15. KAPITEL

EMERY

Seit Cam am Montag aus dem Haus gestürmt war, hatte ich sie nicht wieder gesehen. Ich ging davon aus, dass sie sich fernhielt, bis meine Schicht vorbei war. Oliver hatte nicht mehr über sie gesprochen, aber das überraschte mich nicht. Er sprach kaum mit mir. Er dankte mir nur für das Essen, setzte sich die Kopfhörer wieder auf die Ohren und ging zurück an die Arbeit. Manchmal fragte ich ihn, ob es ihm gut ging, und er antwortete mit Nein. Manchmal fragte ich dann weiter, ob es irgendetwas gab, das ich tun konnte, damit es ihm besser ging, und er antwortete wieder mit Nein. Das war das Maximum unserer Gespräche.

Ich ertappte mich immer häufiger dabei, dass ich an ihn dachte. Wenn ich die Augen schloss, sah ich seinen traurigen Blick. Wenn ich sie öffnete, sah ich seine zerfurchte Stirn.

»Klopf, klopf«, sagte ich, als ich Olivers Studio betrat.

Er blickte von seinem Notizblock in seiner Hand auf. »Fertig für heute?«

»Ja. Das Abendessen steht im Kühlschrank, du brauchst es nur noch in den Ofen zu schieben. Fünfundvierzig Minuten bei zweihunderzwanzig Grad.«

»Danke, Emery. Ich habe noch eine Bitte. Der 4. Juli steht vor der Tür, und meine Eltern werden kommen. Kelly wird da sein, und Tyler mit seiner Frau und den beiden Kindern. Ich dachte, vielleicht könnten wir ein wenig feiern, wenn du Zeit hättest zu kochen. Natürlich bist du herzlich eingeladen mitzufeiern, und Reese natürlich auch. Sie kann den Pool benutzen, und ich werde dafür sorgen, dass wir Unterhaltung für sie und Tylers Kinder organisieren. Die drei sind etwa im gleichen Alter.« Er spielte wieder nervös mit seinen Fingern und vermied es, mich anzusehen. »Aber falls du andere Pläne hast …«

»Habe ich nicht. Und es klingt toll. Ich habe noch nie eine Party zum 4. Juli organisiert, aber ich freue mich darauf, mir etwas einfallen zu lassen!«, rief ich, vielleicht ein wenig zu erfreut. Sobald ich zu Hause war, würde ich Pinterest nach Ideen durchstöbern. Außerdem war ich mir sicher, dass Reese über eine Party ganz aus dem Häuschen sein würde, selbst wenn sie niemanden kannte – solange es einen Pool gab. »Oh mein Gott, ich könnte Mini-Desserts vorbereiten, und alle möglichen Vorspeisen.« Ich strahlte vor Aufregung.

Und für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich schwören können, dass Oliver ebenfalls lächelte.

»Das freut mich. Danke, Emery.«

»Ich danke dir . Das wird toll.« Ich biss mir auf die Lippe. »Wird Cam ebenfalls hier sein? Vielleicht mit ihrer Familie? Nur damit ich weiß, wie viele Gäste ich einplanen muss.«

Er sah auf seinen Block und dann wieder zu mir. »Ich denke nicht, dass Cam noch viel hier sein wird.«

»Oh. Habt ihr beide … habt ihr euch getrennt?«

»Ja, wir sind nicht mehr zusammen.«

»Oh, Oliver. Das tut mir so leid. Ich hoffe, es hatte nichts mit mir zu tun …«

»Es hatte alles mit dir zu tun.«

Ich bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. »Es tut mir so leid, Oliver. Ich wollte dir keinen Ärger machen, und …«

»Emery. Ich habe nicht gesagt, dass es schlecht war. Es war eine Entscheidung, die ich schon vor langer Zeit hätte treffen müssen. Du hast nur geholfen, es mir bewusst zu machen. Außerdem hattest du recht. Ich sollte lernen, eine Weile mit meiner Einsamkeit zurechtzukommen.«

»Solltest du jemals zu einsam sein, kannst du dich jederzeit melden«, erklärte ich, ohne nachzudenken. Seine Brauen zogen sich ein wenig zusammen, und ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Wie konnte ich nur so etwas sagen? Er antwortete nicht, was ich als »Nein, verdammt« interpretierte. Ich räusperte mich, und es fühlte sich an, als hätte ich eine Kröte im Hals. »Also dann, einen schönen Abend noch.« Ich drehte mich um und wollte hinausgehen.

