Wandlungen der Heiligkeit

Unnahbar ist der Papst längst nicht mehr. Benedikt XVI. lebt sogar in einer WG. Und mag ohne Frauen in seiner Umgebung nicht auskommen

Wenige Tage nach der Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst passierte etwas, das vielen alteingesessenen Vatikanbewohnern derart unfassbar erschien, dass sie es spontan als böswilliges Gerücht abtaten: Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, bezog die schon vorher als vertraute Freundin Ratzingers bekannte Ingrid Stampa eine Wohnung im Papstpalast. Wäre Frau Stampa eine Nonne, hätte kein Mensch überhaupt davon Notiz genommen.

Schon immer wirkten Ordensschwestern im päpstlichen Haushalt, meist als Köchinnen und Haushälterinnen, zuweilen aber auch als eine Art persönlicher Assistentin. So zuletzt die im Vatikan viel gefürchtete bayerische Schwester Pasqualina, die ihren als vollkommen unnahbar geltenden Dienstherrn Pius XII. eifersüchtig gegen alle persönlichen Kontakte abschirmte.

Ingrid Stampa jedoch ist das gerade Gegenteil der legendären Pasqualina, und das nicht nur, weil sie weder einem Orden noch sonst einer geistlichen Organisation angehört. Die attraktive, in Deutschland geborene und aufgewachsene Mittfünfzigerin hatte bereits eine erfolgreiche Karriere als Gambenspielerin und Musikdozentin hinter sich, als sie in Rom von einem Bekannten gefragt wurde, ob sie nicht für ein paar Tage dem Kardinal Ratzinger beistehen könne, dessen Schwester und Haushälterin gerade gestorben war. Sie sagte zu – und aus den paar Tagen wurden Wochen, Monate, Jahre: Ingrid Stampa war aus der Umgebung Joseph Ratzingers nicht mehr wegzudenken.

Sie sei »ein freier, fremder Vogel im Vatikan«, sagt Frau Stampa über sich selbst, »kein Typ für Institutionen oder Karriere.« Das mit dem freien Vogel glaubt ihr sofort, wer sie jemals als fröhlich-verwegen durch den römischen Verkehr kurvende Radlerin erlebt hat. Aber »kein Typ für Institutionen«? Lässt sich so etwas denn ausgerechnet im Vatikan, in der Nähe des Papstes durchhalten, wo alles und jeder seine in die Hierarchie eingegliederte Funktion hat?

Als Joseph Ratzinger, wie viele andere Kurienkardinäle, noch außerhalb der vatikanischen Mauern, in einem Mietshaus nahe dem Petersplatz, wohnte, war das kein Problem. Gelegentlich kochte Ingrid Stampa für den Kardinal (am liebsten »Semmelknödel oder Apfelstrudel«) und ging ihm im Haushalt zur Hand. Am wichtigsten war, das sagt sie selbst, die Begegnung der beiden »auf geistiger Ebene«, die sich in vielen Gesprächen (bei denen man bis heute keineswegs immer einer Meinung sei) zu einem »freundschaftlichen Verhältnis« entwickelt habe.

So weit, so erfreulich. Wohin aber mit der Freundin, wenn der Freund plötzlich Papst wird? Nicht nur im sittenstrengen und nach wie vor an der Ehelosigkeit der Priester festhaltenden Vatikan hätte die Gerüchteküche da zu brodeln begonnen. Doch gerade die Unbefangenheit, mit der Ingrid Stampa ihr Quartier in der Nähe des Papstes aufschlug, brachte alle Lästerzungen erst einmal zum Schweigen. Frau Stampa galt, irgendein Titel musste halt sein, als »Hausdame des Papstes« und nebenbei als Garantin dafür, dass im Vatikan an allerhöchster Stelle endlich wieder eine weibliche Stimme zu Gehör kam.

Dennoch: So etwas hatte man im Vatikan seit vielen Jahrhunderten nicht mehr erlebt – Grund genug für manche Medien, das ungeschriebene Stillhalteabkommen über das Privatleben Benedikts XVI. nicht lange durchzuhalten und allerlei Spekulationen über »die Lebensgefährtin des Papstes« anzustellen. Als das außer Kontrolle zu geraten drohte, hat der Vatikan Frau Stampas Auszug aus dem Apostolischen Palast veranlasst und ihr Beschäftigungsfeld neu definiert. Offiziell ist sie nun nicht mehr Benedikts Hausdame, sondern Angestellte des Staatssekretariats. Aber sie wohnt immer noch im Vatikan, in einem Haus an der Via del Pellegrino. »Qui abita la Papessa«, hat uns ein Kurienmitarbeiter einmal mit stoischer Miene erklärt: »Hier wohnt die Päpstin.«

