Kapitel 12
»Wie lange noch?«, fragte Russell.
Dr. Dressel blickte auf seine Armbanduhr. »Drei Minuten.«
Russell tigerte vor dem schwarzen Ding hin und her. Den Unterstand hatten sie schon nach wenigen Stunden entfernen müssen. Der neue Transporter war inzwischen so groß wie der alte, der einige Meter weiter im Gras lag. Nur die auf der Digitalanzeige rasenden Zahlen zeigten, dass das Ding noch wuchs.
Neben dem Laborcontainer hatte Mary Thompson ein weiteres Zelt aufgebaut, in dem sie den Raumanzug für Russells Mission vorbereiten konnte. Mary war Physikerin, sah sich aber mehr als Ingenieurin und hatte darum mit Dr. Dressel nie viel zu tun gehabt. Lieber werkelte sie in der Werkstatt mit Gary Quentin, Ron Scott und Richard Cronin vor sich hin. Russell wusste, dass da etwas zwischen ihr und Mitchell lief, aber die beiden führten eine sonderbare On-Off-Beziehung und niemand konnte sagen, ob sie gerade zusammen waren oder nicht.
»Achtung«, sagte Dressel. »Noch wenige Augenblicke. Drei, zwei, eins und ...«
Die Zahlen auf der Anzeige stoppten und veränderten sich nicht mehr.
»Auf die Sekunde genau berechnet«, lobte Mitchell. »Meine Hochachtung!«
Dr. Dressel grinste dümmlich. Er ging zu seiner Fernbedienung, die auf dem Tisch neben ihm lag und schaltete die Spulen aus. »Das war’s, liebe Leute. Wir haben wieder einen Transporter.«
»Abwarten.« Sammy faltete den Zettel in seiner Hand zusammen und stopfte ihn in die Jackentasche. Dann ging er zu dem ausgewachsenen Transporter hinüber. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete einen Augenblick lang die schwarze Flanke des außerirdischen Geräts. Dann trat er einen letzten Schritt nach vorne und legte seine Hand auf die Außenhaut.
Nichts passierte.
»Doktor?«, fragte Sammy laut.
Dr. Dressel trat neben ihn und kratzte sich am Kopf. »Eigentlich sollte sich jetzt der Durchgang in das Innere öffnen«, sagte er konsterniert. »Ich verstehe es auch nicht.«
Mitchell trat zu den beiden und wiederholte mit seiner Rechten Sammys Bewegung. »Passiert nichts«, kommentierte er.
»Schlauberger«, sagte Sammy. »Das haben wir schon selber gemerkt.«
»Und jetzt?«, fragte Russell. Er sah keine Veranlassung, auch noch seine Hand auf die Außenhaut des Transporters zu legen.
»Haben wir irgendwas vergessen?«, grübelte der Physiker.
Mitchell kratzte sich am Kinn. »Vielleicht ist das Wachstum noch nicht abgeschlossen.«
»Unsinn«, sagte Dressel. »Er ist jetzt genauso groß wie der andere Transporter. Du hast doch selbst gesehen, dass die Anzeige angehalten hat.«
Mitchell drehte sich zu seinem Kollegen um. »Vielleicht müssen im Inneren noch Prozesse stattfinden. Ich bin dafür, die Spulen wieder einzuschalten und es in einigen Stunden nochmal zu probieren.«
In einigen Stunden. Er wäre jetzt bereit gewesen. Er wollte es endlich hinter sich bringen. Aber was sollte er machen?
»Etwas anderes fällt mir leider auch nicht ein«, sagte Dressel, schritt zu dem Tisch hinüber, nahm seine Fernbedienung und aktivierte erneut die Spulen. »Wir werden ja sehen.«
Russell schaute auf seine Armbanduhr. Es war schon Abend und bald würde es dunkel werden. Er konnte nach Hause fahren und morgen wiederkommen. Ganz gleich, ob sich hier doch noch etwas tat, würde er heute sowieso nicht mehr zu seiner Mission aufbrechen. Er spielte kurz gedanklich mit dieser Möglichkeit, verwarf sie aber schnell wieder. Er war zu angespannt, zu neugierig, ob der neue Transporter funktionieren würde oder nicht. Russell blickte zu dem großen Mannschaftszelt hinüber. Er würde dort ein Feldbett finden, wenn er müde wurde. Seinen dicken Parka hatte er zu Hause gelassen, aber sonderlich kalt würde es in dieser Jahreszeit ohnehin nicht mehr werden. Außerdem wollte er sich nicht noch einmal von Elise verabschieden, bevor er auf seine Mission ging.
