Kapitel 18
»Verdammt, Russell«, sagte Sammy mit hysterischer Stimme. »Wie kannst du uns nur so lange ...«
Russell schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Nicht jetzt, Sammy! Es geht um Leben und Tod.«
Sammy schluckte. »Okay, schieß los!«
»Hol mir die fähigsten Ingenieure und Techniker in die Sphäre. Ich will nicht alles zweimal sagen müssen. Wir müssen ein Problem lösen und die Zeit läuft ab.«
Wortlos drehte Sammy sich um und rannte aus dem Transporter. Nur wenig später kehrte er mit einigen Kolonisten zurück.
Neben Sammy und Russell standen nun Dr. Dressel, Mitchell, Mary Thompson, Gary Quentin, Ruth Armstrong, Dr. Payne und Alex Numan dichtgedrängt in der Sphäre.
Russel erklärte die Lage in so wenigen Worten wie möglich und Sammys Augen weiteten sich. Mitchell hielt sich bestürzt die Hand vor den Mund.
»Die Bedingungen dort drüben werden immer lebensfeindlicher. Der Sauerstoffpartialdruck fällt ins Bodenlose. Ich habe keine Ahnung, wie lange die noch durchhalten können.«
»Wie hoch war der letzte Wert und wie schnell fällt er ab?«, fragte Dr. Payne ohne jede Emotion in der Stimme.
Russell sagte ihr die letzten abgelesenen Werte, die er aus dem Speicher geladen hatte, bevor er den Raumanzug zum Auffüllen der Tanks an Mary überreicht hatte.
»Wie lange haben sie da drüben noch?«, wollte Sammy wissen.
»Drei Stunden«, erwiderte die Ärztin. »Maximal vier.«
»Verdammt, verdammt!«, fluchte Sammy.
»Und wir haben nur einen Raumanzug, um alle da raus zu holen«, sagte Russell.
»Du hättest noch mehrere von drüben mitbringen sollen«, meinte Gary Quentin. »Die hätten wir dann hier aufladen können.«
Doch Mary schüttelte den Kopf. »Ich kann immer nur einen aufladen. An dem Gerät hängt jetzt der eine, den wir haben.«
»Wann ist der wieder einsatzbereit?«, fragte Mitchell.
»In drei Stunden«, flüsterte Mary.
»Dann sind die da drüben tot«, verkündete Dr. Payne trocken.
»Was, wenn wir ihn nicht ganz aufladen?«, fragte Russell.
»Eine Stunde, dann ist er halb voll«, antwortete Mary. »Das reicht dann für vier Stunden Betrieb.«
»Also gut!« Sammy klatschte in die Hände. »Wir haben eine Stunde. Bis dahin müssen wir uns was einfallen lassen. Werft jede Idee in die Runde, die ihr habt, ganz gleich, wie absurd es auf den ersten Moment erscheint.«
»Was ist, wenn wir Plastiksäcke nehmen?«, fragte Ruth Armstrong.
»Plastiksäcke?« Sammy klang irritiert.
»Wir stecken die Leute in Plastiksäcke, die wir verschweißen. Dann bringt Russel die Säcke zum Transporter.«
»Hat was«, meinte Gary, der Nuklearingenieur. »Plastik haben wir genug. Würden wir schon hinkriegen, dass die Säcke luftdicht bleiben.«
»Würde das funktionieren?«, fragte Sammy, an Dr. Payne gewandt.
Doch die schüttelte den Kopf. »Wie lange würden sie darin bleiben müssen?«
»Ich brauche eine halbe Stunde durch die Schleuse bis zum Transporter. Mindestens.«
Die Ärztin winkte ab. »Dann wären sie längst tot. Deren Luft hat ja ohnehin kaum Sauerstoff mehr.«
»Vielleicht können wir kleine Pressluftflaschen in die Säcke legen?«, überlegte Mary. »Wir haben noch einige davon in der Werkstatt. Ich könnte sie auffüllen.«
»Wie lange würde das dauern, bis sie einsatzbereit sind?«, fragte Sammy.
Mary wiegte den Kopf. »Vielleicht zwei Stunden«, antwortete sie schließlich.
Zwei Stunden.
Russell rieb sich die Schläfen. »Ich könnte auf die Art und Weise höchstens ein oder zwei retten. Die anderen würden sterben.«
»Wäre besser als gar keiner«, sagte Alex Numan leise. Niemand antwortete ihm.
»Wie viele Leute sind denn da überhaupt?«, fragte Mary.
»Ich habe nicht durchgezählt.« Russell zuckte mit den Schultern. »Von der Anzahl der Schlafräume würde ich auf fünfundzwanzig bis dreißig Menschen schließen, je nachdem, wie viele bei dem Kampf ums Leben gekommen sind.«
»Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen«, erklärte Sammy. »Weiter! Wer hat noch eine Idee?«
»Könnten wir nicht Sauerstoff hinüberbringen, um den Zeitrahmen so zu strecken, dass wir Zeit genug haben, sie mit den Plastiksäcken herzubringen?«, überlegte Dr. Payne.