Nach wie vor verabredet sich der Papst gelegentlich auf ein Abendessen mit Ingrid Stampa. Den Paparazzi und Sensationsreportern, die bei solchen Gelegenheiten auf »enthüllendes« Material hoffen, nimmt die Pressestelle des Vatikans (deren ehemaligen Chef, den dem reaktionären Opus Dei verbandelten Joaquín Navarro-Valls, der neue Papst durch den weltoffenen Jesuiten Federico Lombardi ersetzt hat) geschickt den Wind aus den Segeln, indem sie diese Rendezvous keineswegs dementiert, sondern schlicht als das darstellt, was sie ganz offenkundig sind: freundschaftliche persönliche Begegnungen, die weder einen Verdacht noch irgendeinen journalistischen Aufwand rechtfertigen.

Um den Haushalt des Papstes kümmern sich heute vier Laienschwestern der italienischen Glaubensgemeinschaft Communione e Liberazione. Doch auch sie wirken dabei nicht, wie das bislang üblich war, als im Hintergrund versteckte »Geister«, sondern nehmen – neben den beiden Privatsekretären Benedikts XVI. – regen Anteil am Alltagsgeschehen in den päpstlichen Privatgemächern. Das Ganze als Papst-WG zu bezeichnen, gilt keineswegs als respektlos: Akkurat diesen Ausdruck benutzt frohgemut der deutsche Papstsekretär Georg Gänswein, wenn man ihn nach dem Alltag seines Chefs fragt.

Noch mehr als Ingrid Stampa zieht Gänswein, von einigen Lifestyle-Magazinen und mittlerweile sogar, nicht immer ohne neidischem Unterton, von manchem Insider des Kirchenstaats als »George Clooney des Vatikans« bezeichnet, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Vom lockeren Image des in der Tat sehr gut aussehenden Prälaten strahlt dabei immer auch einiges aufs Erscheinungsbild Benedikts XVI. ab, dem Gänswein bei öffentlichen Auftritten nicht von der Seite weicht. Dass in der smarten Schale ein durchaus harter Kern steckt, wissen mittlerweile alle im Vatikan, die es mit Georg Gänswein beruflich zu tun bekommen haben. Der Sekretär des Papstes organisiert dessen Alltag, aber er organisiert ihn nicht allein. Vor allem bei der Frage, wer im Rahmen einer Privataudienz oder bei einer anderen Gelegenheit persönlichen Zugang zum Heiligen Vater erhält, entscheiden andere mit, in erster Linie der Substitut des Päpstlichen Staatssekretariats und der Leiter von dessen deutschsprachiger Abteilung, Wilfried König. Dessen Vorgänger Christoph Kühn musste im Juni 2008 das Feld räumen; er sei, sagen Leute, die es wissen müssen, nicht nur Georg Gänswein allzu sehr in die Quere gekommen, sondern habe auch mehrfach das Missfallen Ingrid Stampas erregt. Woraus man, das nebenbei, keineswegs schließen sollte, dass die beiden Papstvertrauten Stampa und Gänswein stets einträchtig an einem Strang ziehen.

Anders als sein Vorgänger Johannes Paul II., der Außenstehende und, in regelmäßigem Turnus, Mitarbeiter des Vatikans gern schon zur Frühmesse in seiner Privatkapelle lud und seine täglichen Mahlzeiten häufig zu Unterhaltungen mit Mitarbeitern der Kirchenführung oder anderen zu Tisch gebetenen Gästen nutzte, beschränkt der gegenwärtige Papst sowohl die Teilnehmer der Morgenmesse und des anschließenden Frühstücks wie seine Tischgesellschaften meist auf die Mitglieder seiner Wohngemeinschaft. Auch der Speisenzettel, auf dem entgegen anderslautenden Gerüchten bayerische Nationalgerichte wie Schweinebraten oder Semmelknödel eine seltene Ausnahme bilden, ist ein wenig schlichter geworden: Außer den typisch italienischen Nudel- oder Reisgerichten, Salat und Gemüse kommt ab und an ein Stück Fleisch auf den Tisch – und damit hat es sich dann.

Bier trinkt der Papst allenfalls symbolisch – etwa um bestimmten Besuchergruppen aus seiner bayerischen Heimat wie den Gebirgsschützen zuzuprosten. Und sein Weinkonsum hält sich ebenfalls in Grenzen; als Standardtischgetränk bevorzugt er schlichtes Mineralwasser.

