Als Pilger durch Rom

Der Besuch der sieben großen Wallfahrtskirchen war und ist eine anstrengende Tour – und bleibt damit durchaus einen Ablass wert

Der Satz, die Stadt Rom sei nach wie vor der wichtigste Wallfahrtsort für die Katholiken aus aller Welt, klingt derart nach Binsenwahrheit, dass man ihn sich kaum hinzuschreiben traut. Bis heute stehen ja »Pilgerreisen nach Rom« auf dem Programm vieler Reisebüros, nicht mehr zu Fuß, versteht sich, sondern per Bahn, Bus oder Flugzeug. Immer noch findet man als Vatikanbesucher günstige Unterkunft und Verpflegung in den zahlreichen Pilgerherbergen oder Hospizen (in der Regel kleine, einfach ausgestattete Hotels) rund um den Petersplatz, immer noch vermitteln nationale Pilgerbüros diese Unterkünfte und kümmern sich auch sonst mit Rat und Tat um die Anliegen aller, die sich an sie wenden. Übrigens auch aller Nichtkatholiken – man muss da nirgends einen Taufschein vorzeigen. Das deutsche Pilgerzentrum befindet sich unmittelbar links vor dem Petersplatz im wunderschön begrünten Innenhof des Palazzo Cardinal Cesi, dessen einer Teil die römische Zentrale des Salesianerordens beherbergt und dessen anderer Teil zu einer Art Kreuzung zwischen Pilgerhospiz und Luxushotel ausgebaut wurde.

Angesichts all dieser Pilgerreisenden und Pilgerherbergen und Pilgerbüros klingt es einigermaßen paradox, wenn wir behaupten, in Wahrheit sei Rom als christlicher Wallfahrtsort längst aus der Mode gekommen, ja nahezu in Vergessenheit geraten. Und doch ist da etwas dran. Klar, wer heute als Tourist nach Rom kommt, hat einen Besuch der Peterskirche und der Vatikanischen Museen in der Regel auf seinem Pflichtprogramm stehen. Und falls es sich günstig trifft, versuchen viele bei dieser Gelegenheit den Papst zu sehen respektive »zu besichtigen« – sei es am Sonntagmittag auf dem Petersplatz oder während einer großen Mittwochsaudienz. Nur, als »Pilgerfahrten« lassen sich diese Unternehmungen allenfalls im übertragenen Sinn bezeichnen; mit dem frommen Kern einer wirklichen Wallfahrt haben sie so gut wie nichts zu tun.

Keine Angst: Wir haben nicht vor, den weltlichen Romreisenden der realen Jetztzeit den rechten Christenglauben einzubläuen oder widrigenfalls ihren Vatikanbesuchen den wahren Wert abzusprechen. Aber schön wäre es – und sei es nur aus kulturhistorischen Gründen – ja vielleicht doch, sich zumindest mit dem äußeren Verlauf einer klassischen Romwallfahrt vertraut zu machen oder ihn gar konkret nachzuvollziehen.

Einer solchen Unternehmung steht nichts im Wege – es sei denn der innere Schweinehund. Wer nicht alt, krank oder sonst gebrechlich ist, muss wohl oder übel dran glauben: Ein echter Pilger ging und geht zu Fuß. Nicht unbedingt nach Rom, das taten sich schon in früheren Zeiten nur ganz Fromme oder ganz Arme an, aber doch in Rom. Und bloß mit einem Besuch im Vatikan war es dabei ganz und gar nicht getan, jedenfalls nicht nach den Vorschriften, die Papst Bonifaz VIII. im Jahr 1300 erließ, als im Vatikan zum ersten Mal ein Heiliges Jahr gefeiert wurde.

Heiliges Jahr? Wieso ein Jahr heilig sein sollte, zumindest heiliger als andere Jahre, lässt sich nicht theologisch, sondern allenfalls kalendarisch begründen: Aufgrund unserer westlichen Zeitrechnung – vor beziehungsweise nach Christi Geburt – feiert die Kirche in solchen Jahren jeweils runde Geburtstage. Ursprünglich hießen solche Jahre deswegen einfach nur »Jubeljahre«, was einleuchtend klingt und doch auf einen eher komplizierten Zusammenhang hinweist. Bonifaz VIII. nämlich bezog sich seinerzeit ausdrücklich auf die jüdischen Wurzeln des kirchenlateinischen Worts »jubilare«. Das geht auf das jüdische »Jobel« zurück, welches seinerseits den Ton eines Widderhorns bezeichnet, der im alten Israel alle sieben mal sieben Jahre an die Befreiung der Juden aus ihrer Gefangenschaft in Babylon erinnerte. Verknüpft war der jüdische »Jobel« mit einer enorm populären Maßnahme: einer allgemeinen Schuldenbefreiung.

