Wollten die Untertanen des römischen Kaisers Nero in den Zirkus gehen und zuschauen, wie Akrobaten auf Stangen oder Seilen balancierten, wie Gladiatoren sich totschlugen oder Christen von wilden Tieren zerfleischt wurden (was, wie wir noch sehen werden, viel seltener geschah, als man allgemein glaubt), dann mussten sie den Tiber überqueren. Dort, wo heute die Peterskirche steht, lag gleich neben dem Friedhofsgelände, dem ager vaticanus, der Zirkus des Nero.
Das Zentrum der katholischen Kirche wurde also auf einem Zirkusgelände erbaut. Lästermäuler, die den täglichen Touristenbetrieb auf dem Petersplatz vor Augen haben, würden sagen: Das passt doch auch.
Dabei führen viele der heutigen Vatikanbesucher durchaus Frommes im Schilde, jedenfalls im Wortsinn: Die von ihren Reiseleitern hochgehaltenen Schilder weisen sie als Mitglieder von Pilgergruppen aus. Allerdings sind auch Pilger oft nicht mehr, was sie einmal waren. Das alte Wort »Pilger« signalisiert ehrbare Frömmigkeit, aber auch Entbehrungsbereitschaft – Eigenschaften, die ganz offensichtlich nur noch auf einen geringen Teil der Millionen von Menschen zutreffen, die Jahr für Jahr hierherkommen. Es sei denn, man wertet die Ergebenheit, mit der sich die Touristen vor dem Besuch der Vatikanischen Museen oder der Peterskirche in eine Warteschlange einreihen, als Entbehrungsbereitschaft im Sinne christlicher Demut. Dass die Vatikantouristen das auf sich nehmen, hat gewiss weniger mit persönlicher Frömmigkeit zu tun als mit der vor allen Highlights dieser Welt zu beobachtenden Mischung aus Neugier, Herdentrieb und fester Entschlossenheit, nur ja nichts zu verpassen.
Vom täglichen Rummel auf dem Petersplatz und um ihn herum zu reden ist selbst angesichts eines so ehrwürdigen Ortes weder sündhaft noch respektlos – es ist einfach realistisch. Vollends zirkusmäßige Züge nimmt das Ganze ausgerechnet da an, wo es um die zentrale Gestalt geht, um die sich all die anderen touristischen Attraktionen gruppieren: um den Papst, den auch von Nichtkatholiken ohne Weiteres sogenannten Heiligen Vater. Zum Spitzenevent, anders kann man das nicht sagen, wird für Massen von Rombesuchern daher die Teilnahme an den immer mittwochs stattfindenden und jedem (nach unkomplizierter Voranmeldung) zugänglichen Generalaudienzen des Papstes. Wer dafür keine Karte bekommen hat, reiht sich ganz ohne Anmeldung am Sonntagmorgen in den Zug der Zehntausende auf den Petersplatz ein, um dort das Angelusgebet des Papstes zu verfolgen, das dieser meist mit einer kurzen Ansprache vom Fenster seines Arbeitszimmers aus verbindet.
Der Vatikan, sagt man, hat in Wahrheit zwei Grenzen: eine unspürbare (aber durch einen hellen Streifen aus Travertinstein sichtbar markierte) vor dem Petersplatz, und eine unpassierbare: die Vatikanische Mauer. Es gibt natürlich trotzdem ein paar Möglichkeiten, dem Heiligen Vater noch näher zu kommen als bei den Generalaudienzen oder beim Angelusgebet. Selbst die Vatikanischen Mauern haben Lücken, doch zu denen kommen wir später. Vorläufig bleiben wir beim Zirkus.
Zweifellos wäre es höchst ungerecht, sämtliche Papsttouristen über einen Kamm scheren zu wollen. Die angesichts des leibhaftigen (wenn auch faktisch oft nur briefmarkengroß sichtbaren) Heiligen Vaters still vor sich hin betende indische Nonne oder der zu Fuß herbeigepilgerte und nun im Zustand seliger Erschöpfung verharrende Rucksacktourist aus Litauen: Auch solche Leute trifft man auf dem Petersplatz, aber sie werden immer rarer. Zur Regel geworden ist eher das Gegenteil, das – vorsichtig ausgedrückt – unbeschwerte Pilger-Outcoming, häufig verbunden mit lautstark nach Aufmerksamkeit heischenden Hinweisen auf sich selbst beziehungsweise auf die jeweilige Pilgergruppe: »Hallo Be-ne-detto, hier ist Bayern!« Oder Palermo, Boston oder Singapur.
