Das katholische Imperium

Der Vatikan verwaltet nicht nur ein Weltreich des Glaubens, sondern nebenbei auch sich selbst: den kleinsten Staat des Erdkreises

Zwergstaaten kann man nur an anderen Zwergstaaten messen. Andorra, als semigeistliche Monarchie (Staatsoberhäupter sind der Bischof von Urgell und der französische Staatspräsident) dem Papst sozusagen teilunterstellt, ist fast 1000-mal, die Republik San Marino ist 120-mal und selbst das winzige Fürstentum Monaco immerhin dreimal größer als der Vatikan mit seinen 44 Hektar oder – wer weiß schon, wie viel ein Hektar ist – 440 000 Quadratmetern; das sind gerade mal eine Handvoll Fußballfelder.

Aber natürlich trügen solche Relationen, wie alle auf bloßen Zahlen beruhenden Angaben. Das nicht nur wegen der »gefühlten« Größe der geistigen Weltmacht Vatikan, sondern auch, weil zum Kerngebiet im Schatten der Peterskirche eine stattliche Reihe von exterritorialen Gebieten hinzukommen, die staatsrechtlich ebenfalls unter vatikanischer Hoheit stehen. So, um nur die wichtigsten zu nennen, der Nord- und der Westabhang des dem Vatikan benachbarten Gianicolo (einer der sieben römischen Hügel), der gesamte Laterankomplex mit seinem Palast und der päpstlichen Basilika San Giovanni, die Basilika Santa Maria Maggiore und der angrenzende Palast, die Basilika San Paolo fuori le mura und die dazugehörige Abtei, der nahe der Spanischen Treppe stehende Palast der für die kirchliche Arbeit außerhalb Europas zuständigen Kurienkongregation »Propaganda Fide«, die Kirche und der Palazzo di San Callisto in Trastevere, der Palazzo della Cancelleria am Corso Vittorio Emanuele II. und schließlich der Palazzo Courtial, das einzige dem Vatikan gehörende Gebäude, in dem ein – allerdings verpachtetes – Hotel betrieben wird: die Residenza Paolo VI. Außerhalb Roms kommt noch die päpstliche Sommerresidenz in den Albaner Bergen dazu: das Schloss von Castel Gandolfo mit seinen zahlreichen Gärten und Nebengebäuden.

Nicht unmittelbar, sondern nur als exterritoriale Gebiete zum Vatikan gehören merkwürdigerweise einige Bauwerke, die innerhalb der vatikanischen Mauern liegen: der Campo Santo Teutonico, der mächtige Palast der Glaubenskongregation links der Peterskirche, der größere Teil der dahinter liegenden großen Audienzhalle, auf deren Dach gerade eine riesige Solarzellenanlage installiert wurde, die den gesamten Vatikan mit Elektrizität versorgt. Exterritoriales Vatikangebiet sind schließlich auch die Päpstlichen Universitäten in der Stadt Rom, das nahe dem Petersplatz liegende deutsche Priesterkolleg Germanicum und das Gebäude von Radio Vatikan bei der Engelsburg.

Apropos Radio Vatikan: Dass die Gesamtfläche des Kirchenstaats eher eine Tendenz zum Wachsen als zum Schrumpfen hat, wird auf dem Monte Mario am nördlichen Stadtrand von Rom deutlich; dort, in der Nähe des Ortes Santa Maria di Galeria hat Radio Vatikan seine Sendeanlagen installiert, auf einer Gesamtfläche von mehr als 400 Hektar. Mit anderen Worten: Allein dieses Gelände, das seit 1953 ebenfalls zum exterritorialen Hoheitsgebiet des Kirchenstaats zählt, ist fast zehnmal so groß wie das eigentliche Kerngebiet des Vatikans.

Im Vergleich zu seiner einstigen Größe allerdings bleibt der heutige Kirchenstaat ein Zwerg – und ein Unikum: Wo sonst auf der Welt, außer im früheren Tibet, verfügte das Oberhaupt einer Religion zugleich über einen Staat, dessen Existenz sich wiederum allein aus der Religion rechtfertigt? Eben dieser Zusammenhang treibt die Kritiker des Papstes und der römisch-katholischen Kirche von Anfang an um. Woraus sollte sich überhaupt der Anspruch einer geistlichen Macht auf ein weltliches Herrschaftsgebiet ableiten?

Lange Zeit gründeten die Päpste diesen Anspruch auf die sogenannte Konstantinische Schenkung: Der römische Kaiser Konstantin, so behaupteten sie, habe bei seiner Taufe Papst Silvester I. und allen seinen Nachfolgern die Herrschaft über die gesamte Westhälfte des damaligen Römischen Reiches, also vor allem Rom und Italien, übertragen. Nichts davon ist richtig. Kaiser Konstantin hat sich in Wahrheit erst kurz vor seinem Tod 337 taufen lassen, und das auch nicht durch Papst Silvester I., der zu diesem Zeitpunkt selbst schon gestorben war, sondern durch den Bischof Eusebius von Nikomedia, der den Arianismus predigte, eine zu jener Zeit ebenso populäre wie umstrittene Variante des Christentums, die nur Gottvater (und nicht, nach dem Dreieinigkeitsprinzip, auch den Sohn und den Heiligen Geist) als wirklichen Gott anerkannte und später von der Kirche als Irrlehre verdammt wurde.

Immerhin hatte Konstantin 313 im Toleranzedikt von Mailand den römischen Staatsbürgern die freie Religionswahl zugebilligt. Das Edikt kam vor allem dem Christentum entgegen, das allerdings nicht bei dieser Gelegenheit, sondern erst 380 durch Theodosius I., den letzten Kaiser, der über beide Hälften des Römischen Reiches herrschte, zur offiziellen Staatsreligion erklärt wurde. Von der Abtretung der Macht an einen Kirchenstaat war aber weder unter Konstantin noch unter Theodosius die Rede. Die von der Kirche sorgsam gehütete Konstantinische Schenkungsurkunde wurde denn auch im 15. Jahrhundert durch die katholischen Gelehrten Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla als Fälschung entlarvt.

