Immer an der Wand lang

Ein Rundweg im Schatten der vatikanischen Mauern

Nicht einmal eine Stunde dauert es, den Vatikan zu Fuß zu umrunden. Vom Petersplatz aus folgt man dabei zunächst den Schildern zu den Vatikanischen Museen und bleibt von da an auf dem Viale Vaticano, der einen – immer an den Mauern entlang – in einem großen Bogen um die Vatikanischen Gärten herumleitet. Die kleine Tour fördert die Fitness (schließlich besteigt man in ihrem Verlauf den Vatikanischen Hügel) und konfrontiert den Wanderer eindrucksvoll mit atmosphärischen Kontrasten, wie sie für die Großstadt Rom typisch sind: Erst die bunte und laute Betriebsamkeit um die Piazza del Risorgimento im Nordosten der Peterskirche, wo die vatikanischen Touristenströme sich mit dem Alltagspublikum der hier einmündenden Einkaufsboulevards mischen – und dann, nur ein paar Minuten später, die fast ländliche Stille über den kleinen Wiesengrundstücken auf der Kuppe des Hügels.

Blicke ins Innere der Vatikanstadt erlaubt dieser Rundweg allerdings nicht: Die hohen Mauern senken sich erst da, wo sich der Viale Vaticano überraschend von ihnen abwendet, um in einer engen steilen Rechtskurve in die Via Benedetto XIV. überzugehen. Die Straße weicht hier dem Viadukt aus, über den die vatikanische Eisenbahnlinie die große Via Aurelia überquert.

Wie bitte? Die vatikanische Eisenbahnlinie? O ja, der Kleinstaat betreibt eine eigene Eisenbahn. Und rein mathematisch, nämlich am Verhältnis von Staatsfläche zu Schienenkilometern gemessen, besitzt er das dichteste Eisenbahnnetz der Welt. In absoluten Zahlen ausgedrückt besteht dieses Netz dabei nur aus exakt 624,5 Gleismetern, die noch dazu nicht sehr häufig benutzt werden.

Die vatikanische Bahnlinie beginnt kurz hinter dem kleinen Bahnhof San Pietro (an der Via della Stazione di San Pietro), den man weder mit dem Bahnhof des Vatikans verwechseln sollte noch mit der viel bekannteren gleichnamigen Station der Metrolinie A: die liegt im Norden, also auf der anderen Seite des Vatikans, und trägt die Bezeichnung »San Pietro« eigentlich nur als Zweitnamen und den Touristen zuliebe, die sich aber dann furchtbar wundern, wenn sie den Metrobahnhof verlassen und sich statt auf dem Petersplatz im regen Großstadtgewusel der Via Ottaviano wiederfinden. »Ottaviano« nennen die Römer selbst diese Metrostation, und dies zu Recht: Bis zum Petersplatz steht einem von hier aus ein guter Kilometer Fußmarsch bevor.

Der eigentliche Bahnhof San Pietro ist eine Station der Regionallinien Roma–Viterbo (FR 3) und Roma–Civitavecchia (FR 5) der staatlichen italienischen Eisenbahn. Als innerstädtisches Transportmittel interessant ist – eine Alternative zur stets überfüllten Metro – vor allem die Linie FR 5. Deren Züge fahren vom römischen Hauptbahnhof Termini aus im Halbstundentakt in Richtung Civitavecchia, manchmal nur bis Cerveteri-Ladispoli, aber in jedem Fall bis San Pietro.

Auch auf dem Schienenweg kommt man also in die Nähe des Vatikans, doch leider nicht hinein: Die von hier abzweigenden Gleise der Vatikan-Eisenbahn sind für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Der einzige Personenzug, der hier fahren darf, ist der Sonderzug des Papstes, den dieser allerdings so gut wie nie in Anspruch nimmt. Zum bislang letzten Mal war das 2002 der Fall, als Johannes Paul II. direkt aus dem Vatikan zum Weltgebetstreffen nach Assisi reiste.

Malerisches Unkraut zwischen den Bahnschwellen gedeiht dennoch nur in der blühenden Phantasie mancher gedruckten Reiseführer. Die vatikanischen Reinigungsbeauftragten, die die Straßen, Plätze und Wege des Vatikans blitzsauber zu halten gewohnt sind, leisten auch auf der kurzen Bahntrasse ganze Arbeit. Und das vatikanische Bahnhofsgebäude, 1932 im Stil der Neoklassik aus hellem Travertinmarmor errichtet, könnte man ohnehin die schönste Eisenbahnstation der Welt nennen, wenn es nicht mittlerweile seinem ursprünglichen Zweck entfremdet und zum Kaufhaus für Textilien, Tabak, Schmuck und Uhren umfunktioniert worden wäre, allerdings zu einem der edelsten Textilkaufhäuser der Welt. »Nicht einmal Harrod’s ist schöner!«, sagte uns einmal der bei Radio Vatikan arbeitende Theologiestudent Ludwig Waldmüller.

Lust auf einen Einkaufsbummel? Daraus wird, wir sagen’s lieber gleich, ohne sehr gute Beziehungen zu einem Mitarbeiter des Vatikans wohl nichts werden. Und selbst wenn wir gar nichts kaufen wollten, sondern uns – das ließe sich etwas leichter arrangieren – in jenem Einkaufstempel nur einmal genauer umschauen: Von unserem gegenwärtigen Standpunkt am Ende des Viale Vaticano aus gesehen liegt der vorläufig immer noch hinter hohen Mauern.