Wobei man die Leute ja versteht: Sie wollen eben nicht nur sehen, sondern auch gesehen oder wenigstens gehört werden, und zwar, wenn es irgendwie geht, vom Papst persönlich – »Wahnsinn, er hat echt zu uns rübergeguckt!« Erst die (tatsächliche oder eingebildete) Reaktion des Oberhaupts der Christenheit vermittelt das Gefühl einer großen Begegnung, von der die beglückten Rombesucher ihren Freunden, Kindern und Kindeskindern oft noch jahrzehntelang zu erzählen pflegen. Muss man das am Ende nicht doch irgendwie als Ausdruck von Frömmigkeit deuten? Wenn ja, dann paart sich die Frömmigkeit auf dem Petersplatz mit einer höchst weltlichen Lust an der Selbstdarstellung. Ständig werden hier Fahnen geschwenkt, Bilder oder selbst gefertigte Transparente hochgehalten und lokaltypische Weisen abgesungen respektive geblasen.
Was übrigens Letzteres, das vatikantouristische Blaskonzert, betrifft: Die gewiss von Herzen kommende, aber in ihren Folgen vielleicht nicht völlig bedachte Sympathie des amtierenden Papstes für die bayerischen Gebirgsschützen und ihre Blaskapellen hat zum permanenten Ansturm sämtlicher Bläservereinigungen des Erdballs auf den Petersplatz geführt. Irgendwann im Mai 2007 saßen wir auf der Caféterrasse der Engelsburg (ein höchst empfehlenswerter Aufenthaltsort übrigens, mit prächtiger Aussicht auf den Vatikan – und der Cappuccino ist nicht einmal teuer). Eben war die Sonne untergegangen, als jähes Posaunengeschmetter, Paukenschläge und dumpfe Marschtritte den Frieden der vatikanischen Abenddämmerung unterbrachen: Unter uns, auf der breiten Via della Conciliazione, hatten sich mehrere Dutzend offenkundig deutschstämmige Blaskapellen gerade Richtung Peterskirche in Bewegung gesetzt.
»Sacco di Roma!«, kommentierte da fachkundig feixend ein am Nebentisch sitzendes amerikanisches Ehepaar, in Anspielung an den berüchtigten Romzug deutscher und spanischer Söldnertruppen im Jahr 1527 und zufällig ebenfalls im Mai. Die Attacke auf den Sitz des Papstes führte in der ganzen Stadt zu Plünderungen und unbeschreiblichen Metzeleien.
Die Peterskirche wurde damals übrigens, nachdem sie gründlich ausgeraubt war, von deutschen Landsknechten zum Pferdestall umfunktioniert. Der Papst konnte mit Mühe in die Engelsburg fliehen, und vielleicht hat er anschließend von deren Terrasse aus – genau wie wir heute – die in Richtung Petersplatz vorstoßenden Massen beobachtet. Oder blickte er dankbar zurück auf den Fluchtkorridor in jener Mauer, die den Vatikan mit der Engelsburg verbindet? In vielen Reiseführern wird dieser Korridor als »Geheimgang« bezeichnet – ein für die Vatikanliteratur typischer Romantizismus, dem wir noch öfter begegnen werden. Der Mythos Vatikan lebt nicht zuletzt davon, dass hier vieles als geheim ausgegeben wird, was in Wahrheit höchst prosaisch vor aller Augen daliegt. So auch jener Fluchtgang, dessen Verlauf bis heute nicht nur von der Terrasse der Engelsburg, sondern auch von den angrenzenden Straßen aus ohne Weiteres zu verfolgen ist.
Ganz so schlimm wie bei jener mittelalterlichen Plünderung ist es übrigens mit den Vatikanmarschierern des Frühjahrs 2007 dann doch nicht gekommen. Weil die bayerischen Gebirgsschützen dieses Mal zu Hause geblieben waren, gab es nicht einmal Waffen zu sehen, aber dafür jede Menge an merkwürdig großen Orden: Es war eine Reihe von Kölner Karnevalsvereinen, die sich da in ihren prächtigen Elferrats- und Prinzengarde-Uniformen gerade zum Papst aufmachten.