Dennoch hatte sich bereits zur späten Kaiserzeit, in der faktisch weniger der jeweilige römische Kaiser als vielmehr italienische Grundeigentümer, von außen eingedrungene Invasionsheere und die mal gegen die Eindringlinge kämpfenden, mal sich mit ihnen verbündenden Söldnerführer das Land beherrschten, der Grundstock des päpstlichen Herrschaftsgebiets herausgebildet. Das Patrimonium Petri, wie man diese vorwiegend in Mittelund Süditalien liegenden Ländereien zusammenfassend nannte, war vor allem durch private Schenkungen an die Kirche entstanden. Ein großer Teil davon ging aber im Lauf der folgenden Jahrhunderte verloren, in erster Linie an die sich in Italien immer mehr breitmachenden Langobarden.

Es war wieder eine Schenkung, die dem Papst die Herrschaft über die verlorenen Gebiete zurückbrachte: Der 751 zum König der Franken gewählte Pippin III. garantierte der Kirche im Gegenzug für die Legitimation seines Königtums durch den Papst die Herrschaft über Rom, die Toskana, Venetien, Istrien, die Herzogtümer Spoleto und Benevent, Ravenna sowie die Adriastädte Rimini, Ancona, Fano, Pesaro und Senigallia. Auch die Urkunde der Pippinschen Schenkung ist nicht erhalten, weswegen über Einzelheiten ihres Inhalts lange debattiert wurde. Unbestritten ist aber aufgrund zahlreicher anderer Zeitdokumente die Tatsache dieser Schenkung selbst, die dem Patrimonium Petri eine staatsrechtliche Grundlage verlieh und den Papst mit einem Schlag auch zu einem weltlichen Machtfaktor in Europa machte.

Als weltliche Herrscher mussten sich viele Päpste in der Folge militärisch mit Konkurrenten um die Macht herumschlagen. Diese Situation wurde stets mit dem Argument gerechtfertigt, der geistliche Auftrag der Päpste sei ohne den Schutz irdischer Machtbefugnisse nicht durchführbar, stieß aber dennoch und fortwährend auf heftige Kritik – und lieferte so zumindest mittelbar einen der Gründe für die große, durch Martin Luther initiierte Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert. Zu jener Zeit hatte der Kirchenstaat seine größte Ausdehnung erreicht; hinzugekommen waren mittlerweile die Romagna sowie die Stadtstaaten Parma, Modena, Bologna, Ferrara und Perugia.

Von da an ging es allerdings stetig bergab mit der weltlichen Herrschaft des Papstes. Vollends den Garaus zu machen drohten ihm dann die Französische Revolution und die Machtpolitik Napoleons, der dem Papst gegenüber zunächst höchst wechselhaft agierte, ihn aber 1809 als weltlichen Herrscher schlicht für abgesetzt erklärte. Als Papst Pius VII. im Gegenzug und nach einer seit Jahrhunderten praktizierten Methode den Kirchenbann über Napoleon und alle seine Anhänger aussprach, ließ Napoleon ihn im Vatikan verhaften, nach Frankreich schaffen und in Fontainebleau internieren.

Nach Napoleons Sturz hat der Wiener Kongress zwar den Kirchenstaat wiederhergestellt und dem Papst die Herrschaft über Rom und Mittelitalien zurückgegeben, zugleich aber flammten von da an überall in Europa die nationalen Einigungsbewegungen auf. Sie alle standen wie das italienische Risorgimento, das neben der Herrschaft der Franzosen und der Österreicher über Norditalien vor allem die Existenz des Kirchenstaats leidenschaftlich bekämpfte, im Zeichen des Fortschritts. So war es kein Wunder, dass der nach veralteten und autoritären Methoden regierte Kirchenstaat als Verkörperung politischer Rückständigkeit schlechthin galt. Statt sich den neuen sozialen und gesellschaftlichen Ideen zu öffnen, taten die Päpste, vor allem der zunächst als liberal und aufgeschlossen geltende, aber über die Entwicklung zunehmend verbitterte Pius IX., genau das Gegenteil: Sie setzten auf Einschüchterung und Repression statt auf Einverständnis mit ihren Untertanen – und zogen sich damit erst recht deren Hass zu.

Das schlechte Image, das sich der Kirchenstaat so erwarb, hat selbstverständlich auch das geistliche Amt des Papstes in Mitleidenschaft gezogen und damit den Ruf der katholischen Kirche nachhaltiger geschädigt als die Machtexzesse mancher Päpste des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit.

Insofern darf man es, wiewohl die Päpste das lange anders sahen, durchaus als Erlösung begreifen, dass Garibaldi und seine Befreiungstruppen dem Kirchenstaat 1870 den Garaus machten. Bereits 1860 hatten sich all dessen Gebiete mit Ausnahme der Stadt Rom und des umliegenden Latium der neu entstandenen italienischen Republik angeschlossen. Rom selbst wurde noch von den Franzosen verteidigt, dessen Soldaten aber 1870 für den Krieg gegen Preußen gebraucht wurden und deshalb abzogen. Stante pede besetzte die italienische Armee den Rest des Kirchenstaats und übernahm die Herrschaft über ganz Rom einschließlich des Vatikans.