Nach dem Abendessen, manchmal – es sind ja keine Kinder dabei – schon währenddessen, wird der Fernseher eingeschaltet; außer den italienischen Nachrichten guckt die Papst-WG gern (zum Leidwesen ihrer weiblichen italienischen Mitglieder) deutsche Programme, wobei Georg Gänswein alias Don Giorgio beim Zappen gewöhnlich der Ungeduldigere ist. Aber selbstverständlich hat auch hierbei der Papst das Vorrecht.

Natürlich macht all das nur einen Teil des Alltags von Benedikt XVI. aus.

Die wichtigste Rolle darin spielt nach wie vor das enorme Arbeitspensum eines Papstes. Die Vormittage sind in der Regel für die vielen großen und kleinen Audienzen reserviert. Für Letztere präpariert sich der Papst meist noch vor dem Frühstück. Danach muss er sich in die am jeweiligen Tag bevorstehenden Reden einarbeiten, schließlich wird in jeder Gruppen- oder Massenaudienz eine auf deren Anlass und deren Teilnehmer bezogene Ansprache erwartet.

Nachmittags wendet der Papst seine Aufmerksamkeit der Arbeit der Kurie zu. Konkret läuft das meist auf ein intensives und vielstündiges Aktenstudium hinaus, unterbrochen zuweilen durch direkte Rücksprachen mit den Leitern der Kurienabteilungen oder mit seinen Privatsekretären, wobei Georg Gänsweins aus Malta stammender und durch seine frühere Mitarbeit im Staatssekretariat mit der Kurie wohlvertrauter Kollege Alfred Xuereb dem Papst besonders gute Dienste leistet.

Dass die Öffentlichkeit über den Tagesablauf des Papstes relativ gut Bescheid weiß, war früher alles andere als selbstverständlich. Noch vor 50 Jahren bestand die Antwort auf die Frage »Wie lebt ein Papst?« aus einem einzigen Wort: einsam! Wer sich mit dieser Auskunft, so einleuchtend sie klang, nicht zufriedengab und mehr wissen wollte, stieß auf Mauern des Schweigens, und die waren lange Zeit weit undurchdringlicher als die Steinmauern des Vatikans. Allein die Neugier darauf, was der oberste Repräsentant außerhalb seiner öffentlichen Auftritte für Ein Leben führe, galt als unschicklich, ja blasphemisch: Einer, der mit »Eure Heiligkeit« angeredet wurde, hatte kein Privatleben, und damit basta.

Noch der vor einem halben Jahrhundert verstorbene Pius XII. verkörperte diese heilige Einsamkeit auf eine fast unheimlich perfekte Weise. Als bekannt wurde, dass Schwester Pasqualina für die Zubereitung seiner Mahlzeiten zuständig war, kam das zeitgenössischen Beobachtern schon wie der Gipfel der Indiskretion vor.

Ein Papst beim Essen: Von etwas derart Banalem zu reden erschien schon angesichts der asketisch vergeistigten Gesichtszüge Pius XII. nahezu blasphemisch. Und gar nicht hätte man sich als frommer Verehrer dieses Papstes vorstellen mögen, dass der ab und an einer guten Flasche Wein zusprach oder sich eine Zigarette ansteckte. In Wahrheit hat der »Pastor Angelicus«, der »engelsgleiche Hirte«, wie ihn seine Anhänger nannten, leidenschaftlich gern geraucht, bis ihn seine schwere Lungenerkrankung selbst in diesem Punkt zur Askese zwang.

Auch die Nachfolger Pius XII. rauchten gern, Johannes XXIII., bei dem man sich das ebenfalls nicht recht vorstellen kann, sogar locker mal eine Schachtel pro Tag. Seit Langem der erste Nichtraucher auf dem Stuhl Petri ist der jetzige Papst, Benedikt XVI., was sich insofern gut trifft, als seit dem 1. Juli 2002 in allen Räumen des Vatikans Rauchverbot herrscht. Bei Zuwiderhandlung werden 30 Euro Bußgeld fällig – theoretisch. In der Praxis haben wir in Besucherzimmern mehr als einmal erlebt, dass der Würdenträger, den wir gerade aufsuchten, uns fragte, ob wir gern rauchen würden – um sich daraufhin genussreich selbst eine anzustecken. Wundert man sich darüber, bekommt man die Anekdote von Papst Leo XIII. erzählt, der einem Kurienkardinal einmal eine Zigarre anbot und dessen Ablehnung – »Vielen Dank, Heiliger Vater, aber dieses Laster habe ich nicht« – mit der trockenen Feststellung kommentierte: »Wäre das ein Laster, dann hätten Sie’s.«