Viele altgediente Mitarbeiter des Vatikans nehmen die bisweilen arg heftigen Formen des Zuspruchs, die dem Papst und seinem Amtssitz zuteilwerden, mit eher gemischten Gefühlen auf. Und als an jenem Maiabend eine der in den Petersdom einmarschierten Blaskapellen dort allen Ernstes den Radetzkymarsch intonierte, hat das anderntags sogar in der römischen Hauptstadtpresse richtig böses Blut gemacht: Dass der österreichische Feldmarschall Johann Graf Radetzky, dem Johann Strauß (der Vater) mit seinem schwungvollen Marsch ein Denkmal setzte, die für die Freiheit und Einheit ihres Landes kämpfenden italienischen Truppen reihenweise niedergemetzelt hatte, hat hier bis heute keiner vergessen.
Jetzt sind wir, dank deutscher Blasmusikexzesse, weit in der Geschichte vorgeprescht, und wollten doch eigentlich, wie es sich gehört, am Anfang beginnen, bei der auf Geheiß des Kaisers Nero aus Stein und Holz erbauten Zirkusarena eben, auf deren Trümmern der erste Vorläuferbau der Peterskirche entstand. Dort, wo der Vatikanische Hügel ins Flachland übergeht, hatte Nero unter anderem gefangene Christen verbrennen oder sie, zum Gaudium des Publikums, von möglichst exotischen wilden Tieren zerreißen lassen. Das alles, wie gesagt, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Friedhofs, eben des ager vaticanus.
Nun waren die Römer zwar bei ihren Zeitgenossen geradezu berüchtigt für ihren Ordnungswahn; die streng geometrischen Strukturen der meisten wieder ausgegrabenen römischen Kastelle und Militärlager geben bis heute einen Eindruck davon. Anders war es, wo es um die Toten ging (jedenfalls um die nicht prominenten, die man auf öffentlichen Friedhöfen vergrub). Stramme Ordnung auf Friedhöfen, das haben so richtig erst wir Deutsche kultiviert. Gemessen daran müssen wir uns den ager vaticanus als einen eher chaotischen Totenacker vorstellen. Dazu passt, dass der Friedhof selbst dann noch in Benutzung blieb, nachdem Nero dort seinen Zirkus errichtet hatte. Der makabre Aspekt jenes Nebeneinanders scheint den alten Römern weniger bewusst gewesen zu sein als der praktische: Auf diese Weise ließen sich die zahllosen während der Zirkusvorführungen anfallenden Leichen ohne Transportschwierigkeiten entsorgen.
Verscharrt wurde unter solchen Umständen – so besagt es jedenfalls die Gründungsgeschichte des Vatikans und des katholischen Papsttums – auch der Leichnam des Simon Petrus, jenes galiläischen Fischers also, der sich, ums Jahr 60 nach Christi Geburt, nach seinem Glaubensgefährten und ehemaligen Gegenspieler Paulus selbst auf den Weg nach Rom gemacht hatte, um dort die schon gar nicht mehr so kleine christliche Gemeinde zu stärken.
Wohlmeinende Freunde, so die Überlieferung, hatten Petrus dringend von seiner Romreise abgeraten. Grund dafür war eben die Verfolgungsjagd auf die Christen, die sich Kaiser Nero ausgedacht hatte, wohl aus dem gleichen Grund, von dem sich Politiker bis heute gern leiten lassen, wenn sie die Diskriminierung und die Verfolgung von Minderheiten fördern: Man kann damit wunderbar von eigenen Unzulänglichkeiten ablenken – und zugleich die Unzufriedenheit der Untertanen auf bequeme Weise kanalisieren.
Ob Nero in einem Anfall von größenwahnsinniger Pyromanie den großen Brand des Jahres 64, dem beinahe ganz Rom zum Opfer gefallen wäre, tatsächlich selbst legte, ist dabei unerheblich. Entscheidend war: Die Katastrophe ließ sich hervorragend der merkwürdigen Jesussekte in die Schuhe schieben. So wurde sie zum Auslöser nicht nur für die erste Verfolgungswelle in der Geschichte des Christentums, sondern paradoxerweise auch für die Entwicklung Roms von der Hauptstadt eines Weltreichs zum Zentrum einer Weltkirche.