König Vittorio Emanuele II. bot dem im Vatikanpalast zurückgebliebenen Papst eine Art begrenzter Souveränität über den Palast, die Peterskirche und die Gärten an, doch der lehnte tief gekränkt ab: Er, der Herrscher des katholischen Weltreichs, sollte sich von einem banalen irdischen und damit, das glaubte Pius IX. noch immer, in der Hierarchie unter ihm rangierenden Herrscher irgendwelche Rechte verleihen lassen? Da sei Gott vor! Stattdessen regierten Pius IX. und seine Nachfolger die Kirche fortan demonstrativ als »Gefangene des Vatikans« (den sie in der Tat als Päpste kein einziges Mal verließen), um dergestalt – so hofften sie jedenfalls – der respektlosen Außenwelt ein schlechtes Gewissen zu machen.

Funktioniert hat das nie wirklich. Im Gegenteil: Die Gräben zwischen der katholischen Kirche und den weltlichen Mächten wurden fortan noch tiefer, obwohl oder gerade weil die Kirche nun gezielt die Bildung und die Aktivitäten papsttreuer katholischer Parteien zu fördern begann, die in ihren Ländern unentwegt Propaganda gegen die kirchenfeindliche Haltung ihrer Regierungen machten.

Es waren dann ausgerechnet Benito Mussolinis italienische Faschisten, die den so entstandenen »Kulturkampf« für sich ausnützten: Um seine Macht im katholischen Italien abzusichern, musste Mussolini sich dem Papst anzunähern versuchen. So kam es nach langwierigen Verhandlungen 1929 zum Abschluss der Lateranverträge, in denen der heutige Vatikan als souveräner Staat anerkannt wurde und der Papst im Gegenzug endlich offiziell auf seinen Herrschaftsanspruch über den alten Kirchenstaat verzichtete.

Doch auch wenn die Lateranverträge eindeutig die Geburtsstunde des modernen, nicht länger nach weltlicher Macht strebenden Vatikanstaats markieren, enthalten sie einige Überbleibsel aus den Zeiten, in denen der Staat des Papstes reale Machtpolitik betrieb. Das gilt selbst für den militärischen Bereich: Ausdrücklich billigen die Lateranverträge dem Vatikan das Recht auf eine eigene Luftflotte zu. Und es ist dessen freiwillige Entscheidung, dass sich diese Flotte gegenwärtig auf einen einzigen Hubschrauber beschränkt, der noch dazu nur von der italienischen Armee ausgeliehen und deshalb – wenn der Papst nicht gerade mit ihm nach Castel Gandolfo fl iegt – auf dem alten Militärflugplatz Ciampino stationiert ist. Ciampino, heute Roms zweiter Zivilflughafen, dient dem Papst auch als Start- und Landeplatz für längere Flugreisen, bei denen er traditionell eine Maschine der italienischen Gesellschaft Alitalia für den Hin- und eine des Gastlandes für den Rückflug benutzt.

Noch kurioser als das Recht des Vatikans auf eine Luftflotte ist das auf eine eigene Marine, das allerdings vollends nur auf dem Papier der Lateranverträge steht, als juristisches Überbleibsel der Auseinandersetzungen um einen direkten Meerzugang des Vatikans, um den sich dessen Delegierte bei der Aushandlung der Verträge vergeblich bemüht hatten.

Während es somit keine vatikanische Dreimeilenzone gibt, besitzt der Kirchenstaat sehr wohl die Lufthoheit über sein Territorium, dessen Überfliegen sämtlichen zivilen und militärischen Maschinen streng verboten ist. Einmal hat das allerdings nichts geholfen: Am 5. November 1943 fielen Bomben auf den Vatikan. Ob das Flugzeug, das sie abwarf, ein alliiertes oder ein italienisches war, hat man nie herausgefunden. Damals ließ man die Sache schon deswegen auf sich beruhen, weil die Schäden sehr überschaubar waren: Eine Bombe durchschlug das Dach der Mosaikwerkstatt, einige Fenster der Peterskirche gingen zu Bruch, doch Menschen wurden nicht verletzt.

Staatsoberhaupt des Vatikans, beziehungsweise, auf den kleinen Unterschied wird es gleich noch stark ankommen, des Staates der Vatikanstadt (Stato della Città del Vaticano) ist selbstverständlich der Papst, rechtlich gesehen als Alleinherrscher und damit als letzter absoluter Monarch Europas. Weil er nun aber wahrlich Besseres zu tun hat, als sich um die Verwaltung eines Zwergstaats zu kümmern, hat er eine gesetzgebende Institution berufen, die Päpstliche Kommission für den Staat der Vatikanstadt, und zugleich eine Regierung, den sogenannten Governatorat, die für die Ausführung der Gesetze zuständig ist, also für die Verwaltung der materiellen Infrastrukturen des Vatikans wie die Strom-, Gas- und Wasserversorgung, die Verkehrswege und Gärten und vor allem für die Instandhaltung der Gebäude.

Was in einer Demokratie undenkbar wäre, ist im Vatikan der Fall: Der Leiter der Legislative und der Leiter der Exekutive sind gegenwärtig in einer Person vereinigt, der des italienischen Kardinals Giovanni Lajolo. Wer glaubt, Lajolos Versetzung aus dem Päpstlichen Staatssekretariat, wo er als zweithöchster Mann fungierte, ins Amt des vatikanischen Regierungschefs und des Vorsitzenden der Legislativkommission sei ein Aufstieg auf der Karriereleiter gewesen, könnte falscher nicht liegen. Die Spitzenämter in der Kirchenstaatsverwaltung gelten vatikanintern definitiv als Abschiebeposten – ein sehr deutliches Indiz dafür, dass der Vatikan seine staatliche Existenz nur mehr als notwendiges, aber im Grunde völlig unwichtiges Element empfindet.