»Emery, warte.«

»Ja?«

»Du hast eben etwas gesagt, das mir nicht so gut gefallen hat.«

»Oh?«

»Du sagtest, du wärst nur die Köchin.« Ein sanfter Ausdruck trat in Olivers Augen. »Du bist so viel mehr als nur die Köchin.«

Sofort flatterten wieder die Schmetterlinge, die Oliver immer wieder aufrührte. Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.

»Einen schönen Abend, Emery.«

»Einen schönen Abend, Oliver.«

Später an diesem Abend erhielt ich eine Nachricht von einer unbekannten Nummer.

Unbekannt: Was mag Reese denn so?

Als ich Reese’ Namen las, setzte ich mich augenblicklich auf dem Sofa auf.

Emery: Wer ist da?

Unbekannt: Oh, sorry, Hier ist Oliver. Kelly hat mir deine Nummer gegeben.

Der Seufzer der Erleichterung, der mir entfleuchte, war nicht von schlechten Eltern.

Emery: Oh, tut mir leid. Du meinst wegen der Party? Sie steht total auf alle weiblichen Superheldinnen und Disney-Prinzessinnen.

Oliver: Klingt gut. Danke.

Emery: Dank DIR!

Ich konzentrierte mich wieder auf die Essensplanung für den 4. Juli, als mein Handy erneut eine Nachricht meldete.

Oliver: Wie geht es dir?

Es überraschte mich, dass er noch einmal schrieb – und nicht nur schrieb, sondern sogar fragte, wie es mir ging. Normalerweise führten unsere Gespräche nicht sehr weit, und ich konnte mich nicht erinnern, wann er mich zum letzten Mal nach meinem Befinden erkundigt hatte. Und schon gar nicht um neun Uhr abends.

Emery: Gut. Und dir?

Es dauerte eine Weile, bis er wieder antwortete, und ich fragte mich, wie es wohl sein mochte, in Olivers Kopf zu leben und alles wieder und wieder zu überdenken.

Oliver: Hast du schon ein paar Gerichte für die Party?

Emery: Versuchst du gerade, meiner Frage aus dem Weg zu gehen?

Oliver: Ja.

Emery: Warum?

Oliver: Weil ich die Stimmung nicht vermasseln will.

Emery: Das ist deine erste Nacht ohne Cam, nicht wahr?

Oliver: Ja.

Emery: Fühlst du dich einsam?

Oliver: Du hast gesagt, wenn ich zu einsam bin, darf ich mich melden.

Anstatt zurückzuschreiben, wählte ich Olivers Nummer und hoffte, er würde drangehen. Wie ich ihn kannte, lagen die Chancen fünfzig zu fünfzig. Ich konnte nie vorhersagen, was er als Nächstes tun würde.

»Hallo?«, sagte er, und seine Stimme klang am Telefon tiefer als in Wirklichkeit.

Und da waren sie wieder, die Schmetterlinge.

»Hey Oliver. Ich dachte mir, es ist einfacher zu telefonieren, als hin und her zu schreiben. Geht es dir gut?«

Er räusperte sich. »Wieso fragst du mich das ständig?«

»Weil ich es wissen möchte.«

»Aber die Antwort ist immer gleich.«

»Ja«, sagte ich und nickte, als könnte er mich sehen. »Aber irgendwann nicht mehr. Irgendwann wirst du Ja sagen.«

»Wieso denkst du das?«

»Ich habe einfach das Gefühl, dass du dein Happy End irgendwann finden wirst. Alles andere geht vorüber. Deine Traurigkeit …«

