Der Papst zählt zu den reichsten Menschen der Welt, rein theoretisch. Ihm als alleinigem Souverän des Kirchenstaats gehören nicht nur die in der Vatikanbank einliegenden Gelder, sondern auch die unermesslich wertvollen Kunstschätze des Vatikans. Persönlich hat er von diesem Reichtum allerdings so gut wie nichts. Die Gebote des Glaubens und des Kirchenrechts legen ihm da so enge Fesseln an wie die Gründungsurkunde des modernen Kirchenstaats, die Lateranverträge. Die erkennen zwar, ausdrücklich und völkerrechtlich verbindlich, das Eigentum des Papstes (und nicht etwa des Vatikans) an den Schätzen des Kirchenstaats an, legen aber zugleich fest, dass die im Vatikan angesammelten Kunstwerke öffentlich zugänglich bleiben müssen. Kunst für alle, lautet also hier das Motto – und mit »alle« sind keineswegs nur die Katholiken gemeint, sondern wirklich alle Menschen gleich welcher Herkunft und Weltanschauung, die sich für die hier im Lauf der Geschichte angesammelten Kunstschätze und die Dokumente der Vatikanischen Bibliotheken interessieren.
In der Praxis heißt das letztlich: Der gern (und nicht selten in polemischer Absicht) erhobenen Forderung, der Papst solle doch bitte, um ein Vorbild für christliche Nächstenliebe abzugeben, die Reichtümer des Vatikans zugunsten der Armen dieser Welt zu Geld machen, steht schon das internationale Recht entgegen. Ein paar silberne Altarleuchter oder (wie durch Paul VI. zugunsten der Armenhilfe geschehen) seine wertvolle Papstkrone, die Tiara, darf der Papst gewiss verkaufen; doch in seiner Substanz darf das riesige Kunstdepot des Vatikans nicht angetastet werden. Konsequenterweise hat die UNESCO deshalb 1984 nicht nur die Peterskirche, sondern den gesamten Kirchenstaat zum Weltkulturerbe erklärt.
Von seinem Selbstverständnis her ist der Vatikan damit allerdings in einen Widerspruch geraten, wie er krasser kaum gedacht werden kann: Was lange Zeit vor allem ein durch dicke Mauern und strenge Torwachen vor der Außenwelt geschütztes Refugium des Papstes und seiner Kurie darstellte, soll sich neuerdings zugleich als öffentlich zugängliches Gesamtkunstwerk verstehen. Wirklich auflösen lässt sich dieser Widerspruch natürlich nicht. Doch wie so oft behelfen sich beide Seiten, die auf den letzten Rest ihrer irdischen Hoheitsansprüche pochende Kirche und die um alle Exklusivität unbekümmerte Welt, mit einem Kompromiss: mit den Vatikanischen Museen.
Die Pluralform – die Museen, nicht das Museum – verdeckt das Problematische an diesem Kompromiss allerdings kaum, sondern bringt es erst richtig zum Ausdruck. Mit Museen im sonst überall gebräuchlichen Sinn lassen sich die »Museen« des Vatikans nicht vergleichen. Auch wenn diese in jüngster Zeit tatsächlich um einige ausschließlich für Ausstellungszwecke gebaute oder wenigstens frei geräumte Gebäude erweitert wurden, gilt im Prinzip: Der Vatikan selbst, genauer: der über Jahrhunderte durch immer neue An- und Umbauten erweiterte Komplex des Papstpalastes, ist das Museum. Und das heißt umgekehrt: Als Besucher der Museen bewegt man sich nicht nur ständig, auf Schritt und Tritt, durch Räume, in denen sich die Welt-, Kirchen- und Papstgeschichte real vollzogen hat, sondern man befindet sich dabei (selbst wenn einem das oft nicht bewusst wird) auch in engster Tuchfühlung zur Gegenwart und zum Alltag des Vatikans. Oft sind es gerade einmal ein Korridor, eine Deckenmauer oder ein paar Meter Luftlinie, die den Museumsbesucher von den Amtsräumen oder den Wohnungen der Kurienmitglieder und des Papstes selbst trennen.
Selbst diejenigen, denen es nur auf die in den Vatikanischen Museen ausgestellte Kunst ankommt, können angesichts der riesigen Dimensionen leicht in Verwirrung geraten. Zudem lässt sich die Anordnung der Ausstellungsräume für unvorbereitete Besucher kaum durchschauen. Darüber hinweghelfen sollen ausgeschilderte Besichtigungspfade, von deren Bezeichnung man sich allerdings nicht täuschen lassen sollte: Der »kurze« Rundgang kann gut und gern zwei Stunden in Anspruch nehmen, und der »vollständige« Rundgang führt einen keineswegs automatisch durch alle Museumsräume.
Individuelle Neugier hat es hier ebenso schwer wie individuelle Faulheit: Einfach nur herumzuschlendern oder sich an selbst ersonnene Besichtigungspläne zu halten, ist – zumindest offiziell – verboten. Senso unico lautet das Motto in den Vatikanischen Museen, zu Deutsch: Einbahnstraßenverkehr. Anders gehe es leider nicht mehr, sagt die Direktion, sonst bräche hier das Chaos aus: Im Durchschnitt betritt alle 1,6 Sekunden ein neuer Besucher die Museen; aufs Jahr gerechnet sind es mehr als drei Millionen, Tendenz steigend.