Darüber, wo die Verwaltung des Staats der Vatikanstadt residiert, glaubt wieder einmal unser personifizierter Running Gag Dan Brown Bescheid zu wissen: Dem »Illuminati«-Autor zufolge wird einem der Weg zum »Palazzo Governativo« in den Vatikanischen Gärten gewiesen, und zwar auf »in alle Richtungen weisenden Schildern«. Wer jemals, ob als Teilnehmer einer Gartenbesichtigung, als Apothekenkunde oder sonst wie im Vatikan umherging, wird festgestellt haben: Wegweisende Schilder gibt es hier leider gar nirgends, aus erklärbarem Grund: Die Leute, die im Vatikan leben und arbeiten, haben eh keine Orientierungsprobleme – und Fremde dürfen ja offiziell gar nicht erst herein.

Auch den in »Illuminati« erwähnten »Palazzo Governativo« wird man vergeblich suchen. Was Brown meint, ist der »Palazzo del Governatorato«; und während man diese Verwechslung ähnlich klingender Worte noch als lässige Sünde zu vergeben bereit ist, begibt sich der Bestsellerautor bereits auf die Ebene kompletter Realitätsverweigerung: Er beschreibt den Gouverneurspalast wegwerfend als »schlichtes Gebäude«, während er die »päpstliche Residenz« in ihrer »barocken Pracht nur von Versailles übertroffen« wähnt.

In Wahrheit ist es umgekehrt: Viele Besucher, die zum ersten Mal im Vatikan herumgeführt werden, halten den Gouverneurspalast hinter der Peterskirche wegen dessen gewaltig in die Höhe wie in die Breite ausladender Fassade irrtümlich für die Papstresidenz, während sich der aus verschiedenen Bauteilen scheinbar ohne Plan zusammengesetzte reale Papstpalast nicht einmal dann als eigenständiges Gebäude wahrnehmen lässt, wenn man unmittelbar davorsteht. Wie heißt es in Browns Vorwort zu »Illuminati« doch so wundervoll vertrauenerweckend: »Alle Hinweise auf Bauten beruhen auf Tatsachen . . .«

Zurück in die Wirklichkeit des Vatikans: Wir haben von der Regierung des Kirchenstaats gesprochen, von dessen Luftflotte und sogar von der vatikanischen Marine. Aber wie verhält es sich denn mit der Außenpolitik, mit den vielen diplomatischen Vertretungen des Vatikans in aller Welt und mit den hier akkreditierten Botschaftern? Haben wir die bislang absichtlich unterschlagen oder einfach nur vergessen?

Weder das eine noch das andere; denn der Staat der Vatikanstadt macht, sieht man von ein paar Fachkonferenzen zwischen römischen und vatikanischen Polizeioberen oder Elektrotechnikern ab, überhaupt keine Außenpolitik.

Die betreibt stattdessen ein zweiter hier angesiedelter Staat, wobei im Grunde weder das Wort »angesiedelt« noch das Wort »Staat« zutreffen: Der Heilige Stuhl, so heißt jenes sonderbare Gebilde, besitzt nämlich keinen Quadratmillimeter Staatsfläche – und unterhält doch als international anerkanntes Subjekt des Völkerrechts diplomatische Beziehungen zu etwa 180 Staaten in aller Welt, genießt den Status eines permanenten Beobachters bei den Vereinten Nationen (mit dem Recht, jederzeit in die Debatten von deren Vollversammlung einzugreifen) und ist aktives Mitglied zahlloser internationaler Kommissionen und Institutionen wie der Welternährungsbehörde, des Umweltrats oder des Weltkinderhilfswerks UNICEF.

Aber was oder wer ist das denn, der Heilige Stuhl? Vereinfacht gesagt lautet die Antwort: Der Heilige Stuhl ist völkerrechtlich identisch mit dem Papst – nicht mit dem Menschen, der jeweils dieses Amt innehat (ein Einzelner kann per se niemals Subjekt des Völkerrechts sein), sondern mit dem Amt als solchem, mit dem Papst als Institution. Diese in der Welt wie in der Geschichte einmalige Körperschaft ist ebenfalls durch die Lateranverträge rechtlich legitimiert. Das musste auch so sein; schließlich war es der Heilige Stuhl und nicht etwa der Staat der Vatikanstadt, in dessen Namen der Papst jene Verträge unterschrieb.

So ist es denn der Heilige Stuhl und nicht der kleine Stadtstaat, der den Vatikan noch heute als Mittelpunkt einer geistigen Weltmacht erscheinen lässt, deren intellektuelle und spirituelle Aktivitäten oft genug ins weltliche Machtgefüge eingreifen und dabei zuweilen, wie bei der Auflösung des einstigen Sowjetimperiums, massiv zu dessen Veränderung beitragen.

Im Unterschied zum Stadtstaat Vatikan hat der Heilige Stuhl keine Regierung im eigentlichen Sinn: Sein Souverän ist in jeder Hinsicht der Papst allein. Doch weil Macht nur da wirksam wird, wo man sie auch ausüben kann, bleibt die theoretisch unbegrenzte Machtfülle des Papstes in der Praxis sehr überschaubar. »Ich bin ganz und gar nicht die Nummer eins im Vatikan«, hat der bis heute populäre Papst Johannes XXIII. gesagt, »in Wirklichkeit habe ich mindestens sieben Leute über mir.«

Denen, die Bescheid wussten, war klar: Dieser Satz entsprang keineswegs der für diesen Papst typischen Mischung aus Humor und Bescheidenheit, sondern einer durchaus realistischen Selbsteinschätzung. Dem Papst allein steht die Macht über die katholische Kirche zu, gewiss. Aber auch der Papst ist schließlich ein Mensch – und kein Mensch kann eine solche Machtfülle in der Praxis allein wahrnehmen. Und so ist die Frage nach der Macht des Papstes immer eine Frage nach der Macht seiner engsten Mitarbeiter, also in erster Linie der römischen Kurie (so der Sammelbegriff für die Ämter, die die katholische Kirche im Auftrag des Papstes leiten) und der vom Papst ernannten Kardinäle innerhalb und außerhalb Roms.