»Kannst du mal rüberkommen, Russell?« Mary Thompson stand vor ihrem Zelt und winkte ihn zu sich. Sie hielt den Helm des Raumanzugs in der Hand.
Russell ging zu ihr. »Alles gut, Mary?«
Die Physikerin nickte und strich ihr blondes, strubbeliges Haar nach hinten. »Kannst du den mal bitte aufsetzen?«
Russell nahm ihr den schwarzen Helm aus der Hand. Im Gegensatz zu den Kopfteilen der Raumanzüge, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte, wirkte dieser sehr flexibel. Fast wie eine Tauchermaske aus Gummi. Nur das Gesichtsteil bestand aus hartem Kunststoff und wölbte sich etwas nach außen. Er nahm den Helm mit beiden Händen und stülpte ihn sich über den Kopf. Mary verband das Kopfteil mit einem dünnen Schlauch, der zu dem neben der Physikerin auf dem Tisch liegenden schmalen Rückentornister führte. Russell blickte überrascht auf, als sie seine Hand nahm. Sie führte sie zu einer Stelle hinter seinem Ohr. Dort ertastete Russell einen dicken Knubbel.
»Das ist das Ventil für die Sauerstoffzufuhr. Drück es nach oben«, schrie Mary, damit er sie trotz des Helmes verstehen konnte.
Russell drückte gegen den Wulst, der sich schwerfällig bewegte. Sofort strich mit einem leisen Zischen kühle, frische Luft über sein Gesicht. Gleichzeitig saugte sich das Halsteil an seiner Haut fest.
»Wird sich das Gummi nicht im Weltall ausdehnen wie ein Ballon?«, fragte Russell skeptisch. Seine Stimme hallte dumpf durch den Raumhelm.
Mary schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ein Verbundwerkstoff. Ich war selber ganz überrascht. Wenn der Anzug angelegt ist und aktiviert wird, strömt eine niedrige Spannung durch ein eingearbeitetes Metallnetz. In der Folge richten sich die Moleküle in dem Polymer alle in dieselbe Richtung aus und das Material wird hart.«
»Klingt fantastisch.«
Mary nickte. »Ist es auch. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich vermute, dass es nicht nur ein Raumanzug, sondern auch ein Kampfanzug ist.«
Russell blickte auf den Torso des Anzugs, der aus demselben gummiartigen Material bestand, und auf die tiefen Kratzer an Brust und Schulter. »Wie es aussieht, wurde der Anzug in der Tat bereits im Kampf eingesetzt.«
Mary trat einen Schritt zur Seite und fuhr mit den Fingern über die beschädigte Stelle. »Ja, und nicht zu knapp. Irgendetwas hat ihn komplett durchdrungen.«
Russel blickte auf. »Durchdrungen?«, fragte er irritiert. »Bist du sicher?« Und mit diesem Ding sollte er in den Transporter steigen?
Mary nickte. »Ja, der Anzug weist dieselben Narben auf der Innenseite auf. Das Material hat sich dann von selbst wieder verschlossen. Eine automatische Reparatur, sozusagen.«
Russell war verblüfft. »Seltsam«, meinte er. »Der Fremde hatte keine Wunden an Brust oder Schulter.«
Mary zuckte mit den Schultern. »Ich kann nur sagen, was ich herausgefunden habe.« Ihre Stimme klang fast schon beleidigt.
»Natürlich«, beschwichtigte Russell. Aber wie passte das zusammen? Oder hatte jemand anderes den Anzug vor dem Fremden getragen? Jemand, der durch die zugefügten Wunden ums Leben gekommen war?
»Es funktioniert!« Mitchell schrie so laut, dass Russell zusammenzuckte. Er drehte sich um und sah den Schnittstelleningenieur vor dem neuen Transporter stehen. In der Wandung klaffte ein Durchgang, fahles Licht fiel auf das Gras davor.
Es hat tatsächlich geklappt!