Individualisten, die die Vatikanischen Museen auf eigene Faust erkunden wollen, müssen sich angesichts dessen ihre Chancen mit List und Tücke erarbeiten. Wer genau weiß, wohin er will, und sich vor (!) seinem Besuch hinreichend in die Lagepläne der Museumsräume vertieft hat, findet sein Ziel auch ohne sich sklavisch an die vorgeschriebenen Routen zu halten. Sich gegen die Richtung der Einbahnstraßen zu bewegen ist dabei, trotz des offiziellen Verbots, manchmal unerlässlich – und, sofern man dabei kein allzu auffälliges Benehmen an den Tag legt, durchaus möglich. Tritt einem doch einmal ein Museumswärter entgegen, sollte man freilich jeden Anflug von Arroganz vermeiden und lieber behaupten, man suche seine etwas gebrechliche Tante, die sei im Gewühl leider zurückgeblieben . . .
Egal aber, ob man als abenteuerlustiger Individualist hierherkommt oder als Gruppenreisender: Eine gute Kondition braucht man schon für die gern mehr als einen Kilometer lange Schlange vor dem Eingang. Wer sich an der Vatikanmauer nördlich (rechts) des Petersplatzes einreiht, muss vor allem während der sommerlichen Reisesaison mit Wartezeiten bis zu zwei Stunden rechnen. Und wenn man endlich drin ist, beginnt erst der wahre Fitnesstest: Die Länge des »vollständigen« Museenrundgangs beträgt auf dem obligatorischen Besucherpfad fast acht Kilometer, einschließlich zahlreicher Treppenaufstiege und -abstiege und einiger trotz des Einbahnstraßensystems nötiger Um- und Rückwege. Das bedeutet: Allein fürs Durchschreiten der Ausstellungsräume in normalem Fußgängertempo bräuchte man, ohne nur bei einem einzigen Kunstwerk haltzumachen, fast zwei Stunden.
Angesichts dessen ein ernsthafter Rat an alle, die meinen, ein Besuch der Vatikanischen Museen sei so wichtig, dass man ihn selbst ins Programm eines römischen Kurzurlaubs unbedingt hineinquetschen müsste: Vergessen Sie’s – außer jeder Menge Stress werden Sie nichts davon haben! Man braucht zum einen eine ganze Menge an Zeit und Gelassenheit für diesen Museumsbesuch und zum anderen: eine gute Vorbereitung.
Ausgestellt sind hier, in weit über 1000 Einzelräumen mehr als 50 000 Exponate (die genaue Anzahl kennt, weil die Sammlungen permanent aus- und umgebaut werden, nicht einmal die Museumsdirektion selbst): Da erscheint es fast aussichtslos, auch nur ein einziges Promille der Ausstellungsobjekte ausführlich betrachten zu wollen. Gewiss liegt es da nahe, sich von vornherein auf einige Highlights zu beschränken. Doch abgesehen davon, dass man so nur sieht, was eh schon alle Welt kennt: Gerade dabei kommt man ohne vorbereitende Informationen nicht aus.
Vor allem gilt das für die Sixtinische Kapelle, die, obwohl sie dem Vatikan nach wie vor als Gebets- und Versammlungsraum dient, in die Vatikanischen Museen integriert ist – als deren mit Abstand prominentestes Glanzstück. Die schon vor ihrer spektakulären, 1994 fertiggestellten Restaurierung weltberühmten Fresken, mit denen Michelangelo im Auftrag des Papstes Julius II. die Decke der unter Sixtus IV. erbauten Kapelle schmückte, erstrecken sich über mehr als 500 Quadratmeter. Dazu kommen noch die nicht von Michelangelo stammenden Fresken an den Seitenwänden: zum großen Teil Meisterwerke bedeutender Maler wie Perugino, Botticelli oder Ghirlandaio, die dennoch von vielen Besuchern im Sixtina-Gewühl glatt übersehen werden beziehungsweise, was einem hier leicht passieren kann, die wegen Reizüberflutung dichtgemachten Aufnahmeschleusen des Besucherhirns nicht mehr passieren.
Mit anderen Worten: Die Sixtinische Kapelle ist schon ein Museum für sich. Und nicht wenige Besucher der Vatikanischen Museen beschränken sich auf dieses einzigartige Meisterwerk. Um auf nahezu direktem – trotzdem nicht wirklich kurzem! – Weg dorthin zu gelangen, folgt man vom Eingang der Vatikanischen Museen an den Markierungen des »Kurzrundgangs«. Und stünde dann ohne kundige Anleitung eher hilflos unter der Bilderflut. Das Jüngste Gericht, ja, das erkennt man zur Not von selbst, auch den alten Adam, dem Gottvater das Leben einflößt, per Übertragung von Zeigefinger zu Zeigefinger, und Noahs Arche. Doch was genau zeigen die anderen Deckenfresken, und wer bitte sind all die Frauen und Männer, die Michelangelo in den vielen Seitenfeldern der Decke und in den Fensterwölbungen dargestellt hat?