Dass sich Kardinäle, die nach dem Papst höchsten Würdenträger der katholischen Kirche, in anderen Städten oder gar Ländern aufhielten, war noch bis zum Ende des Mittelalters undenkbar. Als besonders hervorgehobene Helfer des Papstes blieben sie zunächst stets in der Nähe von dessen Amtssitz. Auch der erste nicht italienische Kardinal (übrigens ein Bayer: Konrad von Wittelsbach, der im zwölften Jahrhundert das Amt des Mainzer Erzbischofs und damit eines der sieben Kurfürsten bekleidete) musste nach seiner Ernennung nach Rom übersiedeln. Diese Praxis änderte sich erst im 15. Jahrhundert. Von da an blieben die meisten Kardinäle an ihren ursprünglichen Bischofssitzen, während sich daneben im Vatikan eine Sondergruppe weiterer Kardinäle bildete, die mit zentralen kirchlichen Leitungsaufgaben beauftragt wurde – eben die Kurie.

Nicht nur Vatikankritiker bezeichnen die Kurie gern als das ZK, das Zentralkomitee, des Papstes – und kommen dabei der Wahrheit durchaus nahe. Die Kurie ist jedenfalls das zentrale Verwaltungsorgan der katholischen Kirche. Man könnte getrost auch vom zentralen Regierungsorgan der Kirche reden, wenn diese Bezeichnung nicht dem gerade von der Kurie – jedenfalls nach außen – hochgehaltenen Alleinherrschaftsanspruch des Papstes entgegenstünde.

Dass die Kurie als geheimnisumwoben gilt, hat weniger mit dem Hang ihrer Mitglieder zur Geheimniskrämerei und zu anderen Insiderattitüden zu tun (dergleichen ist schließlich auch bei den Regierungsorganen demokratischer Staaten die Regel) als mit ihrer im Lauf der Zeit immer komplizierter gewordenen Organisation, der enormen Vielfalt ihrer Aufgaben und der häufigen Kompetenzüberschneidung zwischen den einzelnen Abteilungen. Über all das kann sich theoretisch jeder Außenstehende informieren; in der Praxis wäre das jedoch mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Mühe verbunden. Der Vatikan macht kein Geheimnis aus den Organisationsstrukturen und Geschäftsverteilungsplänen der einzelnen Kurienämter. Um allerdings deren vielfach ineinandergreifendes Geflecht, inklusive aller von hohen Kurienbeamten offiziell und inoffiziell unterhaltenen Leitungen zum Papst zu entwirren, müsste man ein eigenes Buch schreiben. Gottlob haben das schon andere erledigt, unter anderem und auf besonders eindrucksvolle Weise der amerikanische Jesuit, Betriebswirtschaftsfachmann und Politologe Thomas J. Reese. Sein Buch »Im Inneren des Vatikans« ist ein hervorragendes Kompendium über die Leitungsbehörden der katholischen Kirche und liefert darüber hinaus eine hochgescheite kritische Analyse der Kurienarbeit und ihrer Effizienz.

So verlockend es wäre, aus Reeses ausführlichem Bericht (er umfasst fast 500 Seiten) hier das eine oder andere abzuschreiben: Das wäre nicht nur gemein, sondern würde zudem den Rahmen unserer Gebrauchsanweisung sprengen. Beschränken wir uns also aufs Wichtigste: Die Kurie besteht, in absteigender hierarchischer Reihenfolge aus dem Päpstlichen Staatssekretariat, den Kongregationen und den Päpstlichen Räten, die sich ebenso wie die Kongregationen aus einer Reihe von Mitgliedern zusammensetzen; hinzu kommen drei Gerichtshöfe (darunter die bekannte, weil auch für Eheungültigkeitserklärungen zuständige Sacra Rota) und einige weitere Büros für verschiedene ökonomische Angelegenheiten.

Die ältesten dieser Kurieneinrichtungen sind die Kongregationen; sie entstanden aus den von den Päpsten immer wieder zur Klärung bestimmter Glaubens- und Sachfragen einberufenen Sonderkommissionen und setzten sich ursprünglich ausschließlich aus Kardinälen zusammen. Die erste bekannte dieser Kongregationen, die sich als Dauereinrichtung etablieren konnte, war das 1542 gegründete, unter der Bezeichnung »Inquisition« berühmt und berüchtigt gewordene »Heilige Offizium«. Wobei das Wort »heilig« in diesem Zusammenhang nicht viel sagen will; alles und jedes in der Umgebung des Papstes galt damals als heilig, sogar die bald darauf gegründete zweite (und längst wieder abgeschaffte) Kurienkongregation zur Reinigung des römischen Kanalsystems und zur Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe, aus denen regelmäßig die Malaria Einzug in der Stadt Rom hielt.

In ihrer bis heute zwar erweiterten, aber im Wesentlichen kaum veränderten Gesamtorganisation geht die Kurie auf eine Konstitution (eine päpstliche Anordnung) Sixtus’ V. zurück, die höchst absichtsvoll mit den Worten »Immensi aeterni Dei« beginnt: »(Angesichts) der unermesslichen Ewigkeit Gottes . . .« Sixtus sah damals 15 Kurienkongregationen vor, von denen sich bis heute neun erhalten haben oder, wie die aus dem Heiligen Offizium hervorgegangene Glaubenskongregation, neu gegründet worden sind. Übrigens hat es bis 1965 gedauert, bis sich die Kirche, die die unmenschlichen Praktiken der Inquisition de facto längst überwunden hatte, dazu aufraffte, sich auch formal von ihrem Heiligen Offizium zu verabschieden.