Adrenalin durchflutete seinen Körper. Nun war es soweit. Mit Marys Hilfe zog Russell den Helm wieder ab. Dann eilte er zu Mitchell und Dressel an den Durchgang. Dressel kicherte und schlug Mitchell auf den Rücken. »Wir haben wieder einen Transporter! Wir haben wieder einen Transporter!«
Immer mehr Menschen drängelten sich vor dem Durchgang, um einen Blick in das Innere zu erhaschen. Russell musste sich mit den Armen einen Weg durch die Menge bahnen. Dann setzte er vorsichtig einen Fuß in das Innere des außerirdischen Artefakts. Eine kleine Sphäre schwebte ruhig in der Mitte des Raumes, als hätte sie es schon immer getan. Nichts deutete darauf hin, dass diese Maschine erst in den letzten zwei Tagen aus einer winzigen schwarzen Murmel entstanden war. Einzig der stechende Geruch war ungewohnt. Es roch ein wenig nach Schießpulver, oder wie nach dem Feuerwerk am 4. Juli.
Russell horchte in sich hinein. Da war er, dieser dumpfe Druck in seinem Kopf, der durch die magnetische Strahlung im Inneren der Sphäre entstand. Zwar schwach, aber er war da. Jetzt war Russell überzeugt davon, dass sie den Transporter benutzen konnten.
Dressel schob Russell sanft beiseite und betrat selber das Innere der Sphäre. Er stellte sich vor die schwarze Steuersäule und berührte sie. Blaue Symbole leuchteten auf der glatten Oberfläche auf. Dressel lachte. »Sie funktioniert. Die Steuersäule funktioniert.«
Hinter sich hörte Russell ein metallisches Geräusch und drehte sich herum. Mitchell kniete auf dem Boden und hantierte an einem Kasten herum, auf dessen Oberseite mehrere rote Lichter brannten. »Was machst du da?«
»Ich befestige einen Akustikwandler«, erwiderte der Ingenieur knapp. Russell nickte. Auf der Venus hatte Mitchell ein Gerät gebaut, das die Schwingungen der künstlichen Intelligenz der Sphäre auffangen konnte, um sie in menschliche Sprache zu übersetzen. Wenn es klappte, konnten sie sich mit dem Transporter unterhalten, ohne dass sie das umständliche Meditationsverfahren einsetzen mussten.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte Dressel. »Wann können wir ihn nutzen?«
»Mir fehlen die Daten, die wir auf der Venus schon in den Datenbanken hatten. Ich habe eine Software drauf, die die Schwingungen mittels eines Deep-Learning-Algorithmus analysiert und letztlich übersetzt. Aber das wird dauern.«
»Wie lange?«, wollte Russell wissen.
Mitchell drückte die Luft durch seine Zähne. »Zehn Stunden. Vielleicht zwölf.«
Russell kratzte sich am Kopf. »Ich würde mich schon gerne mit dem Transporter über mein Ziel unterhalten, bevor ich mich teleportieren lasse.« Zwölf Stunden? Sollten sie die wirklich noch abwarten? Russell sah vor seinem inneren Auge wieder das Bild eines Countdowns, der unweigerlich ablief.
»Er akzeptiert es«, sagte Dressel, über die schwarze Steuerung gebeugt.
Russell ging zu ihm. »Was meinst du?«
Der Physiker zeigte auf eine Folge von Symbolen auf der Fläche. »Ich habe den Transportercode eingegeben, der auf dem Zettel des Fremden stand. Das Gerät akzeptiert die Eingabe.«
Russell biss sich auf die Lippe. Er wäre in der Lage, sofort den Raumanzug anzuziehen, in die kleine Sphäre zu steigen und zum Ursprungsort des Fremden zu gehen. Konnten sie es sich wirklich leisten, noch bis morgen früh zu warten? »Was meinst du?«, erkundigte sich Russell, an Sammy gewandt, der neben ihm aufgetaucht war.
»Wenn ich das nur wüsste«, murmelte Sammy.
»Was?«, fragte Dressel und trat näher.
Sammy seufzte. »Wir warten bis morgen früh. Das Risiko ist geringer, wenn die Intelligenz des Transporters uns etwas über die Umgebung des Ziels mitteilen kann.«
»Ich könnte versuchen, telepathischen Kontakt mit dem Transporter aufzunehmen«, schlug Russell vor.
Sammy stutzte für einen Moment, schüttelte aber dann den Kopf. »Nichts für ungut, aber du siehst ziemlich müde aus. Es wäre mir lieber, du gehst frisch und konzentriert auf die Reise.«
Russell nickte. »In Ordnung, Sammy.« Die letzte Nacht hatte er wirklich nicht viel geschlafen. Aber er bezweifelte, dass es in der nächsten sehr viel anders sein würde.
Trotzdem ließ er Sammy, Dressel und Mitchell zurück, verließ den Transporter und trottete hinüber zu dem Mannschaftszelt.