Kurzum, hier braucht jeder einen Führer – selbst der »Máximo Líder«. Kein Witz: Anlässlich seines Besuchs bei Papst Johannes Paul II. im Jahr 1996 besichtigte Fidel Castro die Sixtinische Kapelle. Für den kubanischen Staatschef schien seinen vatikanischen Gastgebern das Beste gerade gut genug, und das Beste war, zum Entzücken Fidel Castros, eine Frau: Maria Serlupi Crescenzi. Die bei den Vatikanischen Museen angestellte Kunsthistorikerin ist immer dann zur Stelle, wenn es prominente Gäste des Papstes kulturell zu betreuen gilt, gleich ob es sich um Königin Elizabeth II. handelt, um Japans Kaiserpaar, Israels Premierminister oder eben um Fidel Castro, der – so erinnert sich seine Führerin – erstaunlich viel übers Jüngste Gericht wie über Michelangelo und andere Lieblingsmaler der Renaissance-Päpste wusste. Im Übrigen war der alte Marxist Fidel keineswegs der Ansicht, der Vatikan besitze allzu viele wertvolle Kunstschätze. Pikiert zeigte sich Castro vielmehr über Leute, die sich einst am Reichtum des Papstes gewaltsam gütlich getan hatten. So wollte er von seiner Führerin wissen, was eigentlich mit der Beutekunst geschehen sei, die unter der Herrschaft Napoleons aus dem Vatikan fortgeschafft worden war.
Ach ja, ein großer Kommunist müsste man sein! Oder wenigstens einer der anderen prominenten Gäste des Papstes, denen eine Sonderführung durch die angenehm menschenleeren Vatikanischen Museen zuteil wird. Menschenleer? Schön wär’s, lacht Maria Serlupi Crescenzi: Zwar stehen die Vatikanischen Museen außerhalb der regulären Öffnungszeiten (im Sommer 10 bis 16: 45 Uhr, im Winter 10 bis 13: 45 Uhr, sonn- und feiertags geschlossen) für Sonderführungen zur Verfügung. Aber nach denen ist die Nachfrage derart gestiegen, dass sich die Besuchergruppen zuweilen selbst dann auf den Füßen herumtrampeln, wenn die Museen eigentlich gar nicht geöffnet sind. (Zugegeben: Wenn Staatsoberhäupter wie Castro oder die Queen da sind, ist das anders, schon aus sicherheitstechnischen Gründen.)
Apropos Öffnungszeiten: Eine verbreitete, dennoch richtig schlechte Idee ist es, sich für den Museumsbesuch den letzten Sonntag eines Monats vorzumerken. Da sind die Museen zwar von 10 bis 13: 45 Uhr bei freiem Eintritt geöffnet, dafür strapaziert man an diesen Tagen über die Maßen Geduld und Nerven, bis man überhaupt hineinkommt. Und drinnen ist es dann fast in allen Räumen so voll wie sonst nur in der Sixtinischen Kapelle. Da hilft kein frühes Aufstehen und kein schlaues Verschieben des Museumsbesuchs auf die Zeit der mittäglichen Siesta oder in unfreundliche Wintermonate: In der Sixtinischen Kapelle steht unsereiner am Ende doch wieder eingeklemmt zwischen Hunderten von Mitbesuchern unter Michelangelos Fresken. Und statt auf die charmante Dottoressa Crescenzi muss er sich – man sieht nur, was man weiß! – in der Regel auf einen gedruckten Führer oder einen der am Eingang erhältlichen Audio-Guides verlassen.
Übrigens: Wer sich nicht schon vor Reiseantritt nach einschlägigen Büchern umgetan hat (eine breite Auswahl an deutschsprachiger Vatikanliteratur findet sich in der Herder-Buchhandlung, Piazza Montecitorio 120, nahe dem italienischen Parlamentsgebäude), greife zum handlichen offiziellen Führer der Edizioni Musei Vaticani, der dank seiner genauen Standortverzeichnisse und Übersichtspläne nicht nur beim Besuch der Museen, sondern ebenso in der Peterskirche und in den Vatikanischen Gärten zumindest für eine gute Orientierung sorgt.
Statt sich in erster Linie auf Bilder und Skulpturen zu konzentrieren, kann man einen Besuch der Vatikanischen Museen allerdings auch auf ganz andere und mindestens ebenso spannende Art angehen: als Erkundung der Ausstellungsräume als solcher und ihrer Bedeutung für Geschichte und Gegenwart des Vatikans. Die Kunst wird dabei nicht zu kurz kommen. Gerade wer nicht von Highlight zu Highlight hetzt, um ja nichts zu verpassen, sondern halbwegs gelassen durch die Säle und Korridore spaziert, wird dabei immer wieder von bemerkenswerten Entdeckungen überrascht werden.