Veranlasst wurde dieser Abschied durch das von Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanische Konzil, in dem die Kirche mit einem zunächst geradezu spektakulären Engagement versuchte, sich aus ihrer eigenen religiösen und gesellschaftlichen Erstarrung zu lösen. Dies bezog natürlich und sogar in erster Linie eine Neuausrichtung der Kurie mit ein – weswegen die Kurie ihrerseits sich dem nach ihrer Ansicht allzu vehementen Eifer vieler Konzilsteilnehmer von Anfang an entgegenstellte. Die Front von damals ist im Vatikan noch heute, fast ein halbes Jahrhundert nach der Einberufung dieser bisher letzten Generalversammlung der katholischen Kirche, an allen Ecken und Enden spürbar. Nach wie vor ist es die Kurie, die sich allem nicht Althergebrachten zunächst einmal widersetzt – um es aber dann, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, geschmeidig und hocheffektiv in die Alltagsarbeit der Kirche umzusetzen.

Die Päpste waren in diesem nur selten öffentlich ausgetragenen Streit zwischen Reformern und Blockieren stets auf der Seite derer, die den neuen Geist des Konzils wirklich umsetzen wollten. Nur galt und gilt auch dabei die resignierende Feststellung Johannes XXIII.: »In Wirklichkeit habe ich mindestens sieben Leute über mir« – wobei Gott noch gar nicht mitgezählt ist. Die Namen und die genaue Anzahl dieser geheimen Vatikanchefs ändern sich natürlich im Lauf der Zeiten. Doch wer versucht wäre, sie konkret ausfindig zu machen, könnte die Suche in jedem Fall auf die Kurie beschränken.

Kandidat Nummer eins war dabei lange Zeit der Mann, der heute selbst Papst ist: Unter seinem Vorgänger Johannes Paul II., der sich explizit lieber um die Verkündung seines Glaubens und seiner Werte nach draußen kümmerte als um komplizierte theologische Detailfragen oder um vatikanische Interna, galt unbestritten der Präfekt (Leiter) der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, als der mächtigste Mann im Vatikan. Selbstverständlich kam ihm dabei sein Amt zugute: Auch wenn die Inquisition längst abgeschafft war, die Ratzinger übrigens mit dem durchaus klugen Argument verteidigt, sie habe trotz all ihrer schrecklichen Verirrungen zumindest für ein rechtliches Verfahren in den bis dahin nach Gutdünken und Eigennutz inszenierten Ketzerprozessen gesorgt – auch ohne die Inquisition also blieb die Glaubenskongregation weiterhin für die Grundbedingung allen kirchlichen Denkens und Handelns zuständig, eben für den rechten Glauben.

Die Devise »Wissen ist Macht« galt dabei nicht allein für das immense theologische Wissen des sein Fach bis heute brillant beherrschenden Kardinals Ratzinger, sondern darüber hinaus und vielleicht mehr noch für das Wissen über die Arbeit und die internen Beziehungen seiner Kurienkollegen, das er im Lauf von fast einem Vierteljahrhundert im Vatikan erworben hatte.

Mehr oder weniger stillen Gebrauch machte Ratzinger von diesem Wissen zweifellos schon als Kardinal. Als er dann Papst geworden war, wurde bald auch öffentlich sichtbar, wie konsequent er seine Erfahrungen mit der Kurie umzusetzen verstand. Hierher gehört unter anderem die Tatsache, dass der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation mit dem amerikanischen Kardinal William J. Levada einen Mann mit der Leitung dieses wichtigen Amts betraute, der zwar als außerordentlich solide und zuverlässig gilt, aber ganz bestimmt niemals in die Rolle des ersten Mannes im Vatikan hineinwachsen dürfte, die Ratzinger selbst unter dem früheren Papst ausgefüllt hatte.

Als äußerst mächtig gilt jene Kurienbehörde, die schon in der offiziellen Vatikanhierarchie den obersten Rang einnimmt: das Päpstliche Staatssekretariat. Trotz seines auch außerhalb des Vatikans großen Renommees gehört das Staatssekretariat zu den jüngsten Kurieneinrichtungen; es entwickelte sich nach und nach aus einer Art Privatkabinett, das die politischen Korrespondenzen des Papstes erledigte, zu einer eigenen Behörde. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat dann Pius VII. das Staatssekretariat zu einer Kurienkongregation für die außerordentlichen (also nicht religiösen) kirchlichen Angelegenheiten erhoben. Heute ist das Amt, das danach noch viele Umwandlungen erfahren hat, in einzelne Sektionen aufgeteilt. Die erste Sektion ist zuständig für die Allgemeinen Angelegenheiten, das heißt für den Kontakt mit den beim Heiligen Stuhl akkreditierten Botschaftern anderer Länder und umgekehrt mit den Päpstlichen Nuntien, die als Botschafter des Heiligen Stuhls den Papst (in der Praxis heißt das meist: das Staatssekretariat) bei den allermeisten Regierungen der Welt vertreten und dabei auch die Aktivitäten der katholischen Landeskirchen überwachen.

Mit anderen Worten: In der ersten Sektion des Staatssekretariats werden die Fäden gezogen, an denen die gesamte katholische Kirche hängt. Klar also, dass der jeweilige Kardinalstaatssekretär ein sehr mächtiger Mann ist. Für noch einflussreicher allerdings halten viele den Posten des sogenannten Substituten, der diese erste Sektion im Auftrag des Kardinalstaatssekretärs leitet und dem alle anderen Kurienbehörden regelmäßig Bericht zu erstatten haben.

Nicht zu unterschätzen ist daneben die Bedeutung der zweiten Sektion, die für die Beziehungen der Kirche zu den Staaten der Welt zuständig ist, weswegen man ihren Leiter auch als Außenminister des Vatikans bezeichnet.