Nicht einfach zu beantworten bleibt jedoch die Frage, wieso es ausgerechnet die Christen getroffen hat. Für die Rolle der diskriminierten Außenseiter standen schließlich noch viele andere Kultgemeinschaften oder Geheimbünde zur Verfügung. Ob ägyptische Isis- oder phönizische Baalsanbeter, ob germanische Verehrer der Götter Wotan und Thor oder Anhänger des kretischen Stierkönigs Minotaurus, ob streng orthodoxe Juden oder Mitglieder des exklusiven griechisch-orientalischen Mithraskults: Sie alle lebten in der Hauptstadt des römischen Weltreichs und konnten dort – und gerade dort – ihren Glauben weithin unbehindert praktizieren.
Was die Religionen seiner Bürger anging, war Rom ein vorbildlich freizügiger Staat. Rom beherrschte und unterdrückte die Welt, schon wahr – aber es beherrschte und unterdrückte sie nach Grundsätzen, deren Rationalität bis heute nicht ihresgleichen gefunden hat. Neue Untertanen hatten sich in die politischen Strukturen des Weltreichs einzufügen, hatten den neuen Herren also vor allem Steuern und Abgaben zu zahlen sowie Kriegsdienste zu leisten, und damit basta. Was die Menschen dabei dachten, welchen Lebensgewohnheiten, welchen Idealen oder auch welchen Glaubensüberzeugungen sie anhingen, blieb ihre Privatsache – kaum jemand störte sich daran.
Ja, mehr noch: Die Römer, ihrem Ursprung nach ein Stamm von eher phantasielosen Bauern mit – eben wegen ihrer Phantasielosigkeit – überdurchschnittlicher militärischer Begabung, importierten die Kultur, die ihnen selbst fehlte, gern aus den von ihnen eroberten Gebieten. Das gilt besonders für alles Religiöse: Noch unter den ersten römischen Kaisern – in der Zeit, von der wir gerade reden – setzte sich Roms offizielle Staatsreligion ohne jede römische Eigenzutat aus Elementen der etruskischen Wahrsagungs- und Weihekulte sowie des griechischen Götterglaubens zusammen, aus Religionen der Gebiete also, die römische Soldaten als Erste erobert hatten und die damit zur Machtbasis für alle späteren Expansionen geworden waren.
Es war wenn schon nicht echte Toleranz (die würde einen eigenen Standpunkt voraussetzen), so doch eine Art liberaler Wurstigkeit, die das religiöse Leben in Rom prägte. Fremde Kulte und Religionen – mit jeder Eroberung kamen ja neue dazu – wurden vom einfachen Volk mal bestaunt, mal bespöttelt, ähnlich wie fremde Moden oder Essgewohnheiten. Und wie diese wurden sie von der snobistischen Oberschicht gern importiert. Schon seit der Zeit der römischen Republik gab es sogar ein offizielles staatliches Verfahren für die »Einbürgerung« fremder Götter, die invocatio.
Jupiter hin, Jupiter her – es gehörte für einen römischen Würdenträger oder Millionär in den Jahrzehnten nach Christi Geburt nachgerade zum guten Ton, in die private Villa einen kleinen Isisaltar einbauen zu lassen oder an den spannend-obskuren Riten des Dionysos-oder des Mithraskults teilzunehmen. Übrigens griffen die Päpste, als sie die entscheidenden Würdenträger geworden waren, diese multikulturellen Traditionen auf ihre Weise auf. Immer wieder werden wir bei unseren Wanderungen durch den Vatikan auf Zeugnisse einer Sammelleidenschaft stoßen, die sich durchaus auf heidnische Kultgegenstände und andere Objekte von oft ominöser Art erstreckte. Auch nach dem Untergang des Kaiserreiches fühlte sich das nun christliche Rom als Welthauptstadt, in der das Exotische, das kulturell Fremde seinen eigenen Platz finden sollte.