Mit der Einführung katholischer Jubeljahre versuchte der Papst diese Tradition aufzunehmen und sie ins Christliche umzudeuten. Praktisch gesehen hieß das: Neben den geistlichen Feierlichkeiten musste ein handfester Vorteil her, der den Gläubigen auch einen individuellen Anlass zum Jubeln gab. An die Stelle eines allgemeinen Erlasses aller Geldschulden (so etwas konnte damals ohnehin kein Papst mehr verfügen) setzte Bonifaz VIII. die Befreiung von den »himmlischen Schulden«, also den Zeitstrafen, die sich die Menschen entsprechend den damals gültigen Sündenkatalogen im Verlauf ihres Lebens eingehandelt hatten. Statt sein Strafregister im Fegefeuer abzubüßen, konnte man es nun durch religiöse Übungen wie Gebete oder eben Wallfahrten abarbeiten. Gewöhnlich ging das stückweise vor sich; doch zum Heiligen Jahr versprach der Papst einen vollkommenen Ablass. Der allerdings wurde mit einer besonderen Bedingung verknüpft: Um all ihre Sündenstrafen auf einmal loszuwerden, mussten die Pilger sieben römische Kirchen nacheinander aufsuchen – zu Fuß und an einem einzigen Tag.

Diese Regelung wurde beibehalten, auch außerhalb der Heiligen Jahre, die in der Folgezeit nicht nur alle 100 Jahre, sondern oft in wesentlich kürzeren Abständen – derzeit sind es 25 Jahre – wiederholt wurden. Vielleicht klingt es allzu oberflächlich, wenn man die Heiligen Jahre als groß angelegte PR-Aktionen für den Vatikan als Zentrum der katholischen Kirche bezeichnet. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie nicht nur von den Gläubigen, sondern mittlerweile von Menschen aus aller Welt vor allem ihres Eventcharakters wegen wahrgenommen werden, wobei – das ist die andere Seite der Medaille – der Vatikan davon sehr viel weniger profitiert als die römische Tourismusindustrie.

Im Vergleich zu den Millionen, die während des letzten Heiligen Jahres – 2000 – nach Rom strömten, war die Zahl jener, die bei der Gelegenheit tatsächlich zu allen sieben Wallfahrtskirchen gepilgert sind, kaum der Rede wert. Die meisten dürften es bei einem Besuch des Petersdoms belassen haben, der selbstverständlich den ersten Platz unter den Wallfahrtskirchen einnimmt. Doch zumindest aus religionsgeschichtlichem Blickwinkel stehen die anderen sechs – Santa Maria Maggiore, San Giovanni in Laterano, Santa Croce in Gerusalemme, die beiden außerhalb der alten Stadtmauern (fuori le mura) liegenden Kirchen San Paolo und San Lorenzo sowie San Sebastiano ad Catacumbas – auf der Rangliste der nahezu unzähligen römischen Kirchen ebenfalls ganz oben.

Gern verwechselt werden die Wallfahrtskirchen übrigens mit den römischen Patriarchalbasiliken. Diesen hochoffiziellen Titel führen jene Kirchen, die direkt dem Papst unterstehen; als Besucher erkennt man sie daran, dass sie über einen päpstlichen Thron, einen eigenen Papstaltar und eine sogenannte Heilige Pforte verfügen; das ist ein normalerweise zugemauerter Eingang, der nur am Beginn eines Heiligen Jahres feierlich geöffnet wird. Und: Auch die drei außerhalb der vatikanischen Grenzen liegenden Patriarchalbasiliken (die Laterankirche, Santa Maria Maggiore und San Paolo fuori le mura) gehören zum extraterritorialen Besitz des Vatikans. Faustregel also: Nicht alle römischen Wallfahrtskirchen sind Patriarchalbasiliken, aber alle Patriarchalbasiliken gehören zu den Wallfahrtskirchen.

Wir haben’s – wozu gibt es all die Routenplaner im Internet – ganz genau nachgemessen: Die kürzeste begehbare Linie, die die sieben Wallfahrtskirchen miteinander verbindet, hat eine Gesamtlänge von 17,4 Kilometern. Theoretisch wäre das durchaus an einem Tag zu Fuß zu schaffen. Doch in der Praxis und angesichts des römischen Dauersmogs mag man das keinem mehr zumuten, nicht einmal einem auf den vollkommenen Ablass erpichten armen Sünder. Selbst im Vatikan sieht man das so und hat die Ablassanforderungen drastisch reduziert: Mittlerweile genügt schon der Besuch einer der sieben Wallfahrtskirchen. Keine geringe Rolle dürfte dabei gespielt haben, dass innerhalb der katholischen Theologie die traditionelle Vorstellung vom Fegefeuer und den darin abzusitzenden Sündenstrafen schwer ins Wanken geraten ist.

Dennoch: Die sieben Wallfahrtskirchen oder zumindest einige von ihnen aufzusuchen bleibt weiterhin eine gute Idee. Schließlich bietet sich so die Gelegenheit, auch die außerhalb der vatikanischen Mauern liegenden Teile des Vatikans kennenzulernen.

Beginnen könnte so eine moderne Wallfahrt ganz in der Nähe der Stazione Termini, des römischen Hauptbahnhofs. Der liegt, obwohl man das vom riesigen (und hässlichen) Bahnhofsvorplatz aus kaum wahrnimmt, am Fuß des Esquilins, eines der sieben Hügel des antiken Rom. Auf dem wiederum erhebt sich eine der prominentesten römischen Kirchen überhaupt: die Patriarchalbasilika Santa Maria Maggiore.

