Kapitel 30
»Alle bereit?«, fragte Candy, sprach aber direkt weiter. »Dann auf geht’s!«
Russell wartete, bis die Soldatin drei Schritte vor ihm war, dann marschierte er ebenfalls los. Bis sie die Anhöhe vor der Hauptbasis erreicht hatten, würden sie in einer Reihe gehen. Russell drehte sich um und schaute zurück. Die Gruppe mit ihren zuckenden Helmscheinwerfern stakste unbeholfen den Hügel hinauf wie eine Horde Amateure. Und der Eindruck täuschte nicht. Nur wenige erfahrene Kämpfer waren dabei. Der Großteil der neunzehn von Candy mobilisierten Menschen bestand aus der zweiten Generation von New California. Mit Unbehagen hatte Russell festgestellt, dass auch Jim wieder mit von der Partie war.
Russell hatte ein sehr schlechtes Gefühl. Sie hatten zu wenig Zeit bei der Planung des Einsatzes gehabt. Wenn die Gegenseite mit ihrem Auftauchen rechnete oder Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, dann konnte die Geschichte heute in einem Desaster enden.
In seinen Kopfhörern vernahm Russell die Atemgeräusche der einzelnen Kämpfer. Sammys Schnaufen stach deutlich heraus.
Russell hatte nicht verstanden, warum Sammy unbedingt dabei sein wollte, und zuckte mit den Schultern. Welchen Beitrag der korpulente Mann, der kaum in seinen Raumanzug gepasst hatte, leisten konnte, musste abgewartet werden.
Russell ging im Kopf Candys Plan noch einmal durch. Sie würden den Trupp in zwei Gruppen und auf zwei verschiedenen Wegen zur Landeplattform führen. Im Moment der Landung würden sie dann die Plattform von der Flanke aus stürmen und die Infizierten ohne Warnung erschießen. Das hörte sich einfach an, war aber ein Vorhaben voller Unwägbarkeiten. Niemand wusste, wie groß der Willkommenstrupp an der Landeplattform war. Was war, wenn alle Infizierten der Mondbasis vor dem Landedeck Aufstellung nahmen? Gegen diese Übermacht hätten sie niemals eine Chance.
»Was ist das da vorne?«, hörte Russell die Stimme von Anthony Neaman. »Dieses helle Licht?«
Russell sah auf. Vor ihnen leuchtete plötzlich ein gleißendes Licht. Es sah aus, als würde hinter dem Hügel gleich die Sonne aufgehen. Es wurde immer heller und dann erhob sich tatsächlich eine blendend weiße Kugel in den Himmel.
Russells Hoffnung verging. Das konnte nur eines sein.
»Das ist die Landefähre!«, schrie Sammy. »Sie startet!«
»Sie startet?«, fragte Candy heiser. »Wie kann sie starten? Ich dachte, sie landet gleich.«
»Sie muss vorzeitig gelandet sein«, sagte Russell. »Wir haben es nicht mitgekriegt, weil wir mit Morrow beschäftigt waren. Sie ist gelandet und nun startet sie wieder.«
Mit offenem Mund blickte er in den Himmel. Das Licht wurde kleiner und schwächer, während es höher stieg. Das eigentliche Raumschiff konnte er nicht erkennen.
»Was jetzt?« Sammy klang resigniert. »Wir haben versagt. Wir brauchen gar nicht weiterzugehen.«
Scheiße! Das war’s dann wohl.
Russell wollte schon deprimiert den Rückzug antreten, aber sie konnten die Menschheit nicht diesen Sporen ausliefern. Sie mussten sich etwas einfallen lassen. Dieses Raumschiff durfte niemals auf der Erde landen. Vielleicht gelang es ihnen doch, irgendwie den Heimatplaneten zu informieren. Vielleicht konnten sie auch mit dem Raumschiff im Mondorbit Kontakt aufnehmen, damit es das Andocken der Mondfähre verhinderte. Aber dazu mussten sie ihren Plan ändern. Und zwar gravierend.
»Candy, hörst du?«, krächzte er.
»Ja«, sagte seine Kameradin mit bitterer Stimme. »Hast du noch eine Idee?«
»Ja«, antwortete Russell. »Aber wir müssen schnell reagieren.«
»Ich höre.«
»Wir müssen in die Hauptbasis eindringen, um Kontakt mit der Erde oder dem Raumschiff im Erdorbit aufzunehmen.«
»Das wird niemals funktionieren«, prophezeite Candy. »Wir sind zu wenige. Die ballern uns über den Haufen, wenn wir versuchen, in eine Schleuse einzudringen. Und wenn es uns doch gelingt, ballern sie uns über den Haufen, wenn wir drinnen aus der Schleuse treten.«
»Das ist mir klar«, erwiderte Russell. »Du sollst auch nur so tun, als ob.«
»So tun, als ob?«, fragte Candy konsterniert.
Russell nickte, obwohl sie das wahrscheinlich gar nicht sehen konnte. »Ein klassisches Ablenkungsmanöver.«
»Aber du sagtest doch, du willst in die Basis eindringen, um Kontakt mit der Erde aufzunehmen.«
»Will ich auch, aber nicht von außerhalb. Ich gehe mit meiner Gruppe zurück und wir infiltrieren den Laden mit Hilfe des Transporters von innen heraus.«
Candy schwieg einige Sekunden. »Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Wir sollen sie von ihrem Transporter weglocken.«
»Genau. Ich nehme meine Gruppe wieder mit zurück und führe sie durch den Transporter. Du positionierst dich an der Basis und auf mein Zeichen hin veranstaltet ihr ein schönes Feuerwerk.«
»Woher weiß ich, wann ich loslegen soll?«, fragte Candy.
»Wir werden sicher dreißig bis vierzig Minuten brauchen, bis wir den Transporter konfiguriert haben. Aber so lange braucht ihr auch, um eure Stellung zu beziehen. Gib uns genau eine Stunde, dann legt ihr los. Seht zu, dass ihr sie eine Viertelstunde lang beschäftigt. Dann könnt ihr euch zurückziehen.« Er musste an Jim denken, der unter Candys Kommando stand. »Aber bitte riskiere nicht zu viel.«
»In Ordnung«, sagte Candy.
Russell wusste, dass die ganze Gruppe über die Kommunikationskabel die Unterhaltung verfolgt hatte. »Einverstanden, Sammy?«
»Einverstanden. Wir machen es so«, antwortete der, immer noch schwer atmend.
»Gut«, meinte Russell grimmig. »Gruppe zwei folgt mir zur Basis zurück. Viel Glück, Candy.«
Sie hob die Hand und salutierte. »Wüsche ich euch auch. Wir sehen uns.«
Russell wartete, bis sich die Gruppen voneinander getrennt und die Kabelverbindungen gelöst hatten, dann marschierte er in ihren eigenen Fußspuren zurück in Richtung der Basis. Als er einige Minuten später zurückblickte, war der andere Trupp schon nicht mehr zu sehen. Nur noch die über den Boden zuckenden Lichtfinger der Scheinwerfer seiner zehn Männer und Frauen umfassenden Gruppe waren erkennbar.
Immer wieder blickte Russell auf seine Armbanduhr, die er sich über den Ärmel seines Raumanzugs gelegt hatte. Der Rückweg war länger, als er gedacht hatte.
Der Mondboden war völlig finster. Er konnte nur das kleine Stück erkennen, das von seinen abgedimmten Scheinwerfern erleuchtet wurde. Dafür blitzten die Sterne umso heller. Millionen von ihnen waren am Himmel zu sehen. Ein Zigfaches mehr, als er von der Erde oder von New California aus jemals wahrgenommen hatte, und die Milchstraße zog sich als leuchtendes Band über den Himmel. Er wünschte, er hätte Zeit, sich diesem Schauspiel in Ruhe zu widmen.