Noch wichtiger für das Erscheinungsbild des Vatikans wie für die Struktur der katholischen Kirche ist die Tatsache, dass sich das zur abendländischen Alleinreligion gewordene Christentum auch und gerade jene römische Kultur aneignete, in die es zu Beginn so schwer integrierbar schien. Nach wie vor ist Latein die weltweit gültige Amtssprache der katholischen Kirche (im Vatikan steht sogar ein lateinischer Bankautomat), und nach wie vor tragen nicht nur der Papst und seine Kardinäle, sondern bei offiziellen Anlässen sogar die einfachen katholischen Priester statt Anzügen kleiderartige Gewänder, die auf die römische Tunika und Toga zurückgehen.
Mit ihrer Selbstromanifizierung war die katholische Kirche bis weit in die Neuzeit hinein beschäftigt. Und vieles von dem, was wir im Vatikan zu sehen bekommen, verweist auf diesen Assimilationsprozess, der auch einer der gegenseitigen Durchdringung von individuellem Glauben und staatlicher Ordnung, von religiöser Nächstenliebe und machtpolitischem Kalkül gewesen ist. Was dabei weitgehend verschüttet und deswegen für die Augen des heutigen Vatikanbesuchers fast unsichtbar wurde, ist die erste Phase des Christentums, sind die Gründungsjahre des Vatikans – Zeiten also, in denen von einem christlichen Rom so wenig die Rede sein konnte wie von einem römischen Christentum.
Damit stehen wir wieder vor unserer immer noch nicht beantworteten Frage: Wieso erschien den Römern ausgerechnet das Christentum so unvereinbar mit ihrer sonstigen Großzügigkeit oder auch nur Nachlässigkeit? Was um alles in der Welt stellten die frühen Christen an, dass sich die Wut der Römer so leicht gegen sie wenden ließ? Haben sie wirklich bei ihren Zusammenkünften kleine Kinder geschlachtet, wie die bösartige Fama damals verbreitete? Oder war es – eine scheinbar einleuchtende und daher besonders infame Unterstellung – die Eifersucht der in Rom durchaus geduldeten Juden gegenüber der Abweichlersekte, die die Christen als gefährliche Staatsfeinde erscheinen ließ?
Nichts von alledem lässt sich nur annähernd belegen. Noch 30 Jahre nach dem Tod des Jesus von Nazareth, eben zur Zeit Neros, wussten selbst gebildete Römer Juden und Christen nicht voneinander zu unterscheiden, wie der kurze Hinweis des Tacitus auf die erste römische Christenverfolgung zeigt: »Da die Juden unter ihrem Anführer Chrestos andauernd Unruhe stifteten . . .« Und der Vorwurf des Kinderschlachtens (vom Mittelalter bis zum modernen Antisemitismus der Nazis wurde er vor allem gegen die Juden erhoben) gehörte offenbar schon damals in die Schmuddelkiste notorischer Minderheitenverfolger. Die frühen Christen praktizierten in Wahrheit überhaupt keine Opfer. Nicht einmal die verbreitete These, die Kommunionfeier während der christlichen Messe (bei der aus Brotgetreide gebackene Hostien als »Fleisch und Blut« Christi gegessen werden) sei damals böswillig falsch interpretiert worden, ließ sich je konkret beweisen.
Und doch war es wohl kein Zufall, der die Christen zumindest in den Augen des Kaisers und des römischen Establishments als passende Opfer einer Verfolgungskampagne erscheinen ließ. Vieles spricht dafür, dass das Anstößige am Christentum nicht in irgendwelchen erfundenen oder wirklichen Äußerlichkeiten zu finden ist, sondern tatsächlich im Kern des christlichen Glaubens selbst. Neu nämlich an diesem Glauben, so neu, dass er auf die damalige Mitwelt geradezu revolutionär wirken musste, war dessen Beschränkung auf einen einzigen Gott – noch dazu auf einen, der schimpflich am Kreuz zugrunde gegangen war. Damit stellte das Christentum so gut wie alles, was Menschen bis dahin über höhere Wesen geglaubt hatten, radikal auf den Kopf: die alte Vorstellung von unergründlichen Naturgeistern, denen der Mensch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, ebenso wie die Ideen von Göttern und Göttinnen als mehr oder weniger allmächtigen Übermenschen, deren Wohlwollen sich immerhin durch allerlei Gefälligkeiten erkaufen ließ.