Fest versprochen: Jeder, der in den Vatikanischen Museen eben da genauer hinschaut, wo die meisten anderen vorbeirennen, wird sie mit einer ganzen Liste von Geheimtipps verlassen. Und wunderbarerweise lässt sich der Vorgang beliebig erneuern: Nach jedem Museumsbesuch werden neue, andere Privatentdeckungen auf der Liste stehen. Mehr mögen wir hier nicht verraten, zum einen, weil dieses Buch keinen Kunstführer ersetzen kann und will, und zum anderen, weil die Geheimtipps dann ja keine mehr wären.
Über ein Ausstellungsobjekt wollen wir allerdings doch noch ein paar Sätze mehr verlieren. Es werden sogar einige Buchseiten werden; schließlich reden wir von dem zumindest im Wortsinn größten aller hier gezeigten Werke. Merkwürdigerweise fällt es trotzdem nur den allerwenigsten Besuchern als solches auf: das in Hunderten von Jahren entstandene und zusammengewachsene Gebäudeensemble der Vatikanischen Museen selbst.
Um uns ihm angemessen anzunähern, wenden wir uns, noch bevor wir die neue Eingangshalle betreten, erst einmal dem Ausgang zu. Ein etwas verwirrendes Vorgehen, schon wahr, aber schließlich haben wir es mit einer Einrichtung zu tun, in der das Naheliegende und das Fernliegende so sehr ineinander verwoben sind, dass sie sich kaum auseinanderhalten lassen. Es ist wie mit dem Unterschied von Schein und Sein, oder gar dem von Kunst und Leben: Wo genau das eine beginnt und das andere aufhört, ist schwer zu sagen.
In Wahrheit, so hat es der große deutsche Vatikanologe Reinhard Raffalt exzellent auf den Punkt gebracht, sind die Vatikanischen Museen ein »labyrinthisches Welttheater«. Genial in Stein übersetzt hat diesen Befund der Architekt Giuseppe Momo. Der baute 1932 als Zugang zu den Museen eine sich nach oben schraubende Steinspirale, genauer gesagt, zwei davon (eine für den Auf- und eine für den Abstieg der Besucher), die ineinander verschlungen scheinen und sich doch nie begegnen. Und als ob dies noch nicht genug erhabene Verwirrung gestiftet hätte, verkleidete der Bildhauer Antonio Maraini die Geländer komplett mit Bronzereliefs. Momos Steinspiralen wirkten infolgedessen, von außen betrachtet, wie riesige Metallkonstruktionen.
Kein Museum der Welt konnte sich eines derart spektakulären Eingangs rühmen. »Konnte« deshalb, weil auf die Dauer nicht einmal beide Rampen zusammen die wachsende Flut der ein- und ausströmenden Besucher zu bewältigen vermochte. Zudem hatte der Zeitgeist des modernen Museumsdesigns mittlerweile den Vatikan gestreift: Was sich jahrhundertelang als ein nach unerforschlichen Prinzipien angeordnetes Sammelsurium der schönen Künste präsentiert hatte, sollte nun den Ansprüchen eines möglichst publikumsfreundlichen Ausstellungskonzepts angenähert werden.
Angesichts der Dimensionen der Sammlungen lief das auf eine Sisyphusarbeit hinaus. Dennoch ging man sie beherzt an. Und machte den neuen Geist, mit einer für den Vatikan eher untypischen Dynamik, auch gleich durch den Bau einer neuen, mehrgeschossigen Eingangshalle (links vom alten Museumseingang) sichtbar. Weil sie optisch vor allem von großzügig gestalteten Servicetheken dominiert wird, sieht es hier nun zumindest auf den ersten Blick genauso aus wie in anderen großen Museen der Welt. Das heißt zugleich: Man könnte glatt vergessen, dass man sich im Vatikan befindet.
Gewiss, die neue, in schickem Schwarzweiß gehaltene Aufgangsrampe soll in ihren Drehungen an Momos Doppelspirale erinnern. Aber das merkt nur, wer die alte Konstruktion kennt. Immerhin, wie schon die alte führt einen auch die neue Rampe rasch hinauf ins obere Stockwerk des Empfangsgebäudes (Cortile delle Corazze) und von dort zum eigentlichen Ausgangspunkt der Museumsrundgänge, dem Atrio und dem angrenzenden Vestibolo dei Quattro Cancelli. »Cancelli« heißt Gitter – und wo Gitter sind, sind keine Wände. Mit anderen Worten: Man kann von hier aus ins Freie schauen, ja sogar gehen, und sich auf diese Weise Gewissheit über den eigenen Standort verschaffen.
Vor uns liegt ein rechteckiger Hof, der Cortile della Pigna, so benannt nach einem großen Pinienzapfen aus Kupfer, der an der nördlichen Schmalseite (das ist die, an der wir gerade stehen) vor einer noch größeren Wandnische aufgebaut ist. An dieser Stelle scheiden sich die Geister. Es gibt Leute (die allermeisten, muss man fürchten), die denken: »Na schön, ein komischer Pinienzapfen und ein etwas öde wirkender Hof – wo bitte geht’s denn nun endlich zu den Kunstsammlungen?«
Diese Leute werden in den folgenden Stunden jede Menge Gemälde und Skulpturen zu sehen bekommen, aber vom Vatikan, seiner Geschichte und schon gar von seinem faszinierend widersprüchlichen Wesen werden sie dabei kaum etwas begreifen. Wie soll der etwas verstehen, der nicht einmal die naheliegenden Fragen stellt? Und welche Fragen lägen näher als die, wieso um alles in der Welt hier ein vier Meter hoher Pinienzapfen auf einer wie ein großer Freiluftaltar wirkenden Bühne steht und wozu dieser merkwürdige, von vier eher abweisend wirkenden Gebäuden eingegrenzte Hof eigentlich gut sein soll?