Endlich erkannte er vor sich die Mondbasis. Er führte seine Gruppe zügig zur Schleuse und wartete, bis sein Trupp durch die Luke geklettert war, bevor er selber hineinstieg und die Tür hinter sich wieder schloss. Anthony Neaman aktivierte den Druckausgleich und wenige Augenblicke später konnte Russell den Helm ablegen. Er fuhr sich durch die nass geschwitzten Haare. »Geht es euch allen gut?«
Zustimmendes Gemurmel tönte durch die Schleuse. »Ganz schön anstrengend, so ein Mondspaziergang«, sagte Carrie Lawrence. Ihre blonden Haare fielen in Strähnen von ihrem Kopf, als sei sie gerade erst aus der Dusche gestiegen.
»Und das Schlimmste steht uns noch bevor«, meinte Russell bitter. »Wir müssen mit dem Transporter in das Herz der feindlichen Basis eindringen, in der gut und gerne hundert Angreifer auf uns warten könnten.«
»Candy wird sie ablenken.« Der junge Robert Cashmore war zuversichtlich.
»Abwarten«, bremste ihn Russell. »Wir wissen nicht, wie diese von den Sporen beeinflussten Menschen reagieren. Es wäre möglich, dass sie mit einem Angriff auf ihren Transporter rechnen.«
»Und was machen wir dann?«, wollte Carrie wissen.
Russell seufzte. »Wir müssen die Erde auf jeden Fall warnen«, sagte er mit Nachdruck. »Sonst könnte es für Milliarden Menschen das Ende bedeuten.«
Er öffnete die innere Luke.
Adam erwartete ihn bereits im Vorraum der Schleuse. Russell erklärte ihm mit wenigen Worten die Lage und das Vorhaben.
Der Stationskommandant nickte. »Wir haben den Start der Mondfähre auch gesehen. Die Landung müssen wir irgendwie verpasst haben. Kann ich euch unterstützen?«
Russell blickte sich um. In einigen Schränken sah er noch unbenutzte Raumanzüge und in der Ladestation steckten Rückentornister, deren Licht grün leuchtete. »Such so viele Leute zusammen, wie du finden kannst, und steck sie in die Raumanzüge.«
»In Ordnung.« Adam wandte sich um.
»Warte«, bat Russell.
Adam drehte sich zu ihm zurück.
»Hol mir bitte Gemma Aaron«, erklärte Russell. »Ich brauche sie für die Bedienung des Transporters.«
Adam deutete nach links. »Sie hat Wachdienst am Supertransporter.«
Russell nickte befriedigt. »Dann sehe ich sie dort.«
Adam hüpfte in Richtung des Kommandomoduls davon und Russell wandte sich wieder an seine Gruppe. »Überprüft bitte noch einmal die Anzüge.«
»Werden wir auf der Hauptbasis nicht atmen können? Die steht doch unter Druck und wir brauchen die Anzüge gar nicht«, meinte Elaine Thomas.
Russell schüttelte den Kopf. »Wenn wir dort ohne Anzüge auftauchen, könnten sie das als Waffe gegen uns benutzen, indem sie die Luft in ihrem Transporterraum ablassen. Außerdem möchte ich nicht das Risiko eingehen, dass sie uns absichtlich oder unabsichtlich infizieren. Ihr müsst wie der Teufel darauf achten, dass eure Anzüge intakt bleiben. Bei Morrow hat eine kleine Stichwunde gereicht, um ihn mit den Sporen anzustecken.« Er sah in die verschwitzten Gesichter seines Trupps. Er und Elaine Thomas waren die Einzigen, die nicht auf New California geboren waren. Er kam sich vor wie ein archaischer Offizier, der die Kinder des Landes in den Krieg führte. Ihm gefiel dieser Gedanke überhaupt nicht, aber sie hatten keine andere Wahl.
»Folgt mir jetzt!«, kommandierte er laut und führte seine Gruppe durch den langen Korridor in das Transporterlabor.
Wenige Augenblicke später standen sie alle in der kleinen Sphäre und Russell gab den Code für den Supertransporter ein, den er mittlerweile auswendig wusste. Er tippte auf das Auslösefeld und war im nächsten Augenblick schwerelos.
Carrie würgte laut.
Russell schwebte nach draußen in die große Sphäre und öffnete einen Durchgang. Er erkannte Gemma und den Mechaniker Stephen Pace von der Mondbasis an der Kontrollkonsole der außerirdischen Basis.
Russell stieß sich vom Rand der Öffnung ab und schwebte zu Gemma, die ihn mit Handschlag begrüßte. Wieder erklärte Russell in knappen Worten die Lage und den Plan.
»Ihr wollt von hier aus auf die Hauptbasis?« Gemma klang skeptisch. »War das Ziel nicht, eine Verbindung dorthin zu verhindern?«
Russell nickte. »Das war einmal. Jetzt geht es um alles! Wir müssen um jeden Preis an ein Terminal auf der Hauptbasis gelangen, um die Erde zu warnen.«
»Die werden auf euch losgehen, sobald ihr aus dem Transporter tretet.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Russell, der nur hoffen konnte, dass Candys Ablenkungsmanöver erfolgreich sein würde. »Es bleibt uns aber nichts anderes übrig, wenn wir die Erde retten wollen. Also, bitte ...«
Gemma winkte ab. »Ja, ja, das versteh ich ja schon. Aber wir gelangen nur über ST-1, also den Supertransporter der Hauptbasis, in deren Transporter.«
»Das ist mir klar.« Russell war ein wenig genervt. »Kannst du die Verbindung herstellen?«
Gemma rieb sich die Augen und blinzelte die Konsole vor sich an. »In Ordnung. Ich werde es versuchen«, erwiderte sie und lehnte sich nach vorne.
Dann hielt sie in der Bewegung inne und starrte Russell an. »Sobald ich den Code von ST-1 in das Feld hier eingebe, können sie bemerken, dass ich versuche, in ihr Netzwerk einzudringen.«
Russell seufzte. »Tu es!«
Er blieb hinter ihr und beobachtete, wie sie mehrere Felder auf einem großen Touchscreen aktvierte. Ein weiteres Feld leuchtete auf und füllte sich mit kleinen, fremden Schriftzeichen, die Russell nicht das Geringste sagten. Gemma griff nach einem Notizbuch, das neben ihr auf der Konsole lag und blätterte darin herum. Endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte und verglich einzelne Symbole auf der Konsole mit Schriftzeichen in ihrem Handbuch. »ST-1 ist frei und ungeschützt. Wir können problemlos übersetzen. Wollt ihr die kleine Sphäre nutzen, oder soll ich eine Dauerverbindung einrichten?«
Russell rieb sich das Kinn. Mit seinem Trupp war es verdammt eng in der kleinen Sphäre. Sie würden kaum Bewegungsspielraum beim Verlassen haben und wenn sie Pech hatten, erschossen die Feinde einfach hintereinander jeden, der heraus trat. »Eine Dauerverbindung wäre besser.«
Gemma nickte und berührte weitere Felder auf der Konsole. »Auf der anderen Seite herrscht normale Atmosphäre. Wir brauchen keinen Druckausgleich.«
»Gut«, sagte Russell. »Aber ich möchte, dass wegen der Sporen alle ihre Raumanzüge tragen. Ihr beide besser auch.«
Stephen griff nach seinem Helm. Gemma nahm ihren von unterhalb der Konsole auf und erhob sich. »Ich komme sowieso mit.«
»Könnte gefährlich werden«, bemerkte Russell.
»Das ist mir klar«, antwortete Gemma und band sich mit einer flinken Bewegung ihre langen braunen Haare hinter dem Kopf zu einem Knoten zusammen. »Ihr werdet aber jemanden brauchen, der auf ST-1 die Verbindung zur Mondbasis herstellt.
»Ich dachte, es reicht, einfach nur den Code in das Eingabefeld zu tippen, wenn man erst mal im entsprechenden Supertransporter ist.«
»Im Prinzip ja, aber wenn sie den Transporter auf dem Mond geschützt haben, dann muss ich an die Steuerkonsole des Supertransporters gehen.«
Russell zuckte mit den Schultern. Er musste sich an diese Supertransportergeschichte erst noch gewöhnen. Er vergewisserte sich mit einem Blick an ihre Hüfte, dass Gemma zumindest eine Pistole dabei hatte.