Zuflucht zu dieser Geschichte musste Papst Pius XII. allerdings nie nehmen. Sein Zigarettenkonsum blieb ebenso geheim wie sein sonstiges Privatleben. Selbst bei öffentlichen Auftritten erschien dieser Papst als unnahbare Majestät. Dafür sorgte schon die strikte Einhaltung eines vom geradezu ausschweifend autoritätsfixierten spanischen Hofzeremoniell abgeleiteten Protokolls, das in einigen Details (wie den über fünf Meter langen Purpurschleppen, die die Kardinäle hinter sich herzuschleifen hatten) von den vatikanischen Zeremonienmeistern noch einmal gesteigert wurde.

Damals, also wohlgemerkt vor gerade mal 50 Jahren, war es für die Gläubigen selbstverständlich, sich dem Stellvertreter Christi kniend zu nähern. Hohen Würdenträgern, und Staatsoberhäuptern, blieb dieses Unterwerfungsritual erspart; doch auch für sie, standen sie erst einmal vor dem Papst, führte kein Weg am Kuss der Ringhand mit zumindest angedeutetem Kniefall vorbei.

Die unausgesprochene Botschaft dabei lautete: Wiewohl der Papst Hof hielt wie ein mächtiger absolutistischer Herrscher, war er denen, was seinen Rang betraf, um eine entscheidende Nuance überlegen: Es konnte nur einen Stellvertreter Gottes geben. Und dem zu begegnen war nun einmal nicht alltäglich. Jedenfalls in diesem Punkt glichen die Intentionen des päpstlichen Besuchsprotokolls wieder denjenigen, die andere Monarchen ihrer Selbstdarstellung zugrunde legten: Je mehr pompösen Zeremonien sich der Besucher seinem hohen Gastgeber zu Ehren zu unterwerfen hatte, desto mehr sollte er sich persönlich geehrt fühlen.

Hoheit, im wahren Sinn des Wortes, signalisierte auch die sedia gestatoria, der päpstliche Tragesessel, in dem ein Dutzend starker Männer den Papst bei großen Audienzen durch die Menge trugen. Immerhin ließe sich dieses Überbleibsel einer byzantinisch-despotischen Hofhaltung als eine Art Vorläufer des Papamobils interpretieren, das heute bei ähnlichen Anlässen in Gebrauch ist. Die korrekte Übersetzung von Sedia gestatoria, »Zeigesessel«, macht deutlich, wozu jener gewöhnlich hoch über der Menge dahinschwebende »heilige Stuhl« dienen sollte: zur Sichtbarmachung des Papstes – auch für die, die jeweils hinten stehen.

So nahe können sich absolute Herrscherattitüden und demokratische Gesten in einem einzigen Requisit kommen. Dessen Abschaffung hat sich denn auch über die Regierungszeiten gleich vierer Päpste hingezogen. Johannes XXIII. seufzte zwar, ihm werde schlecht von dem Geschaukel da oben; außerdem hatte er fortwährend Angst, aus der Sedia gestatoria abzustürzen. Dennoch hielt er es am Ende so, wie er es in Fragen traditioneller Äußerlichkeiten fast immer hielt: Um konservative Mitchristen nicht unnötig zu beunruhigen, ließ er alles beim Alten. Sein Nachfolger Paul VI. weigerte sich zwar bei Beginn seines Pontifikats energisch, den tragbaren Thron zu besteigen, doch nach Protesten vieler Rompilger machte er einen Rückzieher. Johannes Paul I. mochte die Sedia ebenfalls nicht, kam aber in den gerade mal 35 Tagen seiner Regierungszeit nicht dazu, sie abzuschaffen.

Endgültig den Garaus machte dem Tragesessel erst Johannes Paul II., vielleicht nicht so sehr aus Bescheidenheit, sondern weil er als gewiefter Selbstdarsteller genau wusste, wie wenig Möglichkeiten zur Entfaltung seines dynamischen Charismas ihm dieser Schaukelsitz geboten hätte. Wie auch immer, die Teilnehmer päpstlicher Massenaudienzen reagierten auf den Traditionsbruch mehr frustriert als erleichtert: Im Petersdom, in dem man das ansonsten überall auf der Welt eingesetzte Papamobil nicht herumfahren lassen mag, bekommen den nun durch die Besuchermassen schreitenden statt über deren Köpfen vorbeigetragenen Heiligen Vater nur mehr ganz vorn Stehende zu sehen.