Sicher hat ein Teil der römischen Oberschicht (man braucht da nur die Schriften von Neros Chefberater Seneca nachzulesen) zu jener Zeit privat nicht mehr wirklich an die Existenz der damals üblichen Götter geglaubt. Doch der entscheidende Akzent lag dabei eben auf dem Wort »privat«. Seneca und andere Bildungsbürger der Antike mochten persönlich nicht mehr an die Götter glauben, doch am römischen Götterkult hielten sie unbeirrt fest. De facto nämlich war der in erster Linie römischer Staatskult, als populärer Ausdruck einer festgefügten Vorstellung von Oben und Unten. Dass sich das öffentliche Leben, dass sich irgendeine Gesellschaft ohne dieses Prinzip gestalten ließe, hielten die Leute damals für eine vollkommen verrückte, ja unzumutbare Idee.
Die frühen Christen indessen sahen das ganz anders. Zeitgenössischen Urteilen zufolge waren es dabei nicht etwa vermutete Umwälzungsabsichten, die für die Ablehnung der christlichen Religion sorgten. Dass Sklaven sich von ihren Ketten befreien wollten, um – wie im Spartakusaufstand – ihrerseits zur Macht zu drängen, fanden Roms Intellektuelle zwar unpraktisch und unangenehm, im Grunde jedoch völlig verständlich: Das Prinzip Macht wurde auf diese Weise ja geradezu bestätigt. Was aber sollte man von Leuten halten, die einfach zu jedem, egal ob Herr oder Sklave, gleich freundlich zu sein versuchten? Die jemanden als Gottessohn verehrten, der als ganz normaler Mensch am Kreuz gestorben war, und das nicht einmal mit einem triumphierenden Lächeln, sondern mit einer verzweifelten letzten Frage auf den Lippen: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Das Harmloseste, was römische Zeitgenossen angesichts einer solchen Einstellung empfinden konnten, war Verachtung. Vor allem jene aber, die das Prinzip Macht verinnerlicht hatten, reagierten mit Abwehr und Aggression.
Was 300 Jahre später unter dem letzten gesamtrömischen Kaiser Theodosius I. passieren sollte – die Einführung des Christentums als römische Staatsreligion –, hätte zu Neros Zeiten kein Römer (und wohl auch kein Christ) für möglich gehalten. Als fromme Märtyrer wurden die Opfer der ersten Christenverfolgung immer verehrt; aber erst der spätere Aufstieg des Christentums, gedeutet als Triumph des bloßen Glaubens und Gottvertrauens über die reale Macht, ließ sie im Rückblick als Helden der ersten Stunde erscheinen.
Spätestens nach diesem Triumph mochten die Christen keinen Zweifel mehr daran aufkommen lassen, dass natürlich auch und gerade jener Apostel, dem Jesus Christus symbolisch die Schlüssel seiner Kirche in die Hände gelegt hatte, zu den frühen Helden der römischen Kirchengeschichte zählte. Allerdings: Dass Petrus in Rom als erster Papst amtiert hat, lässt sich bis heute so wenig beweisen wie dass er überhaupt jemals hier lebte. Es sei denn, man nähme die Existenz des unterhalb der Peterskirche liegenden Petrusgrabs als Beweis. Allerdings ist dessen Echtheit immer noch nicht zweifelsfrei belegt.
Immerhin war Roms christliche Gemeinde sich zu Konstantins Zeiten sicher, das echte Petrusgrab zu kennen. Von dessen Authentizität scheint auch Konstantin überzeugt gewesen zu sein. Hätte er sonst die dem heiligen Petrus geweihte Basilika, die an der Stelle der heutigen Peterskirche stand, genau über jenem »von alters her« verehrten Grab erbaut? Genauer gesagt ließ Konstantin über dem alten Grab ein neues Grabmal errichten, die sogenannte Memoria Petri, die in der Apsis stand, also dem Altarraum der alten Peterskirche. Weil die neue Peterskirche im 16. Jahrhundert über dem Fundament der alten errichtet wurde, liegt die Memoria heute genau unterhalb des Papstaltars in der Confessio, einer Art Unterkirche.