»Sobald wir drinnen sind, aktivierst du die Verbindung«, sagte Gemma zu Stephen. »Du musst nur auf das Auslösefeld drücken, sonst nichts.«
Pace nickte. »Viel Glück.«
Gemeinsam schwebten sie zurück in den Transporter und Gemma schloss den Durchgang. Auch Russell setzte nun seinen Helm auf und prüfte, dass die Mitglieder seines Trupps ihre ebenso alle aufgesetzt und verriegelt hatten.
Schon verschwand die kleine Sphäre und die Proportionen des Transporters veränderten sich. »Bereitmachen!«, sagte er über die Außenlautsprecher. »Auf Angriff vorbereiten!«
Das Innere des Transporters zog sich zu einem Schlauch in die Länge und Russell holte ein letztes Mal tief Luft. Was mochte sie auf der anderen Seite erwarten?
Die Verzerrung hatte gerade erst aufgehört, da bildete sich in der gegenüberliegenden Wand schon eine Öffnung. Russell sah das Aufblitzen von Mündungsfeuer.
»Alle runter!«, schrie er.
Zu spät. Neben ihm brach Elaine Thomas zusammen. Eine Fontäne von Blut drang aus einer hässlichen Wunde an ihrem Rücken und sammelte sich wegen der Schwerelosigkeit in einer großen, roten Kugel.
Verdammt! Sie saßen im Inneren der Sphäre auf dem Präsentierteller, während die Gegner den Durchgang als Deckung nutzten. Es gab nur einen Weg: Vorwärts! Und zwar so schnell wie möglich.
Russell schoss zurück und stieß sich mit den Füßen an der Wand des Transporters ab. Jetzt kam ihm sein Kampftraining in der Schwerelosigkeit zugute. Er drehte sich um seine eigene Achse, während er zur Seite des Raumes schwebte. Er nahm einen der Gegner ins Visier und schoss.
Treffer!
Der Mann schwebte regungslos nach hinten weg.
Russell blickte kurz nach hinten. Die anderen folgten ihm. Als er an der Seitenwand des Transporters ankam, drehte er sich geschickt herum und stieß sich mit aller Kraft ab, die er hatte. Er versicherte sich, dass er genau auf die Öffnung zuschoss, und rollte sich dann zu einer Kugel zusammen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bilden. Wieder sah er Mündungsfeuer und hörte das Jaulen von Kugeln, die dicht an ihm vorbeiflogen. Dann passierte er die Öffnung. Er streckte sich und stellte den Hebel der Waffe auf Dauerfeuer. Mit mehreren gezielten Salven erschoss er die nun deckungslosen Gegner.
Mit dem Rücken prallte er gegen die Außenwand der Supertransporterbasis, die mit ST-2 offenbar identisch war. Mit der Rechten hielt er sich an einer breiten Fuge in der Wand fest und blickte sich um. Er schien alle Gegner erledigt zu haben. Die Infizierten hatten offenbar nur eine kleine Abordnung hierhergeschickt und mit dem Supertransporter konnten sie anscheinend auch nichts anfangen. Das war ihr Glück gewesen.
»Alle raus aus dem Transporter!«, drängte Russell. »Gemma, an die Konsole. Finde heraus, ob wir zum Transporter auf dem Mond gehen können.«
Die Ingenieurin schwebte zur Konsole und fing sich dort geschickt mit beiden Händen ab. Sie schwang herum, bis sie genau vor der großen Schaltfläche schwebte. Sie drückte auf einige Felder und studierte zwei Reihen von Symbolen, die plötzlich erschienen. Dann blickte sie auf. »Der Transporter auf dem Mond ist in Betrieb«, sagte sie. »Ich kenne den zweiten Code. Das ist Oahu.«
Russell biss die Zähne zusammen. Was auch immer diese merkwürdige Sporenintelligenz vorhatte, sie kontrollierte das Vorhaben von dort aus. »Wie viele Kolonisten waren denn zuletzt auf Oahu?«
Gemma hob die Hände. »Ich habe keine Ahnung. Das war nie mein Gebiet. Ich weiß aber, dass man für die ähnliche Kolonie auf Cremona etwa siebzig Leute losgeschickt hat.«
Russell schluckte. Also hatten sie es schlimmstenfalls mit fast zweihundert Gegnern zu tun. Er warf einen Blick nach links und schaute in die Gesichter der Gruppe junger Leute, die er in die Schlacht führte. Es bestand eine gute Chance, dass in wenigen Minuten alle tot sein würden. Wie Elaine. Es war ein reines Glücksspiel.
Oh Gott, wenn noch jemand draufgeht, dann lass es bitte mich sein! Verschone die jungen Leute!
Russell blickte auf die Uhr. »Noch zwei Minuten, dann startet Candy ihr Ablenkungsmanöver«, sagte er laut »Wir warten hier weitere fünf Minuten, bis möglichst viele von den Gegnern draußen oder zumindest in den Schleusen sind.«
Er blickte Gemma an. »Du hast einmal gesagt, man könnte von den Supertransportern aus Verbindungen endgültig zerstören.«
Gemma nickte. »Was hast du vor?«
»Den Transporter auf Oahu rausnehmen. Geht das?«
»Ja, das geht«, sagte sie leise. »Er gehört wie alle anderen bisher eingerichteten Kolonien zum selben Netzwerk wie die Mondbasis.«
»Gut!«, sagte Russell. »Auf mein Signal schmeißt du Oahu raus und ersetzt die bestehende Dauerverbindung mit einer hierher.« Es würde zumindest dafür sorgen, dass die Infizierten auf Oahu sie nicht mehr überraschen konnten. Sie wären auf ewig auf diesem Dschungelplaneten gefangen. Aber eine Rettung für die Erde wäre es nicht. An ihrem Ziel, den Planeten zu retten, hatte sich nichts geändert.
Gemma nickte. »Soll ich?«
»Nein«, sagte Russell scharf. »Erst auf mein Zeichen. Der Überraschungsangriff hat gerade erst begonnen. Wir müssen Candy Zeit geben, genug von ihnen herauszulocken.«
»Hoffentlich übertreibt sie es nicht«, meinte Sammy.
Das hoffte Russell auch. Er hoffte es im Interesse seines Sohnes. Verzweifelt ballte er die Hände zu Fäusten. Es fiel ihm unfassbar schwer, hier nichts zu tun, außer den Zeiger seiner Uhr zu beobachten, während drüben auf dem Mond um Leben und Tod gekämpft wurde. Aber fünf Minuten mussten sie warten. Mindestens.
Russell trat von einem Bein auf das andere. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so nervös gewesen zu sein. Selbst bei dem Angriff der Monster vor fünf Jahren nicht, denn da war er mit dem Scharfmachen einer Atombombe beschäftigt gewesen.
Noch vier Minuten.
Er sah, dass Cookie Shanker und Maxwell Lindwall ihre Helme abgenommen hatten. »Setzt sofort die Helme wieder auf!«, befahl er scharf. »Keiner weiß, ob hier nicht Sporen in der Luft herumfliegen.«
Hastig gehorchten die beiden, und Russell ärgerte sich, dass er den jungen Leuten die Gefahr nicht klar genug gemacht hatte. Wenn sie die Geschichte überstehen sollten, musste hier alles desinfiziert werden.
Noch drei Minuten.
»Wenn wir wenigstens wüssten, ob der Angriff erfolgreich verläuft«, krächzte Sammy. »Es könnte gut und gerne sein, dass Candy und ihre Gruppe schon vor der Mondbasis abgefangen wurden.«
Russell runzelte die Stirn. »Auch das würde hoffentlich Weitere von ihnen herauslocken. Vergiss nicht, wir müssen nur bis ins Transporterlabor vordringen. Mit dem Terminal dort können wir mit der Erde Kontakt aufnehmen.« Adam hatte ihm erklärt, wie es funktionierte.
Doch plötzlich kamen ihm Bedenken. Er wandte sich an Gemma. »Können Sie uns begleiten, oder müssen Sie notwendigerweise hier an der Konsole sitzen bleiben?«
Gemma verneinte. »Ich kann die Verbindung von der Konsole aus herstellen und dann mitgehen. Warum?«
Russell zögerte. »Man kennt mich zwar auf der Erde, aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, bin ich mir nicht so sicher, dass man mir oder Sammy dort Glauben schenken wird. Ihnen als Besatzungsmitglied der Mondbasis wird man vielleicht eher vertrauen. Immerhin bitten wir sie, die Mondfähre nicht mehr andocken zu lassen und die Hauptbasis zu bombardieren.«
Gemma presste die Lippen aufeinander und nickte. »Ich werde Sie begleiten«, sagte sie schließlich.
