25. KAPITEL

OLIVER

Emery und ich begannen, uns jeden Tag zwei Songs zu schicken. Songs, die ausdrückten, wie wir uns am Morgen fühlten. Songs, die zusammenfassten, wie es uns ging, wenn die Nacht sich herabsenkte. Ich hörte mir jedes einzelne der Lieder an, die sie mir schickte, denn sie gaben mir das Gefühl, ihr nah zu sein, auch wenn sie weit weg war.

Je mehr Songs wir teilten, desto enger wurde unsere Verbindung.

Emery: Ich habe den Leiterinnen im Camp heute ein paar deutliche Worte gesagt, weil sie zugelassen haben, dass ein paar Kinder Reese schikaniert haben. Song des Tages: Last Resort.

Oliver: Geht es Reese gut?

Emery: Ja. Ich glaube, sie weiß nicht mal, dass die anderen sie bewusst ärgern. Ich bin zufällig dazugekommen, als die Kinder sich über ihre Haare lustig gemacht haben. Ich habe es den Eltern gesagt, aber die meinten nur, Kinder wären halt so.

Oliver: Ja, Kinder, die so etwas von ihren bescheuerten Eltern lernen.

Emery: Genau. Was ist dein Song heute Abend?

Oliver: This City. Sam Fischer. Hab ein paar schlechte Kommentare im Netz gelesen, die mir ziemlich nahgegangen sind.

Emery: Lass. Die. Finger. Vom. Internet. Oder lies wenigstens nur die guten Sachen.

Ich weiß, ich weiß.

Oliver: Kelly nervt mich, ich soll dich etwas fragen, aber ich habe bisher noch nicht den Mut dazu gefunden.

Emery: Was sollst du mich fragen?

Ich begann zu tippen, löschte es wieder, tippte und löschte erneut.

Emery: Hör auf damit. Spann mich nicht auf die Folter. Frag mich einfach.

Oliver: Denkst du so über mich, wie ich über dich denke?

Ein paar Sekunden vergingen, bevor sie wieder anfing zu tippen.

Emery: Hängt davon ab, was du über mich denkst?

Oliver: Als wärst du alles Gute auf der Welt, in einem einzigen Menschen vereint.

Sie begann zu tippen, hielt inne, begann wieder und stoppte wieder. Die drei Punkte würden mich noch umbringen.

Emery: Ich denke so über dich, wie du über mich denkst.

Den Tiefen meiner Seele entfloh der tiefste Seufzer der Erleichterung.

Emery: Weißt du, was seltsam ist?

Oliver: Was?

Emery: Ich glaube, ich fange an, dich jeden Tag zu vermissen, bevor ich überhaupt von dir weggefahren bin.

Während Emery und ich uns langsam näherkamen, wurde meine Trennung dank Cam und ihrer Theatralik zunehmend schmutziger. Wie sich herausstellte, reichte es nicht, sich einfach von deiner verrückten, narzisstischen Freundin zu trennen, wenn diese berühmt war und die Möglichkeit hatte, deinen Namen in der Klatschpresse durch den Schmutz zu ziehen. Ich hatte erwartet, dass Cam die Interviews irgendwann leid sein würde, aber sie schienen ihr genau die Aufmerksamkeit zu geben, nach der sie gierte.

Ihre Lieblingsbeschäftigung war es, mich niederzumachen, um sich selbst besser aussehen zu lassen. Die Gerüchteküche kochte so hoch, dass selbst mein Team mit Hassmails bombardiert wurde, in denen stand, was für ein Arschloch ich wäre, Amerikas Sweetheart dermaßen zu verletzten, und dass sie sich schämen sollten, für mich zu arbeiten.

Das war der Moment, in dem ich beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Ich musste ein Interview geben. Aber verdammt, ich wollte kein Interview geben.

»Bist du ganz sicher, dass es keine andere Möglichkeit gibt?«, fragte ich Tyler, als ich in der Garderobe eines der größten regionalen Unterhaltungssenders saß.