Um das Petrusgrabmal zu sehen, muss man übrigens nicht einmal in dieses Grabgewölbe hinuntersteigen (obwohl das schon wegen der vielen anderen ebenfalls dort liegenden Papstgräber keine schlechte Idee wäre). Direkt vorm Papstaltar von Sankt Peter erlaubt eine Öff nung im Boden den direkten Blick auf die Memoria, die jahrhundertelang schlicht als »Petrusgrab« bezeichnet und verehrt wurde.
Kommt es wirklich darauf an, ob Petrus hier de facto begraben liegt? Würde nicht auch eine fromme Illusion genügen, um das Andenken an den großen Apostel wachzuhalten? Andererseits, hier geht es schließlich nicht um irgendein historisches Detail, sondern um den Gründungsmythos der Peterskirche und des Vatikans schlechthin. Dies war wohl der Grund dafür, dass Pius XII. um 1940 den Auftrag zur näheren Erforschung eines Hohlraums unterhalb der Memoria gab, auf den man während der Arbeiten für das Grabmal seines Vorgängers gestoßen war.
Tatsächlich wurde dort unten die Gräberstraße einer alten römischen Nekropole (»Totenstadt«) entdeckt. Während in den Seitenwänden dieser Straße, nach römischem Brauch, immer wieder neue Gräber an die Stelle älterer traten, war eine Fläche stets frei geblieben. Innerhalb dieses Feldes, des sogenannten Campo B, befindet sich eine Ädikula, ein kleines Grabgebäude, bestehend aus zwei übereinanderliegenden, von einem roten Mäuerchen eingefasste und durch eine Marmorplatte getrennte Wandnischen. Ein zu großen Teilen verwitterter Graffito in der Nähe dieser Nischen enthält die aufeinanderfolgenden griechischen Buchstaben Π (P) und E. Aus alledem und zudem aus der Tatsache, dass jenes Wandstück genau unter dem Papstaltar und der Memoria Petri liegt, schlossen die vom Vatikan beauftragten Archäologen, dass sich an dieser Stelle das eigentliche Grab des heiligen Petrus befunden habe. Habe wohlgemerkt; denn, kleiner Schönheitsfehler, jenes Grabhäuschen ist wie die rote Mauer dahinter nachweislich erst im zweiten Jahrhundert entstanden.
So nahe dran und doch noch nicht am Ziel, dem echten Grab des realen Petrus. Die Archäologen gaben nicht auf. Es gelang ihnen, anhand von Knochenfunden unweit der roten Mauer und von Spuren älterer Grabaufschüttungen immerhin der Indizienbeweis dafür, dass jenes Grabhäuschen nicht für einen soeben Gestorbenen bestimmt war, sondern offenbar zur Aufnahme von Gebeinen aus einem in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden, jedoch nicht mehr erhaltenen älteren Grab. Dem endgültig echten Petrusgrab?
Die gefundenen Knochen stammten, wie sich nach langen Untersuchungen herausstellte, von drei verschiedenen Personen, darunter einer Frau. Wie aber sollte man bestimmen, ob einige der männlichen Knochen tatsächlich einst dem heiligen Petrus gehört hatten? Dafür bräuchte man zweifelsfrei identifizierbares genetisches Material aus einer anderen Quelle – von der nach Lage der Dinge weit und breit keine Rede sein kann. Mit anderen Worten: Spätestens hier ist und bleibt die Wissenschaft am Ende.
Dass die Nekropole unter der Peterskirche nicht allgemein zugänglich ist, bedeutet allerdings nicht, dass der Vatikan da irgendetwas vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen möchte. Man hat vielmehr Angst vor Souvenirjägern, die dort unten kleine Mauerpartikel an sich nehmen könnten. Besichtigen kann man die Nekropole gleichwohl, wenn auch nur nach schriftlicher Voranmeldung, am besten per Fax beim Ufficio Scavi (»Höhlenbüro«) unter der Nummer ++39 06 69 87 30 17. Man sollte das lange vor einem Rombesuch erledigen; denn es kann einige Wochen dauern, bis man einen Termin für eine geführte Tour bekommt. Und Petrusgrab hin oder her: Der Ausflug in die vatikanische Unterwelt lohnt sich in jedem Fall, auch wegen der vielen anderen Gräber und vor allem wegen der Atmosphäre der Nekropole: Hier weht einen tatsächlich der Hauch von Jahrtausenden an.