Noch eine Minute.
Russell klatschte in die Hände, was man wegen der schweren Handschuhe aber kaum hören konnte. »Alle bereitmachen und an der Öffnung des Transporters sammeln!«
Sein Trupp gruppierte sich am Durchgang, der immer noch geöffnet war.
»Ich unterbreche die Verbindung von der Hauptbasis nach Oahu und stelle den Link von hier zum Mond her«, erklärte Gemma. »Wenn ich sehe, dass alles geklappt hat, folge ich Ihnen.«
»Gut.« Russell stieß sich mit den Füßen von der Konsole ab. Sammy folgte ihm schnaufend.
Russell steckte ein frisches Magazin ein und überprüfte ein letztes Mal sein Gewehr. Er atmete tief ein und wieder aus, dann sah er in das Gesicht von Manuel Sargent. Es drückte nackte Panik aus. Russell berührte ihn an der Schulter. »Kopf hoch!«, sagte er knapp.
Er blickte wieder auf die Uhr, deren Minutenzeiger in diesem Moment umsprang. Russell wandte den Kopf und sein Blick traf sich mit dem Gemmas. Er nickte ihr zu, woraufhin sie sich der Konsole zuwandte.
Russell rutschte ein Stück zur Seite, um in den Transporter zu blicken. Die gegenüberliegende Wand entfernte sich abermals und ein langer, grauer Tunnel bildete sich. Dann bildete sich die Abzweigung, die Russell und seinen Trupp zur Hauptbasis führen würde.
»Los jetzt!«, kommandierte er und sprang nach vorne. Langsam schwebte er den grauen Korridor hinunter. Er schleifte mit seinen Handschuhen an der Tunnelwand entlang, um durch die Reibung abzubremsen. Kurz vor der Abzweigung kam er zum Stillstand.
Russell griff nach Maxwell Lindwall, der sonst direkt vor die Abzweigung geschwebt wäre. Er wartete einen Moment, bis sein Trupp um ihn herum Aufstellung genommen hatte und auch Gemma an der Abzweigung angelangt war. Die Physikerin reckte ihm den erhobenen Daumen entgegen. Die Verbindung zum Transporterlabor auf der Hauptbasis war also hergestellt und stabilisiert. Nur Gemma würde sie von der Konsole des Supertransporters abschalten können.
Vorsichtig blinzelte Russell um die Ecke. In einem guten Dutzend Metern Entfernung endete der Gang vor der grauen Außenhaut des Transporters auf dem Mond. Der Weg schien frei zu sein.
Er gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen, schwang herum und stieß sich von der dem Gang gegenüberliegenden Wand ab. Zügig schwebte er dem Ende des Korridors entgegen, wurde dabei von der allmählich zunehmenden Schwerkraft dem Boden entgegengetrieben.
Wieder schwang er herum, berührte mit den Füßen den Boden, stieß sich erneut ab, um nun in langen Schritten dem Ende des Gangs entgegen zu hopsen.
Er warf einen kurzen Blick zurück. Max Lindwall war dicht hinter ihm. Dann erst folgten nach und nach die anderen. Russell hätte sich einen geringeren Abstand gewünscht, aber da war jetzt nichts mehr zu machen.
Gerade als er wieder nach vorne blickte, öffnete sich ein Durchgang in der gegenüberliegenden Transporterwand. Dahinter standen zwei Männer. Sie trugen zwar Raumanzüge, hatten die Helme aber nicht aufgesetzt. Der Linke hatte strohblondes Haar, schien kaum der Pubertät entronnen zu sein. Der andere war ein schmächtiger Afroamerikaner mit schwarzen Bartstoppeln. Beide blickten Russell aus glasigen Augen an. In der Hand des Jungens blitzte etwas auf.
»In Deckung!«, schrie Russell, obwohl er wusste, dass es hier in diesem Tunnel keine Deckung gab. Eine Kugel jaulte dicht an seinem Ohr vorbei. Er riss seine eigene Waffe hoch und feuerte.
Abermals schossen beide Gegner. Diesmal gleichzeitig. Hinter sich hörte Russell Manuel Sargent aufschreien.
Dann traf eine ihrer eigenen Kugeln den Afroamerikaner. Die Wucht des Projektils ließ ihn nach hinten taumeln und im nächsten Augenblick war er aus Russells Gesichtsfeld verschwunden. Stattdessen tauchte ein neues Gesicht am Ausgang auf. Es war das einer jungen blonden Frau. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Russell biss sich auf die Lippe, als er feuerte. Sporen hin oder her. Im Grunde genommen schossen sie ihre eigenen Leute nieder. Russell landete einen Treffer. In der Stirn der Frau bildete sich ein tiefes Loch, während sich die graue Wand hinter ihr mit roten Sprenkeln füllte. Die Kugel eines Kameraden streckte den Jungen in dem Moment nieder, als Russell die Öffnung erreichte. Er stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab und segelte durch das Loch in der Wand.
Draußen drehte sich Russell blitzschnell herum, um sich möglichst schnell ein Bild von seiner Umgebung machen zu können. Der Raum, in dem der Transporter stand, ähnelte dem auf der zweiten Mondbasis, war aber deutlich größer.
Ein Krachen hallte durch den Raum und von der Wand direkt vor ihm splitterte Metall ab und zerkratzte sein Visier.
Wo ist das hergekommen?
Da, hinter der schwarzen Konsole kauerte jemand in einem roten Anzug. Er legte abermals an. Russell schoss, ohne zu zielen. Er wollte den Gegner in Deckung zwingen. Aber er landete einen Glückstreffer und die Gestalt sackte zu Boden.
Schüsse hinter ihm!
Russell wirbelte herum. Seine Kameraden taumelten nach und nach aus der Öffnung des Transporters. Max Lindwall hatte den Schuss abgegeben. Russell konnte nicht erkennen, auf wen er gezielt hatte.
Manuel Sargent, den er eben hatte aufschreien hören, hielt sich den Oberarm. Er hatte zwar einen hässlichen dunklen Fleck auf dem gelben Raumanzug, aber das Material hatte sich wieder geschlossen. Mit etwas Glück war es nur eine Fleischwunde.
Russell sprang auf die einzige Tür des Raumes zu. Sie war weit geöffnet. Wenn es ihm gelang, sie zu schließen und zu verriegeln, hatten sie hier freie Hand. Zumindest eine Zeit lang. Hinter ihm krachten wieder Schüsse. Damit sollten sich die anderen befassen. Die Tür war wichtiger.
Kurz bevor er die Luke erreichte, nahm er dahinter eine Bewegung wahr. Er schoss, ohne zu zögern.
Daneben, verdammt.
Hinter der Tür blitzte es auf und Russell spürte einen schmerzhaften Schlag an seinem Oberschenkel.
Nicht drum kümmern! Erst den Gegner ausschalten.
Er schoss. Und schoss nochmal.
Ein älterer Mann mit grauen Haaren und grauem Vollbart stürzte mit den Armen rudernd in den Transporterraum hinein, überschlug sich und blieb reglos auf dem Boden liegen.
Mit dem letzten Schuss hatte Russell seine Munition verbraucht. Mit blitzschnellen Bewegungen entfernte er das leere Magazin und lud ein neues aus seinem Halfter nach. Dann erst erlaubte er sich, seinen Oberschenkel zu betrachten. Einige Zentimeter über dem Knie sah er einen hässlichen Kratzer, aber kein Loch. Das Material des Raumanzugs verfärbte sich nicht, also hatte das Projektil die Panzerung nicht durchdrungen. Eine schmerzhafte Prellung würde ihm das Leben in der nächsten Zeit dennoch schwer machen.
Egal, besser als tot sein!
Endlich hatte er die Tür erreicht. Die Steuerung war mit der auf der anderen Mondbasis identisch. Er schloss die Tür mit einem Knopfdruck und verriegelte sie mit einem kleinen Hebel.