Dem von 1939 bis 1958 regierenden Papst Pius XII., der wegen seiner höchst diplomatischen Haltung gegenüber den Nationalsozialisten und vor allem seiner allzu zögerlichen, ja schwächlichen Haltung gegenüber dem Holocaust bis heute in der Kritik steht, war der Posten des Staatssekretärs so wichtig, dass er ihn gleich mit sich selbst besetzte. So weit zu gehen liegt gewiss nicht in der Natur des heutigen Papstes. Doch wie klar Benedikt XVI. sich über die herausragende Bedeutung des Päpstlichen Staatssekretariats ist, zeigt die Tatsache, dass er schon bald nach seiner Ernennung die drei wichtigsten Köpfe austauschte. Als Nachfolger des langjährigen Staatssekretärs Angelo Sodano (dem bei der vorangegangenen Papstwahl noch vor Joseph Ratzinger große Chancen eingeräumt worden waren) ernannte er Tarcisio Bertone, einen zwar durchaus durchsetzungsfreudigen, aber bislang nicht für seinen Machthunger bekannten italienischen Kardinal. (Und dass Bertones Leidenschaft dem Fußball und der internen vatikanischen Fußballliga gilt, kann der Papst gelassen akzeptieren.)

Zum Nachfolger des zum Regierungschef des Vatikanstaats »beförderten« Außenministers Lajolo machte Benedikt XVI. den diplomatisch bestens geschulten, außerhalb des Vatikans bis dahin weithin unbekannten marokkanischen Erzbischof Dominique Mamberti, und als Substitut im Staatssekretariat fungiert nun anstelle des mit allen Wassern gewaschenen, ebenfalls als möglicher Papstkandidat geltenden Leonardo Sandri der italienische Erzbischof Fernando Filoni.

Kurzum: Benedikt XVI. hat nach Kräften dafür gesorgt, dass er nicht unbedingt von sich sagen muss, er habe »noch sieben andere« über sich. Andererseits und wie schon gesagt, auch der Papst ist nur ein Mensch: Selbst wenn er es wollte, könnte Benedikt nicht seine gesamte Kurie umkrempeln. Und er konnte nicht verhindern, dass seine Personalpolitik die Stellung der beiden einst fast übermächtigen Kurienbehörden, des Staatssekretariats und der Glaubenskongregation, nicht nur dem Papst, sondern auch den anderen Kurienämtern gegenüber geschwächt hat. Überhaupt lässt sich, das weiß man im Vatikan besser als irgendwo anders, die Frage nach der Macht immer nur dialektisch diskutieren. Entzieht man dem einen Macht, sucht ein anderer das Vakuum auszufüllen – und der, der die Macht verteilt, wird gerade dadurch zum Spielball seiner eigenen Entscheidungen.

Einige Kurienbehörden jedenfalls machen sich derzeit große Hoffnung, aus dem mächtigen Schatten des Staatssekretariats herauszuwachsen. So die für die Verbreitung des Glaubens in nicht oder nur ansatzweise christianisierten Ländern wie China zuständige Kongregation Propaganda Fide oder die Bischofskongregation, die unter anderem die Ernennung aller katholischen Ortsbischöfe vorbereitet. Von der durch Benedikt XVI. deutlich forcierten Annäherung des Papstes an die orientalischen Katholiken wiederum hofft die Kongregation für die Ostkirchen zu profitieren.

Vor allem aber sind es die durch das Zweite Vatikanische Konzil ins Leben gerufenen Räte, die – nicht erst seit dem Amtsantritt des jetzigen Papstes – innerhalb der Kurie nach vorn drängen. An Bedeutung fürs Leben der Kirche haben einige von ihnen ohnehin bereits manche kleinere (aber offiziell höhergestellte) Kongregation übertroffen. In erster Linie gilt dies für den Rat Cor unum, der die vielfältigen Finanzhilfen und Spendenaktionen der Kirche für sozial Benachteiligte in aller Welt organisiert, für den angesichts der internationalen Entwicklung immer wichtiger werdenden Rat für den Dialog zwischen den Religionen und für den vom deutschen Kurienkardinal Walter Kasper geleiteten Rat zur Förderung der Einheit der Christen, der sich in ständigem Dialog vor allem mit den evangelischen Kirchen befindet.

Einer der Vorzüge der Räte besteht darin, dass sie mit den katholischen Landeskirchen wie mit anderen kirchlichen Organisationen, aber auch mit Laienvereinigungen meist erheblich enger und offener zusammenzuarbeiten bereit sind als die Kurienkongregationen, die sich allzu gern noch als päpstliche Kontrollbehörden gebärden. Zugleich erklärt das auch die Schwierigkeiten, die die relativ jungen Räte mit ihren älteren Schwestern, den Kurienkongregationen, haben.

Dabei sind es nicht nur die Päpstlichen Räte, die immer wieder mit den Kongregationen aneinandergeraten, sondern auch die Bischöfe der Weltkirche, die in einem regelmäßigen Turnus und nach Nationen sortiert zu »ad limina«-Gesprächen, das heißt zu Begegnungen mit dem Papst und der Kurie »an den Grenzen« des Vatikans geladen werden. Ja, selbst unter den nicht im Vatikan beschäftigten Kardinälen gibt es nicht wenige, die im Gespräch – nicht selten sogar an den Cafétischen einer der vielen Bars jenseits der Porta Sant’Anna – mehr oder weniger heftig aufseufzen, wenn die Rede auf die »mittelalterlichen« Praktiken der Kurie kommt.

Das hört sich für Außenstehende zumindest in den vielen Fällen erstaunlich an, in denen der Gram eines Kardinals nicht etwa von einem Amtsbruder, sondern von einem simplen Bischof oder gar einem schlichten Monsignore (so lautet der Ehrentitel für praktisch alle im Vatikan beschäftigten Priester) ausgelöst wurde. Ja, ist denn ein Kardinal nicht sehr viel mehr als ein Bischof oder ein einfacher Priester?