»Ich bin schon mein ganzes Leben lang traurig, Emery.«

Seine Worte brachen mir das Herz, und ich wünschte, ich hätte ihn in den Arm nehmen können. »Wie kommt das?«

Er schwieg einen Augenblick. Vielleicht dachte er nach. Ich sah ihn förmlich vor mir, mit seinem ernsten Gesichtsausdruck. »Ich glaube, manche Menschen sind einfach von Geburt an trauriger als andere.«

Ich hoffte sehr, dass das nicht stimmte, dass Oliver eines Tages sein Glück finden würde. Den Ort, der ihn von der Traurigkeit, die ihn umgab, befreite.

»Können wir über etwas anderes sprechen?«, bat er.

»Sicher. Worüber möchtest du denn reden?«

»Irgendwas. Nur nicht über mich. Erzähl mir von dir. Oder von Reese. Ich möchte mehr über euch erfahren.« Ich biss mir auf die Lippe, weil ich mir nicht sicher war, was ich sagen sollte. Aber zum Glück half Oliver mir mit einer weiteren Frage. »Was hat dich dazu gebracht, Köchin werden zu wollen?«

»Meine Eltern. Mehr oder weniger. Sie waren unter der Woche nie viel zu Hause, weil sie in unserer kleinen Stadt in der Kirche gearbeitet haben. Sie haben den größten Teil ihrer Zeit dort verbracht, von frühmorgens bis spät in den Abend. Ich bin in einer sehr religiösen Stadt aufgewachsen, wo sich rund um die Uhr alles um Jesus gedreht hat. Nicht dass daran irgendetwas falsch wäre, aber es wäre schon schön gewesen, wenn sie etwas mehr zu Hause gewesen wären. Und wenn sie nicht da waren, musste ich meiner kleinen Schwester und mir eben was zu essen machen. Da habe ich festgestellt, dass ich eigentlich gerne koche.«

»Wie alt warst du damals?«

»Sieben.«

»Deine Eltern haben dich als Siebenjährige mit deiner kleinen Schwester alleine zu Hause gelassen?«

»Sagen wir, ihre Prioritäten waren ein wenig speziell.«

»Hast du noch Kontakt zu ihnen?«

»Du meine Güte, nein. Ich habe seit fünf Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen.«

»Seit Reese’ Geburt?«

»Ja.«

»Fanden sie es nicht gut, dass du sie so jung bekommen hast?« Er räusperte sich. »Wenn ich zu viele persönliche Fragen stelle, sag mir einfach, dass ich damit aufhören soll.«

»Nein. Schon okay. Meine Eltern fanden so ziemlich gar nichts gut, was ich gemacht habe. Ich habe nie verstanden, warum sie so streng mit mir waren, im Vergleich zu meiner Schwester, aber es ist, wie es ist.«

»Waren sie sehr religiös?«

»Und wie.« Ich lachte und dachte an die vielen Kreuze im Haus meiner Eltern. Dann sah ich mich in meiner eigenen Wohnung um, in der es ungefähr genauso viele Kreuze gab.

»Hat es dich weniger religiös gemacht?«

»Nein, eigentlich nicht. Als Teenager habe ich gegen so ziemlich alles rebelliert, woran meine Eltern geglaubt haben. Aber nicht in Bezug auf Gott. Mein Glaube ist immer intakt geblieben. Was ist mit dir? Glaubst du an Gott?«

»Ich würde es gerne«, gestand er, »aber es fällt mir schwer, an etwas zu glauben, das so fern zu sein scheint.«

Das konnte ich verstehen. Doch wenn Gott sich für mich weit entfernt anfühlte, bedeutete es immer, dass ich vom Weg abgekommen war.

Wir redeten noch stundenlang über Gott und die Welt. Und in diesen Stunden begann Olivers harte Schale ein wenig weicher zu werden. Er lachte sogar einmal, als ich einen schlechten Witz erzählte. Als wir beide beinahe einschliefen, dankte er mir für das Telefonat, worauf ich antwortete: »Ruf mich morgen wieder an.«

Und das tat er.