Hinter sich waren die Schüsse verklungen und er blickte sich um. Einige Körper lagen im Raum verteilt, seine eigenen Männer und Frauen standen neben dem Transporter. Schnell zählte Russell durch. Erleichtert stellte er fest, dass sie vollzählig waren. Er hatte niemanden verloren. Wenn die Verriegelung der Tür lange genug hielt, würden sie es auch nicht mehr.
»Schau dir das an!« Sammy stand neben der Gestalt im roten Raumanzug, die Russell erschossen hatte. Mit dem Fuß drehte er sie auf den Rücken, während Russell nähertrat.
Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er in das Gesicht des Toten blickte.
Mein Gott, das ist ja noch ein Kind!
Vor ihm war das blasse Antlitz eines höchstens vierzehnjährigen Jungen. Er hatte den Mund leicht geöffnet und ein feiner Blutfaden zog sich aus dem Mund über die Wange bis hinter das Ohr.
Ich habe ein Kind erschossen!
Russell biss sich auf die Lippe. Es war Notwehr gewesen. Diese verdammten Sporen machten sogar aus den Kindern Soldaten. Schlimmer war es damals im Kongo auch nicht gewesen.
Scheiße!
»Russell!«
Er nickte. Sie hatten eine Mission zu erfüllen und er war der Anführer. Zeit zum Verarbeiten musste er sich später nehmen. Er blickte sich um. »Wo ist das Terminal?«
Die Transporterhalle war aufgeräumter als die der sekundären Mondstation. Zweckmäßiger. Kein Wunder, denn es ging hier um die Transporte an sich, nicht um die Forschung. An der Seite des Raumes, wo sich auch die Tür befand, standen mehrere Konsolen. Gemma hüpfte eilig zu ihnen. »Die hinterste Tafel dient der Kommunikation«, erklärte sie.
Russell fragte sich, was wohl Candys Gruppe machte. Ob es Jim gutging? Eigentlich konnten sie die Funkstille brechen, nun, da ihre Anwesenheit bemerkt worden war. »Ich würde gerne Candy und den Stützpunkt rufen«, sagte er zu Sammy.
Der Administrator nickte. »Einverstanden.«
Russell hob die Hand und hielt sie mit ausgestrecktem Zeigefinger neben seinen Helm, um das Einschalten des Funkgerätes zu signalisieren. Dann griff er an die Armkonsole und aktivierte das Funkgerät.
Sofort hörte er Candys Stimme. »Pass auf, Sam«, schrie sie. »Da ist noch einer links von dir!«
»Ich seh den Bastard. Scheiße!«, schallte es verrauscht durch Russells Helm. Er schluckte. Dort draußen musste es heftig zur Sache gehen. Immer wieder hörte er kurze, bassähnliche Schläge. Das konnten nur die Schüsse sein, deren Geräusch sich dumpf durch das Material der Raumanzüge in die Mikrophone fortpflanzte.
»Candy, Russell hier«, sagte er laut.
Es dauerte einen Moment, in dem Russell angespannt den kurzen Gesprächen der Kämpfenden zuhörte, dann meldete sich die Truppführerin. »Candy hier. Die haben uns ganz schön in der Zange.«
»Wir sind jetzt drin und haben den Transporterraum gesichert. Gemma ist schon an der Konsole. Ihr könnt euch zurückziehen. Ich wiederhole: Ihr könnt euch zurückziehen.«
»Danke«, antwortete Candy.
Er musste die Frage stellen. »Habt ihr Verluste?« Sein Herz schlug bis zum Hals, während er auf die Antwort wartete. Immer wieder hörte er dieses dumpfe Wummern.
»Wir haben zwei Tote.« Candy klang atemlos. »Zoe ist erschossen worden und Axe haben sie das Visier des Raumhelms zertrümmert.«
Das konnte nur bedeuten, dass Jim noch lebte.
Gott sei Dank!
Also hatten sie gute Chancen. Hoffentlich ging Candy nicht noch irgendein dummes Risiko ein.
»Russell, Sammy«, rief Gemma. »Kommt sofort zu mir!«
Russell blickte auf. Sie stand an der Kommunikationskonsole und hantierte an den Schaltern. Ihr Tonfall beunruhigte ihn. Irgendetwas war nicht in Ordnung.
Russell hüpfte zu ihr. »Was ist los?«
Sie zeigte auf eine Reihe an roten Lichtern. »Die Konsole ist beschädigt. Ich kann keine Verbindung zum Verteiler aufbauen.«
»Was heißt das?«, fragte Russell, obwohl er die Antwort schon kannte.
»Wir können von hier aus keine Verbindung zur Erde aufbauen. Das heißt es.«
»Kein Wunder«, sagte Sammy heiser. »Auf der Rückseite der Konsole sind Einschusslöcher. Sie muss bei dem Gefecht etwas abbekommen haben.«
Russell ging um die Konsole herum zu seinem Freund. Sammy hatte recht. Drei grob gezackte Löcher waren direkt nebeneinander. Das war auf die Schnelle garantiert nicht zu reparieren. »Scheiße!«
»Was können wir tun?«, fragte Sammy.
»Hier drin?«, gab Gemma zurück. »Gar nichts. Wir müssen zu einem anderen Terminal.«
Russell blickte zu der Tür, die er verriegelt hatte. Sie verfügte über ein kleines Sichtfenster, hinter dem Dunkelheit herrschte. Aber dahinter würden Infizierte auf sie warten, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er wandte sich wieder Gemma zu. »Wie weit ist es bis zum nächsten Terminal?«
Gemma verengte die Augen zu Schlitzen. »Hinter der Tür ist ein Gang und dann ein Stück weiter ein Knotenmodul. Anschließend muss man links in einen anderen Gang und wieder rechts. Dort befindet sich die Hauptkommunikationsanlage. Wenn wir da keine Verbindung zur Erde bekommen, dann bekommen wir sie nirgends.«
Russell biss sich auf die Lippen. Gänge und Knotenmodule. Das waren genügend Möglichkeiten, ihnen den Weg abzuschneiden und sie in einen Hinterhalt zu locken. Er wäre lieber nicht durch die Luke gegangen, aber was blieb ihnen denn?
»Adam? Bist du in der Leitung?«, fragte Sammy.
»Ja, ich höre die ganze Zeit zu. Die Hälfte der Station ist bei mir.«
»Was meinst du? Sollen wir zu der Funkstation gehen?« Unsicherheit schwang in Sammys Stimme mit.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Ich höre auch mit!«, meldete sich Candy. »Geht! Wir halten die Stellung und werden sie hier draußen noch eine Weile beschäftigen.«
Russell seufzte und nickte dann. »In Ordnung.« Er sprang zur Luke. »Warten wir nicht länger. Alle sofort zu mir!«
Sein Trupp, der die Unterhaltung ebenfalls über die aktivierten Funkgeräte verfolgt hatte, nahm um Russell herum Aufstellung. Er wies den Männern und Frauen Positionen links und rechts neben der Tür zu.
»Haben wir eine Taktik?«, fragte die zweiundzwanzigjährige Carrie Lawrence, die schon vor fünf Jahren mit ihren Eltern im Canyon gegen die Monster gekämpft hatte.
»Schnelligkeit wird unsere Taktik sein«, antwortete Russell grimmig. »Wir dürfen ihnen keine Zeit geben. Wenn sie sich uns in den Weg stellen, müssen wir sehen, dass wir sie überwinden. Wenn sie erst mal merken, dass wir die Oberhand gewinnen, und sie ihre Leute von draußen wieder reinholen, sind wir geliefert. Also los!«
Er drückte an der Konsole den kleinen Hebel nach oben, der die Tür wieder entriegelte und aktivierte den Öffnungsmechanismus. Die Tür fuhr seitwärts in die Wand.
Im selben Moment krachten Schüsse los, Projektile jaulten an Russells Ohren vorbei. Hätte jemand direkt hinter der Tür gestanden, wäre er jetzt tot gewesen.