Einleuchtend beantworten lassen sich diese Fragen nur anhand einer ganz kurzen Zeitreise durch die Geschichte der Päpste. Sie startet an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Damals stand noch der Vorgängerbau der alten Peterskirche. Von dort erstreckte sich das Gelände, auf dem heute der Cortile della Pigna liegt, als sanft ansteigende Brachfläche bis hinauf zur (heute als solche kaum noch wahrnehmbare) Gipfelkuppe des Vatikanischen Hügels. Das kaum bebaute Areal verfiel vollends im 14. Jahrhundert, als sich die Päpste, oder jedenfalls manche Päpste (damals traten oft zwei und gelegentlich sogar drei Päpste zur gleichen Zeit auf), ins französische Avignon zurückzogen.
Die Entstehung des heutigen Vatikans (und zumindest schon die geistige Geburtsstunde der Vatikanischen Museen) schlug erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts, nachdem es Papst Nikolaus V. gelungen war, die Kirchenspaltung endgültig zu überwinden. Italien und mit ihm die nun wieder tatsächlich römisch-katholische Kirche hatten mittlerweile den Humanismus entdeckt: die Rückbesinnung auf die klassische Kultur der Antike und damit die Konzentration des Denkens und der schönen Künste auf das menschliche Individuum.
Zu den vielen hochfliegenden Plänen, die damals entstanden, gehörten zwei große Vorhaben des endgültig aus dem Lateran auf den Vatikanhügel übergesiedelten Nikolaus V.: Er wollte eine neue Peterskirche bauen, und er gedachte eine Papstresidenz zu errichten, die zum Mittelund Sammelpunkt der gesamten gebildeten Welt werden sollte. Eine wissenschaftliche Akademie mit angegliederter Bibliothek sollte im Vatikan entstehen, dazu ein großzügiger Atelierbau mit Werkstätten für Maler und Bildhauer, ein musikalisches Konservatorium und vieles andere mehr.
Der rasche Tod Nikolaus’ V. setzte allerdings den meisten dieser Pläne ein Ende. Immerhin, außer der Gründung der Vatikanischen Bibliothek gelang ihm noch die Errichtung jener Bauten, die bis heute die Grenzen markieren, innerhalb derer sich die heutigen Vatikanischen Museen von Süden nach Norden ausdehnen: zum einen die Erweiterung des alten (und bis heute bestehenden) Palastes am Petersplatz um einen Nord- und einen Ostflügel, in den 30 Jahre nach Nikolaus’ Tod die Sixtinische Kapelle eingefügt wurde (ihren quer zur Blickrichtung stehenden Dachgiebel sieht man vom Eingangsgebäude der Museen aus gerade noch links unterhalb der Peterskuppel aufragen), und zum anderen, ganz nahe an unserem gegenwärtigen Standort, ein kleines Kastell, das einige Jahrzehnte später zu einer Sommerresidenz umgebaut wurde. Als Erstes seiner Art erhielt das auf dem höchsten Punkt des Vatikanhügels liegende Gebäude den danach für Sommerresidenzen gebräuchlich gewordenen Namen Belvedere (»Zur schönen Aussicht«).
Das weite Areal zwischen diesen Gebäuden lag jedoch nach wie vor brach. Immer noch – wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1500 – stellte der neue Vatikan ein Provisorium dar, noch dazu ein durch die Eskapaden des skrupellosen Borgia-Papstes Alexander VI. ziemlich gefährdetes. Und doch war die geradezu rasante Blütezeit des Vatikans (wenn auch nicht gerade der Frömmigkeit im Vatikan) nun durch nichts mehr aufzuhalten. Im Jahr 1503 kam Julius II. auf den Thron, ein Mann, der seinen Papstnamen erklärtermaßen nicht nach einem Heiligen gewählt hatte, sondern nach Julius Caesar. Sein künstlerischer Berater und Chefarchitekt war seinerseits eine Art Caesar der Baukunst: der vor keinem noch so kühnen Projekt zurückschreckende Donato Bramante. Julius und Bramante begannen nicht nur, den Plan zum Bau der neuen Peterskirche endlich in die Tat umzusetzen; sie bebauten auch den lang gezogenen Hügelabhang nördlich des Petersplatzes und legten damit die Grundstrukturen der heutigen Vatikanischen Museen fest.