Mary schüttelte den Kopf. »Wir haben keine nennenswerten Vorräte. Auch das würde zu lange dauern.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Russell zerbrach sich den Kopf, aber es wollte ihm keine Lösung einfallen. Generell hatte er keine Zeit, die Leute einzeln hierher zu bringen. Es würde einfach zu lange dauern.
»Wir müssen sie zusammen hierher bringen«, verkündete Mitchell, der offenbar denselben Gedanken gehabt hatte.
»Aber wie?«, fragte Mary.
»Wenn ich dort die Luke zwischen Transporterlabor und Basis aufbrechen würde, käme ich schneller voran«, erwiderte Russell nachdenklich. »Allerdings wäre dann auch die Restatmosphäre des Komplexes weg.«
»Können wir nicht eine behelfsmäßige Schleuse improvisieren, die wir vor der Luke montieren?«, wandte Sammy ein.
Alex Numan, der ein erfahrener Mechaniker war, schüttelte den Kopf. »Wenn wir eine Woche hätten, könnten wir uns vielleicht etwas zurecht schweißen, aber nicht in drei Stunden.« Er lachte verbittert.
Schweißen ... Russell sah das Loch in der Außenwand der Transporterhalle vor sich. »Was ist, wenn wir einen Ingenieur mit einem Schweißgerät rüberschicken und das Loch in der Wand verschweißen?«
»Wozu soll das gut sein?«, wollte Mitchell wissen.
»Dann ließe sich vielleicht die Halle wieder unter Druck setzen«, gab Russell zu bedenken. »Wir könnten die Luke problemlos öffnen und die Leute in Ruhe hierher transportieren.«
»Hat was ...« Sammy blickte Alex Numan an.
Der nickte. »So wie Russell das Loch beschrieben hat, sollte ich es in dreißig Minuten dicht kriegen. Das Material haben wir hier am Transporter.«
»Wie groß ist denn diese Transporterhalle?«, fragte Mary.
Russell rieb sich über das Kinn. »Etwa dreißig Meter im Durchmesser. Und etwa zwanzig hoch.«
Mary kniff die Augen zusammen. Dann schüttelte sie vehement den Kopf. »Das sind mindestens zehntausend Kubikmeter«, sagte sie. »Nicht mal einen Bruchteil an Pressluft kriege ich in drei Stunden in die Flaschen. Keine Chance.«
»Scheiße!«, rief Sammy und hieb sich mit der Faust in die flache Hand. »Eine andere Idee!«
»Wartet!« Russells Gedanken rasten. »Könnten wir nicht auf anderem Weg Luft herüberbringen?«
Mitchell schüttelte langsam den Kopf. »Wie denn?«
Plötzlich kamen Russell Bilder von dem letzten Einsatz vor fünf Jahren in den Sinn. Sie hatten eine konstante Verbindung zwischen der Venus und New California geschaffen, nachdem der Transporter sie auf diese Möglichkeit hingewiesen hatte. Die ganze Zeit hatte in dem Durchgang ein leichter Wind geweht, weil es einen Druckunterschied zwischen den Stationen gab.
Druckunterschied!
»Ich hab’s«, schrie Russell so laut, dass Mary zusammenzuckte. »Alex verschweißt das Loch luftdicht und dann öffnen wir eine Dauerverbindung zwischen New California und der Basis. So kommt frische Luft rüber, die Transporterhalle wird unter Druck gesetzt und wir können die Luke zu den Wohnräumen problemlos öffnen.«
Sammy blickte ihn skeptisch an. »Und das soll funktionieren?«
»Auf der Venus hat es funktioniert«, antwortete Dr. Dressel. »Ich sehe keinen Grund, warum es hier nicht klappen sollte. Wir schaffen eine Dauerverbindung und lassen den Durchgang in der äußeren Sphärenwand geöffnet. Dann strömt Luft von New California in das Vakuum, bis der Druckausgleich hergestellt ist.«
»Ich weiß nicht«, meinte Sammy. »Was ist, wenn die Schweißnaht aufreißt? Besteht dann nicht die Gefahr, dass die gesamte Atmosphäre von New California durch den Transporter ins Weltall entweicht?«
Russell schüttelte sich. Das war in der Tat eine beängstigende Vorstellung. Und dennoch ... »Ich halte das Risiko für überschaubar.«
»Wenn das eintreten sollte, könnten wir einfach die Außenluke des Transporters wieder schließen.« Mitchell schien nicht sonderlich beunruhigt. »Ich halte das für den richtigen Weg.«
Schließlich nickte Sammy. »In Ordnung. Wir versuchen es.« Er wandte sich an Alex. »Sobald der Raumanzug halbwegs voll ist, gehst du rüber und verschließt den Riss.«
»Dreißig Minuten«, warf Mary nach einem Blick auf ihre Uhr ein.
Numan nickte. »Kein Problem. Ich suche mir die Sachen zusammen, die ich brauche und bringe sie in den Transporter.« Er drehte sich um und lief davon.
Russell schloss die Augen. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Er war froh, dass nun jemand anders hinübergehen würde. Dennoch hasste er es, die Kontrolle abzugeben.
Hoffentlich geht alles gut!