Russell hatte keine Ahnung, wie viele Gegner sich auf der anderen Seite des Tors postiert hatten. Er wollte es auch gar nicht wissen. Einen Stellungskampf konnten sie sich wegen des Zeitdrucks nicht erlauben. Er musste volles Risiko fahren. Er gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen, warf sich dann durch die Luke in den Korridor hinein und eröffnete gleichzeitig das Feuer. Er schoss immer noch, als er auf dem Boden aufprallte.
Fünf, nein, sechs Gegner kauerten ein Dutzend Meter entfernt an der nächsten Kreuzung in den Seitengängen. Russell schoss erneut - und erledigte einen von ihnen durch einen Schuss in die Stirn.
Neben ihm klatschte es. Russell wandte den Kopf und erkannte Robert Cashmore. Der Sohn des Chemikers hatte sich neben ihn fallen lassen und schoss auf den Gegner.
Hinter sich hörte Russell einen Schrei. Er kannte die Stimme. Manuel Sargent musste es erwischt haben. Keine Zeit, sich drum zu kümmern. Russell schoss, während er weiter voran kroch. Noch einer der Gegner sackte zu Boden. Ein lautes Jaulen direkt an seinem Ohr. Ein weiterer Schrei ... keine Ahnung, von wem.
Dann verstummten die Schüsse. Eine unheimliche Ruhe legte sich über den Korridor. Aus diesem Gefecht waren sie abermals als Sieger hervorgegangen.
Russell stand ächzend auf und drehte sich um. »Alles in Ordnung?«
»Manuel ist tot«, sagte Sammy leise.
Russell blickte auf den am Boden Liegenden. Eine Kugel war direkt durch das Visier seines Helmes gedrungen. Unter dem Jungen bildete sich eine rote Lache, die schnell größer wurde.
Scheiße! Wie sollte Russell seinem Freund Eliot erklären, dass sein Sohn tot war?
»Zum Kommunikationsmodul geht es links entlang!« Gemma sprang auf die Kreuzung zu.
»Gemma, warte!«, schrie Russell. Die plötzliche Ruhe konnte eine Falle sein.
Doch Gemma bog um die Kurve, ohne dass weitere Schüsse fielen.
Russell befahl Robert Cashmore und Carrie Lawrence, die Kreuzung zu sichern. Dann folgte er Gemma mit dem Rest seiner Gruppe. Es wäre ihm lieber gewesen, die Physikerin wäre hinter ihm geblieben. Doch sie lief ein Stück den Korridor entlang, erreichte ein weiteres Knotenmodul und zeigte nach rechts. »Das ist die Funkzentrale.«
»Dann los!« Russell schob sich an Gemma vorbei.
»Russell! Russell!«, hörte er Candys Stimme in seinem Ohr.
»Sprich!«, forderte Russell die Soldatin auf.
»Sie haben uns umgangen und sind uns in den Rücken gefallen«, meldete sie atemlos. »Wir können nicht zurück!«
Scheiße!
»Habt ihr Verluste?«, fragte Russell heiser.
»Sie haben Alex Numan erwischt«, schrie Candy. »Es sind zu viele. Sie drängen uns auf die Mondbasis zu. Da sitzen wir in der Falle.«
»Warte, Candy!« Russell lief in das Funkmodul und packte Gemma an der Schulter. »Können wir sie reinholen, damit sie mit uns durch den Transporter fliehen können?«
»Wo seid ihr?«, fragte die Ingenieurin über Funk.
»Draußen, verdammte Scheiße!«, fluchte Candy. »Eingeklemmt zwischen zwei Modulen. Das links hat ein Schild mit der Bezeichnung X-COM.«
»Ihr seid direkt außerhalb von uns auf der anderen Seite der Wand«, rief Gemma aufgeregt. »Das ist das Kommunikationsmodul. Versucht, um es herum zu gehen. An einer gelben Markierung findet ihr hinter der Verkleidung eine Notschleuse. Ich werde sie für euch öffnen.«
»Verstanden!«, antwortete Candy.
Gemma lief an das Ende des Funkmoduls und riss einen Hebel herunter, woraufhin eine Warnsirene kurz los jaulte und ein gelbes Licht aufleuchtete. »Die Schleuse ist entriegelt. Ihr könnt jetzt von draußen einsteigen. Wenn ihr die Außenluke geschlossen habt, könnt ihr den Druckausgleich vornehmen.«
»Wir sind an der Luke«, meldete Candy. »Wir werden in zwei Fuhren einsteigen müssen. Hoffentlich geht das gut.«
Russell hatte Candy noch nie so verzweifelt erlebt. Hoffentlich schafften sie es alle hinein. Hoffentlich schaffte es Jim.
»Gemma!«, sagte Sammy. »Der Funkspruch!«
Die Physikerin nickte, trat an eine der Konsolen und aktivierte sie mit einem Knopfdruck. Rote, gelbe und grüne LEDs leuchteten auf. Ein Bildschirm erhellte sich und zeigte eine Liste von Funkfrequenzen. Gemma streckte den Arm aus, hielt kurz inne und tippte dann auf den Bildschirm.
»Ist die Verbindung auf Lautsprecher?«, fragte Russell.
Gemma nickte und drückte auf einen Knopf. »Portland, bitte kommen.«
Sie warteten gespannt. Aber auch nach langen Sekunden war immer noch keine Antwort erfolgt.
Stattdessen zischte es rechts von Russell. Er wandte den Kopf. Hinter dem kleinen Sichtfenster der Schleuse nahm er eine Bewegung wahr. Der erste Teil von Candys Gruppe musste sich nun in der Schleuse befinden und stellte vermutlich gerade den Druckausgleich her.
»Portland, bitte kommen!«, sagte Gemma erneut.
»Warum geht da niemand dran?« Sammys Stimme zitterte.
»Keine Ahnung«, antwortete Gemma ruhig und drückte auf eine weitere Stelle des Displays. »Ich versuche etwas anderes.«
»Und was, bitteschön?«, fragte Sammy.
»Ich versuche, die USS Collins zu erreichen. Das Raumschiff im Mondorbit. Hoffentlich ist es gerade über dem Horizont.«
Das hoffte Russell auch.
»USS Collins, Mondbasis, kommen!«, rief Gemma.
Diesmal verging kaum eine Sekunde.
»Mondbasis, USS Collins, Commander Rossi hier«, schallte es aus den Lautsprechern. »Können Sie mir bitte erklären, was da unten vor sich geht?«
Gemma zögerte, wusste offenbar nicht so recht, womit sie beginnen sollte.
Russell stürzte zum Mikrofon. »Hat die Fähre schon angedockt?«
»Hat gerade den inneren Anflugkegel erreicht. Ich frage mich nur, warum wir keinen Sprechfunkkontakt haben. Ihre Kommunikationsprobleme scheinen ansteckend zu sein.«
»Brechen Sie den Anflug ab«, rief Russell eindringlich. »Die Mondfähre darf auf gar keinen Fall andocken.«
»Mit wem spreche ich überhaupt?«, fragte die Stimme misstrauisch.
»Ich bin Leutnant Gemma Aaron«, mischte sich die Physikerin in das Gespräch ein. »Leitende Physikerin auf der sekundären Mondbasis. Personalnummer 11387G. Ich habe Priorität Alpha. Kennwort ist: Mondstaub.«
Für lange Sekunden blieb der Lautsprecher stumm. Die innere Schleusenluke öffnete sich und Sam Goodyear, Richard Cronin und Gary Quentin stolperten in das Funkmodul. Russell gab ihnen Zeichen, die Helme anzulassen. Cronin schloss die Schleusenluke hinter sich.
»Hier Rossi«, tönte es endlich aus dem Lautsprecher. »Ihre Daten sind akzeptiert. Ich habe die Mondfähre angewiesen, den Annäherungskegel zu verlassen, aber sie reagieren nicht.«
»Nutzen Sie Ihre Schubdüsen, um Ihr Schiff außer Reichweite zu bringen. Die Mondfähre darf auf gar keinen Fall bei Ihnen andocken«, sagte Gemma.
»Wieso nicht?«
Gemma holte tief Luft. »Sie steht unter Kontrolle einer feindlichen Intelligenz.«
»Was tut sie?«, rief Rossi ungläubig.
Gemma erklärte in wenigen Worten, was vorgefallen war. Erneut blieb der Lautsprecher für lange Sekunden stumm.