Auch nicht auf einen Streich erfolgte die Abschaffung eines anderen großherrscherlichen Requisits, der Tiara. Paul VI. schenkte die dreifache Papstkrone symbolisch den Armen. Konkret bedeutete das: Die Tiara wurde von Finanzexperten der nordamerikanischen Bischofskonferenz zu Geld gemacht, das dann (hoffentlich) in deren Wohltätigkeitsbudget einfloss. Doch war die pompöse Dreifachkrone in Nach- und Abbildungen noch lang im Vatikan gegenwärtig. Erst der jetzige Papst, Benedikt XVI., machte den radikalen Schnitt: Er entfernte die Tiara sogar aus dem päpstlichen Wappen, das sie mehr als 1000 Jahre geschmückt – und belastet – hatte, und ließ sie durch eine einfache Bischofsmütze ersetzen.

Nicht wirklich abgeschafft, aber unter Benedikt XVI. nahezu außer Gebrauch gekommen ist die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts übliche Anredeform für den Papst: »Eure Heiligkeit«. Heute lautet die geläufige Anrede »Heiliger Vater«, und zwar unterschiedslos für alle, ob Mitarbeiter oder Staatsoberhäupter, Botschafter oder Privatbesucher. Benedikt XVI. mag es nicht einmal, wenn Besucher zur Begrüßung seinen Ring zu küssen versuchen. In der Herrscherattitüde, die ihm so aufgezwungen wird, fühlt sich der jetzige Papst ganz offensichtlich nicht wohl, sympathischerweise. »It’s lonely at the top«, würde Randy Newman sagen: Wer so turmhoch über allen anderen zu thronen beansprucht, bleibt in Wahrheit allein.

So hat nicht nur das so pompöse wie unbequeme Protokoll den Nachfolgern Pius’ XII. schwer zu schaffen gemacht, sondern, auf unterschiedliche Art, auch die mit dem hohen Amt verbundene Einsamkeit. Immerhin hatten Johannes XXIII. – noch vorsichtig – und nach ihm Paul VI. mit unerwarteter Verve die engen Grenzen ihres vatikanischen Hoheitsgebietes zu überschreiten begonnen und sich auf Reisen in die »Normalwelt« begeben. Unter Johannes Paul II. sind dann die großen Reisen und die in ihrem Rahmen veranstalteten Begegnungen mit Hunderttausenden oft junger Menschen geradezu zum Markenzeichen des Papsttums geworden.

Öffnungen, man weiß das aus der Politik wie aus der Liebe, sind nie einseitig: In dem Maß, in dem die Päpste die Tore des Vatikans nach außen aufstießen, öffneten die sich ebenso nach innen. Überdeutlich wurde das bereits während des langen Pontifikats von Johannes Paul II., der den Vatikan keineswegs nur verließ, um anderen Ländern oder Institutionen geistliche Besuche abzustatten. Seine Reisen dienten immer wieder auch Privatbesuchen bei alten Freunden und Verwandten oder der eigenen Erholung, beim Bergsteigen, Schwimmen und sogar Skifahren. So etwas hatte die gläubige wie die ungläubige Welt bis dahin für die Ausgeburt völlig verstiegener Phantasien gehalten: ein Papst, der Skipisten herunterkurvt wie Millionen anderer Wintertouristen auch.

Ganz gewiss war Johannes Paul II., nicht nur im Vergleich zu seinen drei Vorgängern, eine ausgesprochene Führernatur. Aber anders als beispielsweise Pius XII. machte ihn dies keineswegs unnahbar, im Gegenteil: Er brauchte und suchte stets den Kontakt, zu den Massen wie zu den Einzelnen, die ihm privat oder beruflich nahestanden – und, noch wichtiger, er suchte den Kontakt zu den Medien.

Ein Objekt verändert sich dadurch, dass wir es beobachten: Diese von dem Physiker Werner Heisenberg in seiner »Theorie der Unschärferelation« niedergelegte Feststellung gilt auch für den Vatikan und das Leben der Päpste: Deren rapide Veränderung in den letzten Jahrzehnten ist vor allem das Resultat der öffentlichen Beobachtung, die ihnen zuteil wird, und der medialen Techniken, die diese Massenkommunikation ermöglichen. Spannend bleibt das auf alle Fälle; ob es wirklich gut für die Kirche und für deren zentrales Anliegen, den Glauben, ist, muss sich erst noch zeigen. Der jetzige Papst hat gezeigt, dass er sich der Medien nicht weniger gut zu bedienen weiß als sein Vorgänger – und dabei dennoch etwas mehr Zurückhaltung an den Tag legt. Das ist womöglich keine schlechte Idee.