»Keine, Mann. Ich weiß, wie schwer dir so was fällt, aber vergiss nicht, wir stehen alle hinter dir. Okay?« Er wandte sich an den Designer, der mich an diesem Morgen ausgestattet hatte. »Können wir das dunkelgraue Oberteil austauschen? Zieht ihm was Hellblaues an. Das wirkt offener.« Tyler klopfte mir auf den Rücken. »Und vergiss nicht: Sag einfach die Wahrheit, okay? Cam und ihre scheiß Lügen haben gegen die Wahrheit keine Chance. Ich bin mit Kelly und Emery im Zuschauerraum und juble dir zu.«

»Emery?«, fragte ich überrascht. »Sie ist hier?«

»Sie hat gesagt, dass sie das unter keinen Umständen verpassen will.« Er sah auf seine Uhr. »Zieh dich um, wir sehen uns in fünf Minuten draußen.«

Er lief hinaus, und nachdem man mir das neue Oberteil gegeben hatte, blieb ich allein zurück. Allein mit meinem hyperaktiven Verstand. Ich zog mich rasch um, dann saß ich vor dem Spiegel und betrachtete mich selbst – woran ich mich dank Emery erst seit Kurzem wieder allmählich gewöhnte. Manchmal schmerzte es, manchmal spendete es mir Trost.

Abigail hatte mich gelehrt, dass alle Menschen solche Tage hatten. Gute Tage und schlechte Tage. Das gehörte zum Menschsein dazu.

Ich griff in meine Tasche, zog mein Portemonnaie heraus und griff nach der anderen Hälfte der Herz-Kette, die ich um den Hals trug. Seit sieben Monaten trug ich sie bei mir und wünschte, er würde seine Kette immer noch tragen. Ich wünschte mir, er wäre noch bei mir, um dieses Interview gemeinsam mit mir zu geben.

»Bleib in der Nähe, Bruder«, flüsterte ich, schloss die Augen und hielt den Anhänger an meine andere Hälfte.

»Oliver?«, erklang gleichzeitig mit einem Klopfen an der Tür eine Stimme.

Ich ging hinüber und öffnete. Vor mir stand eine Praktikantin mit einem breiten Lächeln und glänzenden Augen. »Sie sind jetzt bereit für Sie.«

»Danke.«

»Gern. Und wenn ich das kurz sagen darf: Ich bin ein riesiger Fan von Ihnen. Ich weiß, manche Leute erzählen ziemlich mieses Zeug über Sie, aber ich glaube nichts davon. Ihre Musik hat mich gerettet und mir durch meine Depression geholfen. Ich … es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, erklärte sie mit leuchtenden Augen und zitternden Händen.

Ich antwortete ihr mit einem schmalen Lächeln. »Sie haben keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.«

Schon seltsam, dass die eigene Depression, wenn man sie nutzte, um Kunst zu erschaffen, anderen Menschen helfen konnte, mit ihren eigenen Dämonen fertigzuwerden.

Je näher wir dem Set kamen, desto stärker ballte sich die Nervosität in meinem Bauch. Brad Willows, der das Interview führen würde, stellte mich dem Publikum vor und hieß mich auf der Bühne willkommen. Ich setzte mich in den riesigen roten Sessel und hatte das Gefühl, im Scheinwerferlicht zu erblinden.

Ich möchte nicht hier sein.

Alles ging sehr schnell. Die zitternden Hände, die feuchten Handflächen, die Worte, die sich in meinem Kopf verknoteten. Und all das, bevor Brad mich etwas anderes fragen konnte, als wie es mir ging.

Ich fühlte mich wie erstarrt, als ich antwortete. »Gut«, stieß ich hervor und blinzelte ein paarmal. Das Wort hatte zu aggressiv geklungen, zu kalt, zu sehr nach mir und nicht genug nach Alex. Was hätte Alex getan? Er wäre freundlich gewesen, sympathisch. Er hätte auch die Zuschauer begrüßt und allen zugewunken. Er hätte gefragt, wie es allen ging.

Ich hatte das nicht getan.

Ich hatte die Zuschauer nicht begrüßt.