Es war zu allen Zeiten so: Wer auf sich hielt und der Mitwelt beweisen wollte, welch großartigen Geschmack er besaß, sammelte Kunst. Julius II. hatte schon als Kardinal eine schon seinerzeit berühmte Apollostatue erworben. Und nachdem er Papst geworden war, meldete ihm ein wackerer Untertan namens Felice de Fredis, dass er in seinem Weinberg versehentlich ein paar womöglich recht alte Marmorfiguren ausgegraben hatte. Zur näheren Recherche schickte der Papst einen Vertrauten in den Weinberg; diesem Vertrauten schloss sich dessen damaliger Hausgast Michelangelo an, und der wiederum identifizierte die Fundsache auf den ersten Blick: Es war die berühmte Laokoongruppe, deren eminente Schönheit bereits der antike Schriftsteller Plinius gerühmt hatte.
Seit die Antike und Plinius in der Renaissance wieder en vogue waren, suchte alle Welt ebenso fieberhaft wie vergebens nach Laokoon und seinen in den Todeskampf mit den Seeschlangen verstrickten Söhnen. Man glaubt den Zufall kaum, durch den sie nun ausgerechnet dem Papst wie von selbst in die Hände fielen. Der Hergang des Fundes, der Meldung und der Identifizierung sind allerdings sehr zuverlässig dokumentiert – manchmal sind eben die unglaublichsten Dinge wahr. Julius II. besaß und erwarb noch viele andere antike Kunstwerke. Doch diese beiden, der Apoll und die Laokoongruppe allein, hätten schon damals ausgereicht, um eine Sammlung weltberühmt zu machen. Die Frage nach dem richtigen Aufstellungsort war rasch beantwortet: Der Papst ließ bei seinem Sommerschlösschen Belvedere einen idyllischen Garten anlegen, in dem seine Skulpturen Platz fanden. Und weil Künstler damals nichts dabei fanden, sich völlig offen von großer Kunst inspirieren zu lassen, entstand ums Belvedere herum sogleich ein buntes Ensemble von Malerund Bildhauerateliers.
Die Folgen dieser Inspiration sind noch heute zu besichtigen. Nach wie vor stehen die Laokoongruppe und der seither nach seinem vatikanischen Standort benannte Apoll von Belvedere nahe bei der alten päpstlichen Sommerresidenz, auch wenn aus deren Garten mittlerweile der Innenhof (Cortile Ottagono) des erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts Wand an Wand mit dem Belvedere errichteten Antikenmuseums Pio-Clementino geworden ist. Und wer sich den Kopf des Apoll gut eingeprägt hat, wird ihn an ziemlich unerwarteter Stelle wiederentdecken: Michelangelo benützte ihn als Vorlage für den Kopf des Weltenrichters Christus, der auf dem Fresko des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle Gute und Böse voneinander scheidet.
Mit dem Skulpturenpark des Belvedere war die Grundlage der Vatikanischen Museen Realität geworden, wiewohl von Museen im heutigen Sinn damals nirgends die Rede sein konnte. Im Gegenteil: »Procul este profani« stand über dem Gartentor geschrieben: »Gewöhnliche Menschen haben gefälligst draußen zu bleiben!« Der Umgang mit Kunst und Künstlern war Privileg der allerhöchsten Herrschaften. Und um dieses Privileg standesgemäß nutzen zu können, beschloss Julius II., die fast 300 Meter lange Distanz zwischen seinem Palast an der Peterskirche und dem Belvedere durch einen steinernen Korridor zu überbrücken.
Aus unserer Touristensicht heißt das: Julius ist schuld daran, dass wir vom Petersplatz bis zum Eingang der Vatikanischen Museen einen kleinen Fußmarsch zu absolvieren haben; es geht dabei immer an jenem Verbindungsgang entlang, in dem heute der östliche Längstrakt der Museen untergebracht ist, und schließlich außen um die Befestigungen des Belvedere herum.
Von unserem Standpunkt über dem großen Pinienhof aus sehen wir das ehemalige Lustschloss links vor uns; das Gebäude gegenüber ist ein Teil des Verbindungskorridors zwischen Belvedere und Apostolischem Palast. Den Hof als solchen gab es zu Julius’ Zeiten noch nicht; es fehlte das Portalgebäude des Atrio Quattro Cancelli, vor dem wir gerade stehen, und es fehlte vor allem der hier ansetzende zweite Korridorbau. Bramante allerdings hatte den westlichen Korridor bereits geplant, und nicht nur diesen: Zwischen beiden Verbindungsgängen sollte ein riesiger Fest- und Turnierhof entstehen, abgeschlossen von einer steinernen Bühne an der dafür umgebauten und mit einer großen Steinnische versehenen Rückwand des Belvedere, wo Bramante einen wahrlich cäsarenhaften Papstthron zu installieren gedachte.
Das triumphalistische Arrangement wäre eines Kaiser Nero würdig gewesen – da wundert man sich als Christenmensch nicht, dass der liebe Gott dem Selbstverherrlichungsstreben seines römischen Stellvertreters durch dessen Tod ein abruptes Ende setzte. Erst 50 Jahre später erinnerte sich Papst Pius IV. an Bramantes Pläne. Dieser Pius muss ein recht lebenslustiger Mensch gewesen sein (man erkennt es auch daran, dass er drei uneheliche Kinder mit in den Vatikan brachte), weswegen es ihm weniger um seine Selbstinszenierung als ums Veranstalten von Volksfesten, Pferderennen, Turnieren und ähnlichen Vergnügungen ging. Um denen einen prächtigen Rahmen zu geben, ließ er den Westkorridor und damit den großen Platz zwischen den beiden Verbindungsgängen nach Bramantes Plänen errichten, einschließlich der Riesennische an der Rückwand des Belvedere. Seinen Papstthron aber mochte Pius dort nicht aufstellen lassen; er sah sich die drunten im Hof dann tatsächlich veranstalteten Volksbelustigungen lieber von einem Fenster des von Papst Nikolaus V. erbauten Nordflügels seines Palastes aus an.
