Kapitel 2
»Bring noch mehr Kühlbeutel«, sagte Dr. Payne zu Sharon Radinkovic.
»Ja, bring noch mehr Kompressen, Sharon«, wiederholte Dr. Lindwall lauter als nötig.
Die Fünfzehnjährige eilte davon. Russell verdrehte die Augen. Seit fünf Jahren ging das nun so, wenn die beiden Mediziner gleichzeitig in der Krankenstation anwesend waren. Alle Kolonisten waren froh, nunmehr zwei erfahrene Ärzte zu haben, aber Lindwall betrachtete die von der Venus hergekommene Medizinerin als Eindringling in sein Reich.
»Also, was ist denn jetzt?«, fragte Sammy und ging um das Feldbett herum. Der Fremde war über und über mit feuchten Tüchern bedeckt.
»Er hat einen Hitzschlag«, sagte Dr. Payne.
»Ja, einen Hitzschlag«, wiederholte Lindwall. »Und zwar einen ziemlich extremen.«
»Die Kühlung ist offensichtlich kaputt«, meinte Russell.
»Nicht nur die Kühlung«, erwiderte Lindwall.
»Die Sauerstoffsättigung seines Blutes ist sehr gering«, ergänzte Dr. Payne. »Die Versorgung mit Atemluft muss also auch gestört gewesen sein.«
»Wo kommt er überhaupt her?«, fragte Dr. Lindwall.
»Es ist ein Mensch«, antwortete Sammy. »Also kann er nur von der Erde kommen.«
»Aber es gibt im Sonnensystem seit der Vernichtung der Venus keine Transporter mehr«, sagte Dr. Payne. »Also wie sollte das funktionieren?«
»Wir wissen ...«, begann Russell und trat einen Schritt zurück, als Sharon sich mit weiteren kühlen Kompressen an ihm vorbeidrängelte. »Wir wissen es nicht.«
Die blonde Krankenschwester, die bei Dr. Lindwall und Dr. Payne in die Lehre ging, wechselte die Kompressen über dem Gesicht des Mannes aus. Dann nahm sie ein Infrarotthermometer und steckte es in das rechte Ohr des Fremden. »Einundvierzig Grad.«
»Die Körpertemperatur geht langsam zurück«, verkündete Dr. Payne.
»Als wir zum ersten mal gemessen hatten, lag sie bei dreiundvierzig«, ergänzte Dr. Lindwall. »Das ist mehr, als der menschliche Körper verträgt.«
»Werden Sie ihn durchkriegen?«, fragte Sammy.
Payne zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich ja, aber die entscheidende Frage lautet, ob sein Hirn etwas abgekriegt hat.«
Plötzlich richtete sich der Mann auf seiner Liege auf und schrie schrill. Sharon stolperte nach hinten. Russell fing sie auf und hielt sie fest, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Payne beugte sich über den Mann und drückte ihn zurück auf die Liege. Er versuchte, sich zu wehren, hatte aber wohl nicht genug Kraft.
Russell trat vor. Die Augen des Fremden blickten gehetzt abwechselnd nach links und nach rechts, ohne einen von ihnen zu fixieren.
»Der Transporter ...«, stammelte er in abgehackten Silben. »Wo ... bin ... ich?«
»Sie sind auf New California«, antwortete Russell besänftigend. »Beruhigen Sie sich!«
Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff der Mann Russells Kragen und sah ihm zum ersten Mal direkt in die Augen. »Sie müssen uns helfen. Schnell! Sonst sterben wir! Und euch holen sie als Nächstes!«
Russell schluckte, eine Gänsehaut kroch seinen Rücken hinab. »Woher kommen Sie?«, fragte er. »Wer wird uns holen?«
Doch der Blick des Mannes ging wieder durch ihn hindurch.
Neben Dr. Lindwall piepte ein Gerät in einem durchdringenden Alarmton. »Sein Blutdruck sackt ab!«, rief der Mediziner.
Dr. Payne drängte Russell zurück und drückte den Mann wieder flach auf sein Feldbett.
»Kammerflimmern!«, rief Dr. Lindwall.
»Ich bereite den Defibrillator vor.« Dr. Payne griff nach dem Gerät.
»Warten Sie! Es stabilisiert sich wieder. Ich lege eine Infusion mit Hydroxyethylstärke.«
»Hören Sie mich?«, fragte Dr. Payne, während ihr Kollege eine Vene suchte. »Können Sie mich verstehen?«
Russell trat von einem Bein auf das andere. Hoffentlich verlor der Fremde nicht wieder das Bewusstsein. Sie mussten dringend in Erfahrung bringen, was es mit der drohenden Gefahr auf sich hatte - und woher er gekommen war.
»Er zeigt keine Reaktion.« Dr. Payne griff nach einer Stabtaschenlampe, die an ihrem Kittel befestigt war. Sie zog abwechselnd die Lider ihres Patienten nach oben und leuchtete in die Augen. »Keine Reaktion der Pupillen.«
»Kreislauf ist wieder stabil«, sagte Dr. Lindwall mit Blick auf das EKG. »Die Infusion hat geholfen.« Er atmete hörbar auf.
»Können Sie ihn wieder aufwecken?«, fragte Sammy. Russell hatte gerade dieselbe Frage stellen wollen.
»Nein«, sagten Dr. Lindwall und Dr. Payne unisono.
»Er ist ins Koma gefallen«, erläuterte Dr. Payne.
»Aber wir müssen dringend erfahren, was passiert ist«, rief Sammy verzweifelt. »Sie haben doch gehört, was er gesagt hat.«
»Sein Körper braucht Ruhe. Es wäre versuchter Mord, ihn jetzt mit Medikamenten aufwecken zu wollen«, entgegnete Dr. Payne.
»Wir werden warten müssen, bis er von alleine aufwacht«, ergänzte Dr. Lindwall.
»Und wann wird das sein?«, fragte Russell.
Dr. Lindwall zuckte mit den Schultern. »Morgen? Nächste Woche? Vielleicht nie wieder.«
»Ja, aber ...«, begann Sammy.
Dr. Payne machte eine unwirsche Handbewegung. »Selbst wenn er aufwacht, kann niemand garantieren, dass sein Verstand nicht nur noch Schweizer Käse ist.«
Russell drehte sich um und verließ die Krankenstation.
So eine Scheiße!