Verdammter Idiot! Du hättest die Zuschauer begrüßen müssen. Jetzt halten sie dich alle für ein Arschloch. Du hast keine Ahnung, wie du dich in so einer Situation richtig verhalten sollst, was Cams Behauptungen umso wahrer erscheinen lässt, und jetzt schwitzt du unter den Scheinwerfern wie ein Idiot und … oh fuck!

Brad starrte mich an. Als wartete er auf eine Antwort.

Hatte er mir eine Frage gestellt?

Er musste mir eine Frage gestellt haben.

Was hatte er gefragt?

Ich blinzelte und rutschte in meinem Sessel herum. »Entschuldigen Sie, könnten Sie das wiederholen?«

»Ich sagte, dass Ihr Verlust mir sehr leidtut. Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein, damit umzugehen.«

Brad war kein allzu großes Arschloch. Deshalb hatte Tyler beschlossen, mich in seine Late-Night-Show zu schicken, die zudem bereits tagsüber aufgezeichnet wurde. Die Sonne schien noch, die Vögel zwitscherten. Fuck. Antworte ihm, du Idiot!

Ich räusperte mich. »Es war nicht unbedingt das einfachste Jahr.«

»Verständlich. Aber ich habe mir sagen lassen, dass Sie im Studio waren und an ein paar Solo-Stücken gearbeitet haben?«

»Ja. Langsam, aber sicher wird was draus.«

»Fällt es Ihnen schwer, ohne Ihren Bruder Musik zu machen?«

Ist es schwer, ohne den Menschen Musik zu machen, der mich überhaupt erst dazu gebracht hat? Ist es schwer, ein Solokünstler zu sein, wenn man sein ganzes Leben lang Teil eines Duos gewesen ist? Ist es schwer, Alex’ Stimme und seine Gitarre nicht zu hören, wenn die Songs fertig sind?

Nein, Brad. Es ist das Einfachste von der Welt.

Sag das nicht, Oliver. Sonst klingst du wie der letzte Arsch.

Gott, war das heiß hier drin! Gab es hier keine Klimaanlage? Ich hätte wetten können, dass Tyler schweißgebadet im Publikum saß und leise vor sich hin fluchte, weil ich gerade dabei war, das Interview in den Sand zu setzen.

Das Interview.

Antworte ihm!

»Ähm, ja. Es ist nicht leicht.«

»Und die Anschuldigungen gegen Sie in Bezug auf Ihre Beziehung zu Cam machen es sicherlich nicht einfacher.«

Brad wirkte so ruhig, als spräche er nicht über eine Irre, die es darauf abgesehen hatte, mein Leben zu ruinieren, nachdem es schon durch Alex’ Tod massiv demoliert worden war.

Ich möchte nicht hier sein.

Ich rutschte weiter in meinem Sessel hin und her und spürte, wie alle mich anstarrten, aber ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, wie ich mich selbst verteidigen sollte. Ich wusste nicht, wie ich hier sitzen und Cams Lügen die Wahrheit entgegensetzen sollte.

»Ich, ähm, ich …«, begann ich, doch ich kam einfach nicht weiter. Ich verzog das Gesicht und tadelte mich dafür, dass ich das Gesicht verzog, denn die Kamera würde das alles einfangen. »Es tut mir leid, Brad. Könnten wir eine kurze Pause machen?«

Brad schaute auf die Kameras und dann zu den Produzenten in den Kulissen, die nachdrücklich die Köpfe schüttelten. Doch bevor er mir antworten konnte, war ich schon aufgesprungen und auf dem Weg in meine Garderobe. Ich zerrte am Kragen meines Hemds und versuchte, tief durchzuatmen.

Ich stieß die Tür auf und brüllte in der Sekunde, in der sie zufiel: »Fuck!«

»Fuck!« , erklang es hinter mir, und Tyler kam in die Garderobe marschiert. Sein Gesicht hätte nicht röter sein können. Ich konnte nicht sagen, ob es vor Wut, Angst oder Mitgefühl war. Vielleicht ja ein bisschen von allem.

