Sex.«

Sex?

Er hatte wirklich »Sex« gesagt.

»Was? Nein, wir werden keinen Sex haben, Oliver. Ziehen Sie sich wieder an.«

»Wieso stehst du nackt in meinem Haus, wenn wir keinen Sex haben wollen?«, fragte er hicksend und zeigte auf mich.

»Ähm, wie bitte?«

Ich musste wahrhaftig an mir runtergucken, um sicherzugehen, dass ich angezogen war und mir nicht zufällig die Klamotten vom Leib gerissen hatte, weil mein Lieblingsrockstar vor mir stand.

Er war ganz offensichtlich so betrunken, dass er keinen Schimmer hatte, was hier vor sich ging. Wie unangenehm würde ihm das alles sein, wenn er sich am nächsten Morgen nüchtern erinnerte – sofern er sich überhaupt an irgendetwas erinnerte.

Ich wand mich verlegen bei dem peinlichen Anblick, der sich mir bot. »Ziehen Sie sich einfach wieder an, Oliver.«

»Du zuerst«, erklärte er.

Ich sah mich misstrauisch in meiner Wohnung um und wartete darauf, dass Ashton Kutcher aus seinem Versteck kam und mir erklärte, dass das alles nur ein Scherz war. Oder vielleicht war ich zwischenzeitlich ins Koma gefallen, und all das war bloß eine seltsame Ausgeburt meiner Fantasie.

Was auch immer es war, ich musste dafür sorgen, dass Oliver sich wieder anzog, denn die Situation wurde mit jeder Sekunde verstörender. Doch er schien fest entschlossen, sich erst anzuziehen, wenn ich anfing.

Also begann ich vor seinen Augen in unsichtbare Klamotten zu steigen.

»Okay. Ich bin angezogen«, erklärte ich und stemmte die Hände in die Hüften.

»Gut. Dann gehe ich jetzt ins Bett.« Er nahm seine Anziehsachen und marschierte in Reese’ Zimmer. Bevor ich ihn aufhalten konnte, hatte er sich schon mit dem Kopf voran in ihr Bett fallen lassen.

Und da lag er nun. Mein Prince Charming. Nackt und volltrunken auf der Disney-Prinzessinnen-Bettwäsche meiner Tochter.

Oh, was für ein Anblick. Ich musste gestehen, dass sein Hinterteil genau die richtigen Rundungen aufwies.

Leise schloss ich die Tür, ging in die Küche und griff nach dem billigen Wein, den ich für Notfälle ganz oben im Schrank verwahrte.

Nach diesem Abend brauchte ich ein Glas davon.

Oder womöglich die ganze Flasche.