Für uns, die wir vom Belvedere her in jenen Hof schauen, stellt sich da allerdings die Frage, wieso wir dann nicht von hier aus die Fenster des alten Papstpalastes sehen können. Stattdessen blicken wir auf eine Art steinernen Querriegel zwischen den beiden zum Petersplatz hin verlaufenden Korridoren, den sogenannten Braccio Nuovo. Zu Deutsch heißt das »neuer Arm«; »neu« deswegen, weil sich dahinter, von unserem Standort aus nicht sichtbar, ein älterer Quertrakt befindet. Diesen »alten Arm« ließ Sixtus V. errichten, weil er Platz für die stetig anwachsende Vatikanische Bibliothek brauchte, die dort bis heute untergebracht ist. Schluss mit lustig, sollte das heißen: Die Volksfeststätte zwischen Petersplatz und Belvedere überlebte ihre Einweihung um kaum einmal 20 Jahre.
Wissenschaftliche Literatur statt Reiterturnieren – deutlicher hätte sich der Abschied des Papsttums von der lebenslustigen Renaissance und der Eintritt ins Zeitalter der Vernunft nicht machen lassen als mit dieser Entscheidung des energischen Sixtus V., dem seine kurze Amtszeit (1585 – 1590) ausreichte, um außerdem den Bau der Petersdomkuppel nach Michelangelos Modell ins Werk zu setzen, den Papstpalast um einen zusätzlichen Trakt am Petersplatz zu erweitern, ein Krankenhaus für 2000 Patienten und eine neue Wasserleitung für die Stadt Rom zu bauen und trotz alledem die Finanzen des Vatikans zu sanieren. Was machte es angesichts dessen, dass die Errichtung des Bibliotheksgebäudes den von Bramante so grandios geplanten Belvederehof in zwei ziemlich unspektakuläre Innenhöfe zerteilte?
Allerdings, die ursprünglichen Proportionen des Platzes waren damit endgültig dahin. Ob da nun ein weiterer Querriegel hinzukam, war ästhetisch gesehen im Grunde egal. Erstaunlicherweise hat es trotzdem weit mehr als 200 Jahre gedauert, bis Papst Pius VII. den zweiten Querbau errichten ließ, eben den Braccio Nuovo. Und damit sind wir erstaunlicherweise noch einmal bei Fidel Castro angekommen und seiner Frage nach der während Napoleons Herrschaft aus dem Vatikan entführten Beutekunst: Der größte Teil davon wurde nach Napoleons Sturz nach Rom zurück- und im Braccio Nuovo untergebracht.
Alles klar? Nicht ganz. Noch bleibt aufzuklären, wie der große Pinienzapfen hierherkam, der dem Cortile della Pigna seinen Namen gab. Rein technisch ist das rasch erzählt: Der im ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt entstandene Zapfen stand zunächst wohl auf dem römischen Marsfeld und vom Ende des achten Jahrhunderts an in einem Brunnen im Vorhof der alten Peterskirche. Nach deren Abbruch wurde er im Belvedere gelagert und schließlich am Anfang des 17. Jahrhunderts hier draußen vor der Nische aufgestellt, an dem Platz also, den Bramante einst für den Papstthron vorgesehen hatte. Das sind im Wesentlichen die Informationen, die in den Vatikanischen Museen und im offiziellen Museumsführer über diese Skulptur in Erfahrung zu bringen sind – und die sich über den Punkt, der uns am meisten interessieren würde, in vornehmes Schweigen hüllen: Was bitte bedeutet der Zapfen, was soll er darstellen? Kann es denn sein, dass . . .?
Ja, es kann. Forscht man genauer nach, bestätigt sich der Verdacht, der jeden kunsthistorisch halbwegs Versierten befällt, sobald er ein irgendwie zapfenförmiges Kulturobjekt wahrnimmt: Das Ding ist ein monumentales Phallussymbol. Etwas weniger drastisch ließe sich der Sachverhalt vielleicht durch die Feststellung ausdrücken, der Zapfen sei ein Symbol für Dionysos. Nur liefe das im Ergebnis auf das Gleiche hinaus; denn das Symbol für Dionysos, den antiken Gott der Lüste, war eben von alters her ein aufgerichteter Phallus.