Russell trat zu Gary Quentin. »Wie sieht es aus?«
»Beschissen«, antwortete der Nuklearingenieur. »Sie haben uns in die Ecke gedrängt. Ohne die Schleuse säßen wir in der Falle.«
»Gut, dass Gemma sich hier auskennt«, sagte Russell.
Quentin packte ihn an der Schulter. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Beim Einstieg in die Schleuse habe ich gesehen, dass sie einen Teil ihrer Kräfte wieder abziehen. Sie gehen sicher durch eine andere Schleuse wieder rein und setzen uns hier fest.«
»Gemma!«, zischte Russell. Sobald der Rest von Candys Trupp drin war, mussten sie sofort zum Transporter zurück. Warum meldete sich dieser Rossi nicht?
»USS Collins hier«, erhielten sie endlich die Antwort. »Wir haben uns mit einer kurzen Zündung des OMS von der Mondfähre entfernt. Was schlagen Sie vor?«
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte Russell. »Wenn ja, dann schlage ich vor, dass Sie die Mondfähre abschießen. Anschließend bombardieren Sie die Hauptbasis auf dem Mond mit einer Wasserstoffbombe.«
»Wer spricht denn da?«, wiederholte Rossi.
»Ist egal«, sagte Gemma. »Ich bin derselben Ansicht.«
»Dazu muss ich mich erst mit der Erde besprechen.«
»Ich höre hier alles mit«, tönte Adams Stimme aus Russells Helmkopfhörer. »Schalten Sie mich bitte dazu.«
Russell drückte einen Knopf, der den Helmlautsprecher auf den Außenlautsprecher legte. »Okay.«
»Hier ist Adam Lang. Stellvertretender Kommandant der sekundären Mondbasis. Ich habe Weisungsbefugnis Alpha. Kennnummer: 137-2. Code Blau. Ich befehle die Vernichtung von Mondfähre und Hauptbasis.«
Rossi seufzte. »Also schön, Major Lang. Ich werde die Befehle ausführen. Die Verantwortung liegt bei Ihnen.«
Russell erkannte wieder Bewegung hinter dem Sichtfenster der Notschleuse. Es polterte laut. Was war denn da los?
»Mondfähre zerstört«, sagte Rossi. »Die Bombardierung der Mondbasis ist erst beim nächsten Umlauf möglich. Erwarten Sie die Detonation in fünfundfünfzig Minuten. Wir verschwinden gleich hinter dem Mondhorizont. Wenn wir wieder auftauchen, ist die Bombe schon ausgeschleust.«
»Schicken Sie dann bitte eine Mondfähre zu Mondbasis Beta. Benutzen Sie uncodierten Funk, da unsere Kommunikation nach wie vor gestört ist.«
»Verstanden, viel Glück. Ende.«
Russell wandte sich an Gary, Sam und Richard. »Ihr geht zur Kreuzung zwischen Funkmodul und Transporterhalle. Unterstützt den Trupp dort. Wir werden sicher bald angegriffen.«
Die drei Männer setzten sich wortlos in Bewegung.
Ein lautes Zischen kam von der Schleuse. Wieder dieses Poltern.
Endlich öffnete sich die Luke. Candy kam halb herausgekrabbelt, drehte sich um und schoss.
Da konnte doch nur noch Jim in der Schleuse sein, also auf wen schoss sie denn da, verdammt?
Russell sprang zur Schleuse und zog Candy hinaus. Er erkannte ein zweites Paar Hände, das sich ihm entgegenstreckte, und stürzte erneut nach vorne. Stöhnend zog er Jim aus der Schleuse. Dann erst sah er, dass sich eine Hand um dessen rechten Knöchel gekrallt hatte. Da musste noch ein Infizierter in der Schleuse sein. Russell zog seine eigene Pistole und schoss in das Innere. Endlich löste sich der Griff um Jims Knöchel und er konnte seinen Sohn ganz herausziehen. Sammy schloss die Luke hinter ihm.
Russell kniete neben Jim nieder. Das Visier war von außen beschlagen. Er fuhr mit der Hand über den Helm, bis er Jims schmerzverzerrtes Gesicht erkennen konnte.
»Jim!«, schrie Candy und beugte sich über ihren Untergebenen. »Der Bastard hat ihn verletzt.«
Jetzt erst sah Russell den dunklen Fleck an Jims Raumanzug auf Höhe des Unterschenkels. Mit Entsetzen sah er die blanke Hand des Infizierten, die immer noch aus der Schleuse ragte. Der Handschuh des Raumanzugs fehlte. Endlich begriff er, was geschehen war.
»Er hat ihn infiziert!«, schrie er. »Dieser Typ hat Jim mit den Sporen infiziert!«
Julian Morrow hatte nichts mehr helfen können. Innerhalb weniger Stunden hatte er sich in einen Zombie verwandelt. Und jetzt würde seinen Sohn dasselbe Schicksal treffen.
Oh mein Gott!
Russell beugte sich über den Oberkörper seines Sohnes und nahm ihn in den Arm.
Jim stöhnte auf. »Es hat mich erwischt!«
Russell wusste nicht, was er antworten sollte. Was konnte er tun?
»Töte mich!«, sagte Jim plötzlich.
Russell starrte in Jims Gesicht, das unter dem Helm nur verschwommen sichtbar war.
»Ich möchte nicht wie Julian enden. Bitte töte mich!«
Niemals würde Russell das tun können. Niemals wäre er in der Lage, seinen eigenen Sohn umzubringen, egal, aus welchem Grund.
»Russell ...« Russell spürte Sammys Hand sanft an der Schulter.
»Harris, hier ist Payne!« Die laute Stimme der Ärztin stach in sein Bewusstsein wie ein Messer. »Ich stehe neben Adam und habe alles mitgehört! Es gibt einen Weg, Jim zu retten. Aber Sie müssen schnell handeln. Es geht um jede Sekunde!«
»Was soll ich tun?«, krächzte Russell. Er fühlte sich wie betäubt. Nur durch einen dichten Nebel bekam er mit, dass draußen auf dem Korridor wieder Schüsse fielen.
Langsam, Wort für Wort, erklärte ihm die Ärztin, was er zu tun hatte und was er dafür brauchte.
Oh Gott. Nein. Das kann ich nicht tun!
Aber es war die einzige Möglichkeit, Jims Leben zu retten.
Russell blickte sich um. Die Wände neben dem Ausgang waren von den Konsolen der Funkeinrichtung bedeckt. Aber neben der Schleuse hing an der Wand ein Feuerlöscher. Und eine Axt! Der Stiel war aus hellbraunem gemasertem Holz. Kopf und Wange der Axt waren rot lackiert, die Schneide hatte die Färbung glänzenden Silbers.
»Nein, tu das nicht!«, stöhnte Jim. »Ich will nicht. Dann erschieß mich lieber!«
»Schsch!«, machte Sammy und beugte sich über Jims Helm, während Russell aufstand und sich wie in Trance der Axt näherte. Mit einem Ruck riss er sie aus der Halterung.
Sammy zog Jim den Stiefel aus. Das Hosenteil des Raumanzuges rollte er nach oben. Auf halber Höhe des Unterschenkels prangte eine hässliche Wunde, die aus mehreren tiefen Kratzern bestand. Als hätte jemand eine Gabel hineingestochen und die Zinken dann mit Gewalt am Bein entlang gezogen. Blut lief in dünnen, pulsierenden Strömen hinab.
Sammy hob ein auf dem Boden liegendes, grüngelb ummanteltes Kabel auf und wickelte es einmal um Jims Oberschenkel. Dann zog er es so fest, dass Jim aufschrie. Mit zitternden Händen machte der Administrator einen Knoten hinein.
Russell ging die letzten Schritte, bis er direkt neben Jims Beinen stand. Sein Herz hämmerte wie wild. Seine Hände zitterten und er musste den Griff um den Stiel der Axt verschärfen, damit sie ihm nicht aus der Hand fiel.
»Oh Gott!«, flüsterte Gemma. Zuerst sah es so aus, als wolle sie nach draußen stürmen, aber dann ging sie in die Knie und hielt Jims unverletztes Bein fest. Candy beugte sich ebenfalls über Russells Sohn und fixierte seine Arme.