Theoretisch ja. Der Kardinalspurpur ist nach dem Papstamt die höchste Würde, die die katholische Kirche zu vergeben hat, obwohl oder vielleicht gerade weil sie nichts mit der kirchlichen Amtshierarchie zu tun hat. Die endet nämlich schon beim Bischofsamt; selbst der Papst leitet seine Stellung kirchenrechtlich nicht davon her, dass er Kardinal, sondern dass er der Bischof von Rom ist. Nirgends wird dieser Unterschied zwischen Amts- und Ehrenhierarchie so deutlich wie eben vor der Kurie, der gegenüber auch Kardinäle schnell klein aussehen können, wenn sie – und sei es durch einen als Untersekretär tätigen Monsignore – das Gewicht ihres Amtes ausspielt.

Übrigens muss jemand, gerade weil diese Würde nicht ans Amt gebunden ist, nicht Bischof und nicht einmal unbedingt Priester sein, um zum Kardinal ernannt zu werden. Ja, selbst eine Frau dürfte der Papst, darüber sind sich die Kirchenrechtler einig, in das Kardinalskollegium aufnehmen. Eine Utopie? Phantasie? Keineswegs. Der Jesuit Eberhard von Gemmingen, immerhin der Chef der deutschen Abteilung von Radio Vatikan, hält die Ernennung weiblicher Kardinäle für eine sehr gute Idee.

So könnte der lange Marsch der Frauen in die Hierarchie der katholischen Kirche einen vorläufigen symbolischen Höhepunkt finden – einen vorläufigen natürlich deshalb, weil auch die Abschaffung oder doch die Relativierung des Zölibats zu den großen Zukunftsaufgaben der Kirche gehört. Dass an der Zulassung von Verheirateten wie von Frauen zum Priesteramt kein Weg mehr vorbeiführt, weiß so gut wie jeder im Vatikan – nur wirklich vorstellen können (oder mögen) es sich viele noch nicht so recht. Wer die katholische Praxis in den Landeskirchen verfolgt, wo heute schon oft Pfarrreferentinnen auch in der Predigt und während der Messe (wiewohl nicht in deren Kernbestandteilen) Funktionen ausüben, die noch vor 20 Jahren Priestern vorbehalten waren, wird keinen Zweifel daran haben, dass sich die Frauen zumindest auf lange Sicht durchsetzen werden.

Eine Frau als Päpstin – das wäre zweifellos ein noch besseres Signal als ein weiblicher Kardinal. Aber leider ein vorläufig unmögliches. Apropos: Die schöne und seit langem kursierende Geschichte von der Päpstin Johanna, die sich als Mönch verkleidete, um auf den Papstthron zu gelangen, hält keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand.

Um auf die Kardinäle zurückzukommen: Für deren einzige, dafür wahrlich entscheidende Möglichkeit, direkt und ohne Störfeuer durch die Kurie Einfluss auf die Kirchenführung zu nehmen, sorgt das höchste ihrer Privilegien: Sie allein sind es, die den Papst wählen. Und sie sind es, die in der Zeit vor der Wahl eines neuen Papstes allein über das Schicksal und die Leitung der katholischen Kirche entscheiden. Sobald nämlich ein Papst gestorben ist, erlöschen auf der Stelle alle vatikanischen Amtswürden: Kein noch so machtbewusster Kurienpräfekt, kein Substitut, kein vatikanischer Richter hat dann als solcher etwas zu sagen.

Den äußeren Ablauf der Grablegung des alten und der Wahl des neuen Papstes ordnet in dieser Zeit der camerlengo, der vom Papst vorher zu diesem Zweck ernannte Kardinalkämmerer. Dass der derzeit mit dem Kardinalstaatssekretär Bertone identisch ist, würde seine Machtbefugnisse im Fall des Falles jedoch nicht erweitern. Die hat in der Interregnumszeit allenfalls der Kardinaldekan, der bis zur Wahl des neuen Papstes die Sitzungen der dann für die Kirchenleitung zuständigen Kardinalskommission leitet. Dieses Amt bekleidet übrigens der frühere Staatssekretär Sodano. Falls er die nächste Papstwahl erleben sollte, dürfte sein Einfluss allerdings wesentlich geringer sein als der seines Vorgängers in diesem Amt, Joseph Ratzinger, der gleich selbst Papst geworden ist. Eben das aber kann dem Kardinal Sodano nicht passieren: Er ist über 80 Jahre alt und damit von der Teilnahme an der Papstwahl ausgeschlossen.

Derzeit beträgt die Gesamtzahl der Kardinäle 176; fast ein Drittel hat das 80. Lebensjahr überschritten und scheidet somit aus dem Kreis der Papstwähler aus. Deren große Stunde schlägt frühestens nach einer neuntägigen Trauerzeit für den verstorbenen Papst. Sie werden dann zwar nicht mehr wie früher in der Sixtinischen Kapelle, dem Ort der Papstwahl, eingemauert, sondern beziehen bequeme Zimmer im schon erwähnten Vatikanhotel Domus Sanctae Martae. Auf jede Kommunikation mit der Außenwelt müssen sie dennoch verzichten; die Möglichkeit von Verstößen gegen dieses Gebot wird durch strengste (auch elektronische) Kontrollen ausgeschlossen.

Das genaue Procedere der Wahl müssen wir hier nicht beschreiben; jeder, ob Katholik, Muslim oder Heide, wird im Ernstfall durch Tausende von Medien bis ins Detail darüber unterrichtet. Entscheidend ist: Gesucht wird eine Zweidrittelmehrheit; die von Johannes Paul II. eingeführte Möglichkeit, nach über 30 erfolglosen Wahlgängen den Papst mit nur absoluter Stimmenmehrheit zu wählen, hat sein Nachfolger rückgängig gemacht. Stattdessen sollen die Kardinäle, mit Zweidrittelmehrheit, zwischen den beiden bisher aussichtsreichsten Kandidaten entscheiden, wer der neue Papst wird und damit das höchste Amt der katholischen Kirche bekleidet.