Ein heidnischer Phallus mitten im Vatikan, aufgerichtet an einer derart exponierten Stelle, einer Stelle dazu, an der ursprünglich ein Papstthron stehen sollte – lässt sich Seltsameres denken? Wie man’s nimmt. Die Christen des frühen Mittelalters scheinen das schuppige Zapfenmonster nicht als sonderlich anstößig empfunden zu haben. Jedenfalls kannten sie seine wahre Bedeutung genau; das beweist die Tatsache, dass sich die Skulptur nicht nur, wie die Direktion der Vatikanischen Museen verschämt formuliert, in einem Brunnen vor der Peterskirche befand, sondern dass sie selbst der Brunnen war: Aus der Spitze des Zapfens schoss ein kräftiger Wasserstrahl hervor, um sich dann in das Brunnenbecken zu ergießen. Diesen eindeutigen Effekt zu wiederholen hat man bei der Neuaufstellung der Skulptur im Cortile della Pigna allerdings doch lieber unterlassen – eine schwer erklärbare, jedoch für den Vatikan ziemlich typische Mischung von Mut und Verzagtheit.
Wieso aber hat man den Zapfen überhaupt hier aufgestellt? Vorsicht: Wer sich ernsthaft auf diese Frage einlässt (oder sie gar nächtelang mit katholischen Theologen diskutiert), taucht unweigerlich hinab in die Urgründe nicht nur der Religion, sondern des menschlichen Geistes- und Gefühlslebens überhaupt. Oft bemüht wird in diesem Zusammenhang der Begriff der »Inkulturation«. Gemäßigt und wohlmeinend lässt sich der als Vermittlung von Werten und Inhalten der eigenen Kultur mit Hilfe der Begriffs- und Formensprache einer fremden Kultur definieren. Bösartiger könnte man unter Inkulturation schlicht das Aufsaugen einer Kultur durch eine andere verstehen.
Das Christentum jedenfalls verdankt seinen fast unfassbar erfolgreichen Siegeszug nicht zuletzt seiner großen Fähigkeit zur Inkulturation. Beispiele dafür sind nicht nur formale Harmlosigkeiten wie die Übernahme der heidnischen Wintersonnwendfeier als Weihnachtsfest oder die Verwendung orientalischer Harmonien und Gesangstechniken im bis heute gepflegten Kirchenchoral. Im Grunde, wir haben das in diesem Buch bereits angedeutet, war selbst die Etablierung des Papsttums und der katholischen Kirche als Weltmacht insoweit Teil eines Inkulturationsprozesses, als sie sich in vielem an die Tradition des von ihr überwundenen, aber in diesem Sinn eben auch weitergeführten römischen Kaiserreichs anlehnte.
Das Wort »katholisch« bedeutet ja so viel wie »allesumfassend«. Insofern sind die Vatikanischen Museen gerade deshalb eine sehr katholische Institution, weil sie ihre Besucher mit vielen kulturellen Erzeugnissen konfrontieren, die an diesem Ort eher nicht zu erwarten wären. Zu den spannendsten Ausstellungsteilen gehören neben den berühmten Sammlungen griechischer und römischer Kunst beispielsweise das Etruskische und das Ägyptische Museum, die imposante Landkartensammlung, aber auch die auf islamische, asiatische und indianische Kunst spezialisierte Werkschau des Missionarisch-Ethnologischen Museums (das sich, nebenbei gesagt, direkt von der Eingangshalle her betreten lässt).
»Christliche« Kunst im engeren Sinn ist dagegen unter den 50 000 Exponaten jedenfalls statistisch in der Minderheit. Es sei denn, man interpretiert die Botschaft der Vatikanischen Museen dahingehend, dass der christliche Katholizismus sich tatsächlich als Teilhaber oder zumindest als Dialogpartner aller Kulturen versteht.
Zurück ins antike Rom: Selbst die dort übliche Methode, heidnische Götter für die eigene Religion zu adaptieren, haben manche frühen Christen zu übernehmen versucht. Durch viele Forschungen belegt ist die christliche Verehrung des mythologischen Sängers und Halbgottes Orpheus, der als eine Art Vorläufer von Jesus empfunden wurde, einerseits in seiner Eigenschaft als guter Hirte (Orpheus verstand es, selbst die wildesten Tiere durch seine Musik zu zähmen) und andererseits, weil es Orpheus der Sage nach gelungen war, in die Totenwelt hinab- und daraus wieder hervorzusteigen.
Zugleich verehrte man mit Orpheus die Fähigkeit zur sinnlichen Selbstentgrenzung: In hemmungsloser Hingabe an Musik und Tanz sollten die Schranken zwischen Himmel und Erde aufgehoben werden. So mischte sich die antike Orpheusverehrung nicht selten mit den Dionysoskulten, bei denen auch die als göttlich empfundene Sexualität vielfach orgiastisch gefeiert wurde. Sexualität bedeutet aber zugleich Weitergabe des Lebens, und unter eben diesem Aspekt hat man denn die Skulptur hier im Cortile della Pigna gelegentlich zu inkulturieren versucht: So wie der dem dionysischen Phallus (und dem Pinienzapfen) entspringende Samen ermögliche die christliche Botschaft der Menschheit das zukünftige Leben.
Ein starkes Stück bleibt dieses Monument der Sexualitätsverehrung dennoch, gerade weil man es mitten im katholischen Vatikan aufgestellt hat – und es bis heute dort stehen lässt. Was wohl der liebe Gott dazu sagt? Wie wir ihn kennen, lacht er darüber ganz herzlich.