Er marschierte eine Weile auf und ab, bevor er stehen blieb und tief Luft holte. Dann sah er mich an. »Okay. Es ist okay. Scheiße«, murmelte er und atmete noch ein paarmal tief durch. »Okay. Ich werde jetzt zu den Produzenten gehen, mich entschuldigen und ihnen sagen, dass wir einen neuen Termin machen müssen.«

»Das macht es nur noch schlimmer«, murmelte ich, ließ mich auf den Stuhl sinken und rieb mir mit beiden Händen das Gesicht.

Tyler sagte nichts. Er wusste, dass ich recht hatte.

Er räusperte sich und klopfte mir auf den Rücken. »Keine Sorge, Kumpel. Wir kriegen das schon hin. Keine große Sache.«

Was hieß, dass es eine verdammt große Sache war.

Ich konnte schon Cams stolzes Grinsen sehen, wenn sie erkannte, dass sie einem Hund einen Tritt verpasst hatte, der ohnehin bereits am Boden lag.

Es klopfte an der Tür, und Tyler rief: »Ja, ja, geben Sie uns noch eine Minute!«

»Entschuldigt«, sagte eine ruhige Stimme. »Ich warte.«

Emery.

»Lass sie rein«, sagte ich und nickte.

Tyler ging zur Tür und öffnete. Draußen stand Emery mit einem traurigen Lächeln und Kellys Backstage-Pass um den Hals. Was erklärte, wie sie an den Sicherheitsleuten vorbeigekommen war.

»Hi«, sagte sie leise.

Ich bekam kein einziges Wort heraus.

Tyler sah mich an, dann Emery, und dann wieder mich. »Okay. Ich gehe und bemühe mich um Schadensbegrenzung. Emery, lass niemanden hier rein, außer mir. Keine spontanen Interviews, okay? Du bleibst bei ihm und bewachst die Tür, bis ich zurückkomme.«

»Mach ich.«

Tyler ging und zog die Tür hinter sich zu. Emery trat zu mir und setzte sich neben mich.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Soll ich darauf wirklich antworten?«

»Nein. Aber … immerhin hast du das Interview fast geschafft. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.«

»Ich war noch nie gut in diesen Dingen. Ich kann mit dieser Art von Druck nicht gut umgehen. Das war immer Alex’ Part. Und jetzt habe ich für mein PR-Team alles noch schwieriger gemacht. Ich vermassele immer alles, und die anderen müssen es ausbaden.«

»Es ist nicht deine Schuld. Der Druck wäre für jeden zu groß. Ich kann mir gar nicht vorstellen, da rausgehen und mich gegen irgendwelche Lügen verteidigen zu müssen, die jemand über mich verbreitet. Es ist nicht fair, dass du dich nach dem Jahr, das hinter dir liegt, auch noch mit diesem Blödsinn auseinandersetzen musst.«

Ich schloss die Augen und legte die Hände an meine Schläfen. »Ich brauche einfach eine Minute, um wieder runterzukommen. Ich muss einen klaren Kopf bekommen. Im Moment fühle ich mich wie in einer Zentrifuge.«

»Okay«, sagte Emery. »Komm her.«

Sie setzte sich auf den Boden und klopfte auf die Stelle neben ihr.

»Was machst du da?«

»Wir nehmen uns eine Minute, um runterzukommen. Komm schon.« Sie legte sich hin und griff nach ihrem Handy. Kurz darauf begann »Chasing Cars« von Snow Patrol. Sie drehte den Kopf in meine Richtung und winkte mich zu sich.

Ich legte mich neben sie, während die Musik weiterspielte. Und so lagen wir, Schulter an Schulter, und sie verschränkte ihre Finger mit meinen und erfüllte meinen Körper mit Wärme.

Wie machte sie das nur?

Wie half sie mir dabei, den Wahnsinn in meinem Kopf zu beruhigen?

Der Song endete und begann erneut, wieder und wieder, und das Gedankenkarussell in meinem Kopf drehte sich allmählich langsamer.

Sie wandte mir das Gesicht zu und sah mich an, und ich tat es ihr gleich und sah sie an, und ich schwöre, ich konnte ihren Herzschlag spüren.

»Danke, Emery.«

»Wofür?«

»Dass es dich gibt.«