»Bitte, Dad, tu es nicht!« Jims Stimme ging in ein leises Wimmern über. Russell konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Stattdessen schaute er Sammy an. Der erwiderte seinen Blick mit großen Augen und aufeinandergepressten Lippen. Der Administrator rutschte wieder ein Stück nach hinten, legte Jims Arme über seine Brust und hielt sie fest. Dann nickte er.
Oh Gott, lass mich das überstehen! Lass Jim das überstehen!
Russell trat einen kleinen Schritt zurück.
Und lass mich nicht daneben schlagen!
Dann holte er aus.
Und schlug zu.
Es fühlte sich an, als bohre sich die Axt in einen dicken Ast, der mit Schaumstoff umwickelt war. Jim schrie. Blut spritzte an die Konsole an der Wand. Die Axt war in Jims Bein steckengeblieben. Russell hatte es nicht ganz durchtrennt. Er würde nochmal zuschlagen müssen!
Jim kreischte immer noch. Russell biss die Zähne zusammen und hebelte die Axt aus dem Bein. Er musste sich zwingen, die Wunde genauer anzusehen. Er hatte die Hälfte des Beins gespalten, das Fleisch klaffte über dem Knochen auseinander wie zwei Brotscheiben, die an einer Seite nicht ganz getrennt waren. Er musste dieselbe Stelle nochmal treffen.
Wieder holte er aus. Und schlug zu.
Oh Gott, diese Schreie!
Die Axt prallte vom Boden ab, das grausige Werk war vollbracht. Der Unterschenkel lag abgetrennt in einer dunkelroten Pfütze. Der Beinstumpf zuckte wild. Kleine Fontänen aus Blut spritzten aus dem Fleisch, versiegten aber bald. Sammy hatte das Bein gut abgebunden. Jims Schreie gingen in ein Gurgeln über. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Vielleicht war das besser so.
Russell kniete sich nieder und knotete den Raumanzug unter dem Stumpf zusammen. Den Stiefel ließ er neben dem abgetrennten Unterschenkel liegen.
»Komm, hilf mir«, sagte Sammy. »Wir müssen hier weg!«
Erst jetzt wurde Russell der Kampflärm auf dem Gang wieder bewusst. Sammy hatte recht. Die Infizierten mussten schon in ihren Schleusen sein. Bald würden die Eindringlinge sie einfach überrollen.
Russell half Sammy, Jim aufzurichten. Dann nahm er seinen Arm und hebelte sich seinen wimmernden Sohn auf den Rücken. Er verließ das Funkmodul, mit Sammy als Nachhut.
Breitbeinig stapfte er den kurzen Gang bis zum Knotenmodul entlang. Er griff Jims Arm mit der Linken und holte seine Pistole mit der Rechten hinaus. Das Schnellfeuergewehr hatte er liegen lassen.
An der Kreuzung hatten sich sein und Candys Trupp in den Seitengängen verschanzt. Sie feuerten in den abbiegenden Korridor hinein.
»Rückzug«, schrie Russell. »Alle zurück zum Transporter!«
Mit der Last auf dem Rücken war er trotz der geringen Schwerkraft hier wenig nütze. Candy würde die Verteidigung leiten. Russell warf einen kurzen Blick in den linken Gang, konnte aber keine Gegner erkennen. Er stolperte in den rechten Gang hinein, dem Transporterlabor entgegen. Sammy folgte ihm. Dann vernahm er nacheinander die schweren Schritte seiner Kameraden, die ihm einer nach dem anderen folgten.
»Gemma!«, rief er. »Komm her!«
»Ich bin hier«, antwortete die Physikerin. »Direkt hinter dir!«
»Geh voraus! An die Schalttafel des Supertransporters. Du trennst die Verbindung und nimmst den Transporter hier in der Mondbasis für immer aus dem Netz.«
»Verstanden!« Gemma lief voraus.
»Erst, wenn ich es dir sage«, schrie Russell ihr hinterher, aber sie war schon in der Öffnung des Transporters verschwunden.
Robert Cashmore und Max Lindwall liefen an ihm vorbei. »Moment!« Russell stoppte die beiden. »Nehmt mir Jim ab! Bringt ihn sofort zu Dr. Payne, ohne auf die anderen zu warten.«
Die beiden packten Jim unter den Armen und schleiften ihn in den Transporter. Russell stellte sich neben die Luke. Nur Candy und Sammy waren noch im Gang.
»Kommt schon!«, rief Russell.
Sammy stolperte in die Transporterhalle, dicht gefolgt von Candy. Endlich konnte Russell die Luke schließen. Sofort aktivierte er auch die Verriegelung.
Sein Blick traf sich mit dem Sammys.
»Geschafft!«, ächzte der Administrator.
»Sieht ganz so aus«, sagte Russell. Er dachte wieder an Jim. Hoffentlich würde er es schaffen. Hoffentlich waren die Sporen nicht schon in die Blutbahn gelangt und hatten es aus dem Unterschenkel hinaus in den Rest des Körpers geschafft.
Ein lautes Krachen ertönte von irgendwo jenseits der Luke. Hinter dem kleinen Sichtfenster konnte er Schatten erkennen.
»Ich glaube, wir verschwinden lieber«, meinte Sammy.
Russell nickte.
Gemeinsam liefen sie als Letzte zur Öffnung im Transporter. Gerade, als Sammy hineintreten wollte, hallte ein lauter Knall durch die Transporterhalle.
Russell fuhr herum.
»So eine Scheiße!«, rief Sammy.
Die Luke lag mitten im Raum vor dem Transporter. Sie mussten sie aufgesprengt haben. Schon ergoss sich ein Strom aus Infizierten in die Transporterhalle. Schüsse hallten durch den Raum.
»Weg hier!«, schrie Russell. »Sonst kriegen sie uns am Arsch!«
Sammy stolperte in den Transporter hinein, verlor endgültig den Halt und klatschte zu Boden. Russell half ihm auf. Candy bildete schießend und fluchend die Nachhut. Er wartete, bis sie auch durch war, dann hieb er mit der Faust auf die Außenwand des Transporters und schloss den Durchgang.
Gemeinsam liefen sie durch den grauen Korridor zwischen den Welten, vor sich die Biegung. Carrie Lawrence stand an der Kreuzung und starrte sie an.
»Lauf zu Gemma«, brüllte Russell. »Sie soll die Verbindung kappen. Lauf!«
Carrie rannte los und war sofort hinter der Biegung verschwunden.
Hinter ihnen hallten wieder Schüsse. Russell blickte zurück und sah die ersten Infizierten durch den Korridor des Transporters kommen. Candy schoss, traf aber niemanden. »Verdammte Bastarde«, schrie sie laut.
Endlich hatten sie die Kreuzung erreicht. Candy nahm Position hinter der rechten Ecke, Russell hinter der linken. Sie mussten die Kreuzung verteidigen, bis Gemma den Durchgang geschlossen hatte.
Russell hielt die Pistole um die Ecke und schoss ziellos in den Korridor. Nach zwei Schüssen war das Magazin leer. Schnell lud er nach. Es war seine letzte Munition. Erneut schoss er in den Gang hinein.
Wann verschließt Gemma endlich den verdammten Korridor?
Russell warf einen flüchtigen Blick um die Ecke. Sicher ein gutes Dutzend Infizierter lief auf sie zu. Sie ließen sich durch die Schüsse nicht abhalten. Auch Candys Pistole war leer geschossen. Sie fischte in der Tasche des Anzugs nach einem Magazin, konnte aber offenbar keines mehr finden.
Dann, ganz plötzlich, verengte sich der Korridor in der Mitte des Ganges. Die Öffnung des Transporters auf der Mondbasis schien von ihm fortzurücken. Russell kannte den Effekt schon von der Flucht von der Venusbasis. Es wirkte so, als würden die Infizierten wie von einem immer schneller werdenden Transportband in die Ewigkeit befördert werden.
Dann waren sie weg. Zusammen mit dem ganzen Korridor. Russell blickte auf eine glatte graue Wand aus Raumzeit.
Wir haben gewonnen!