Gleich links über uns befindet sich der steinerne Torbogen, durch den die Züge die Grenze zum Vatikan überqueren – doch den Blick darauf verdeckt eine offensichtlich gezielt auf die Gleisböschung gepflanzte Baumgruppe. Der Versuch, jene Böschung zu erklimmen, um die Bahngleise als privaten Fußweg in den Vatikan zu benützen, verspräche übrigens nur wenig Erfolg. Gleise wie Tor sind gut abgesichert und werden Tag und Nacht streng überwacht – hier, vor den Mauern, nicht von der vatikanischen Gendarmerie, sondern von der italienischen Polizei (und deren Videokameras). Eindringlinge hätten deshalb allenfalls die Aussicht, in einer römischen Arrestzelle zu landen.

Deutlich niedriger wäre die Gefahr, beim illegalen Grenzübertritt auf den Schienen der Vatikanbahn von einem Zug zermalmt zu werden. Zwar sorgt das Kaufhaus drüben im alten Bahnhof – ähnlich wie die Annona, der vatikanische Supermarkt – dafür, dass die Gleise des Kleinstaats wenigstens von Güterwagen befahren werden. Sie transportieren einen Teil der Waren, die in den Läden zollfrei verkauft werden. Doch diese Transportzüge sind allenfalls ein- bis zweimal am Tag unterwegs.

So bleibt es dabei: Die Hoffnung, irgendwo einen inoffiziellen »Durchschlupf« in den Vatikan zu entdecken, hat sich auf unserem Hügelrundgang definitiv zerschlagen. Wer da hinein will, muss sich wohl oder übel an die dafür vorgesehenen Eingänge halten. Einen von ihnen erreichen wir, wenn wir den Eisenbahnviadukt mittels zweier Fußgängertreppen unterqueren und so in die nun wieder an den Mauern entlanglaufende Via della Stazione Vaticana gelangen. Noch ein paar Schritte bergab, und wir stehen vor dem am wenigsten prominenten – aber deswegen leider nicht weniger gut bewachten – der Vatikanzugänge: dem Ingresso del Perugino.

Gern wird dieser Eingang von ortskundigen Gästen des vatikanischen Hotels Domus Sanctae Martae benutzt. Nach seinem großzügigen Ausbau im Jahr 1996 verfügt das fünfstöckige Etablissement zwar über 166 recht bequem eingerichtete Suiten, 22 Einzelzimmer und ein Appartement, doch spätestens beim Versuch, sich einen dieser Räume reservieren zu lassen, merkt unsereiner als normaler Sterblicher, dass das Domus Sanctae Martae kein Hotel wie jedes andere ist. Nicht dessen einziger Kunde, aber der einzige Buchungsberechtigte ist der Vatikan selbst, der hier seine besonderen Gäste unterbringt.

Wobei der Begriff »besonderer Gast« in der Praxis recht dehnbar ist: Während einer Papstwahl werden die Zimmer ausschließlich an die Kardinäle des Konklaves verteilt, nach dem Losverfahren übrigens, damit erst gar keine Rangelei über die Frage aufkommt, wem die schönste Suite zusteht und wer sich mit einem bescheidenen Zimmer begnügen muss. In ruhigeren Zeiten, wenn weder eine Papstwahl noch eine Bischofsversammlung und möglichst kein hohes Kirchenfest bevorsteht, haben durchaus auch niederrangige Geistliche, ja manchmal sogar Laien die Chance auf ein Logis im Vatikanhotel – immer vorausgesetzt, der Anlass ihres Besuchs erscheint der Kurie wichtig genug, um als Reservierungsbüro tätig zu werden.

Allerdings muss man nicht immer gleich die Kirchenregierung selbst bemühen, um als Außenstehender den Ingresso del Perugino oder eines der anderen Tore zum Vatikan passieren zu dürfen. Es genügt durchaus, wenn man sich auf ein appuntamento, also auf eine Verabredung mit einem oder einer der vielen hier arbeitenden Angestellten berufen kann. Dafür braucht man entweder ein persönliches oder sonst wie wichtiges Anliegen – oder man kennt einen, der einen kennt, der im Vatikan beschäftigt ist.

Katholisch muss man dafür nicht sein, und auch mit Glaubensfragen braucht ein Rendezvous im Vatikan nicht unbedingt etwas zu tun zu haben. Oft ist es schlicht der Beruf des Besuchers, über den sich ein Kontakt herstellen lässt: Wissenschaftler und mit Diplom- oder Doktorarbeiten befasste Studenten könnten die Dienste der Vatikanischen Bibliotheken in Anspruch nehmen wollen, Computerexperten interessieren sich bestimmt für die technischen Hintergründe des in den letzten Jahren rasch gewachsenen vatikanischen Netzwerks, Juristen werden jederzeit ein Thema fi nden, über das sie sich mit einem Kirchenrechtler unterhalten wollen, und für Handwerker, seien es Zimmerer, Schreiner, Schneider oder Goldschmiede, bieten die vielen Werkstätten des Vatikans ohnehin eine nahezu schlaraffenlandartige Fundgrube der Anregung. Gar nicht zu reden brauchen wir dabei von jenen Berufsgruppen, die hier, nach den Theologen natürlich, das leichteste Spiel haben: all jene, die theoretisch oder praktisch etwas mit Kunst im weitesten Sinn zu tun haben.

Wer eine der vielen Möglichkeiten zu einem Arbeitsoder Informationsbesuch im Vatikan nutzt, wird danach nicht nur vom Kirchenstaat selbst beeindruckt sein, sondern auch von den ebenso ungewöhnlichen wie alles in allem fast anachronistisch angenehmen Arbeitsbedingungen, die das Leben im Vatikan prägen. Bevor wir uns also dem Papst selbst und den hohen Würdenträgern zuwenden, sollten wir diese Alltags- und Arbeitswelt des Kirchenstaats etwas genauer ins Auge fassen.