Dass diese Kirche staatsrechtlich zum Besitztum des Vatikans gehört, kann man in den Lateranverträgen nachlesen. Sofort sichtbar aber wird beim Betreten des Innenraums, dass wir es hier mit einer Papstkirche zu tun haben: der hohe barocke Baldachin über dem Papstaltar ist Berninis berühmtem Baldachin in der Peterskirche deutlich nachempfunden. Die Parallelen zum »Original«-Vatikan gehen aber noch weiter: Wie dort findet sich hier eine Sixtinische Kapelle. Doch während die Sixtinische Kapelle des Vatikans auf Papst Sixtus IV. zurückgeht, stand für die Capella Sistina in Santa Maria Maggiore der gut 100 Jahre später amtierende Sixtus V. Pate.

Die Sixtinische Grabkapelle und die ihr gegenüberliegende Capella Paolina (sie beherbergt die Gräber zweier weiterer Päpste, nämlich Pauls V. und Clemens’ VIII.) mit ihren großen Kuppeln prägen die Außenansicht von Santa Maria Maggiore, die deswegen wie ein typisch römischer Barockbau wirkt. Doch da trügt der Schein gewaltig. Die Basilika entstand bereits im Altertum, wahrscheinlich nach 431, und ist trotz aller Um- und Anbauten in ihrem architektonischen Kern bis heute erhalten geblieben.

Ein gutes Stück jenseits des Bahnhofs liegt die Wallfahrtskirche San Lorenzo fuori le mura, die im 13. Jahrhundert durch die Vereinigung zweier getrennter, aber unmittelbar aneinandergrenzender älterer Kirchen entstand. Abgesehen davon bietet San Lorenzo kaum genug Interessantes, um hier länger zu verweilen. Sehenswerter ist, auch wenn das streng genommen nicht hierher gehört, der große, bei der Kirche liegende Friedhof Campo Verano: Nirgends sonst, nicht einmal auf den berühmten Pariser Friedhöfen Père Lachaise und Montmartre, hat die Grabmalsphantasie so spektakuläre und so hinreißend kitschige Blüten getrieben wie hier. Ob Opernsänger oder Oberstaatsanwalt, ob Professorengattin oder blutjunges Mädchen: Im Schatten schwarzer Zypressen halten die Toten hier als mal »lebensecht« realistische, mal ausdrucksvoll verklärte Marmor- und Alabasterstatuen Wache an ihren eigenen Gräbern, und Schutzengel jeglicher Gestalt und Größe geben stumm ihren Segen dazu: Kein Auge, das da trocken bleiben könnte.

Weil der Campo Verano als größter römischer Friedhof von einem halben Dutzend Buslinien angefahren wird, bildet die benachbarte Wallfahrtskirche San Lorenzo den idealen Ausgangspunkt für eine Art Mini-Pilgerpfad oder, weltlich gesprochen, für einen etwas ausgedehnteren Spaziergang durch das außerhalb des historischen Zentrums liegende Alltagsrom.

Weiter geht es zunächst über die alte Pilger- und Heeresstraße Via Tiburtina, die das Stadtzentrum mit dem alten römischen Kurort Tivoli verbindet; wir folgen ihr stadteinwärts und genießen dabei die Atmosphäre, die mit ihren zahlreichen Bars und kleinen Geschäften vor allem durch die unmittelbare Nachbarschaft zur größten (nicht-vatikanischen) römischen Universität geprägt ist.

Über die Via dei Reti oder die Via dei Sardi (beide zweigen nach links von der Tiburtina ab) erreichen wir die Viale dello Scalo San Lorenzo, die über den weiten Platz Largo di Passamonti zur Porta Maggiore führt, einem eindrucksvoll erhaltenen Tor der antiken römischen Stadtmauer. Von hier aus sind es nur noch ein paar Schritte (durch die Via Eleniana) nach Jerusalem.

Nach Jerusalem? Ganz richtig. Der Name der großen Wallfahrtskirche Santa Croce in Gerusalemme ist ganz wörtlich gemeint: Er bezieht sich nicht etwa darauf, dass das Kreuz Christi in Jerusalem aufgerichtet wurde (das versteht sich ja ohnehin von selbst), sondern weist die Pilger darauf hin, dass sie hier tatsächlich auf Jerusalemer Boden stehen. Streng genommen gilt das allerdings nur für die unterhalb des heutigen Kirchenbaus liegende Kapelle der heiligen Helena. Sie, die Mutter Kaiser Konstantins des Großen, hatte (angebliche) Teile des Kreuzes Christi – einige Holzstücke, einen Nagel, die über dem Haupt des Gekreuzigten befestigte Tafel mit der Aufschrift INRI (Jesus von Nazareth, König der Juden) – nach Rom gebracht. Deswegen hat man das Fundament der Helena-Kapelle, in der diese Reliquien bis heute aufbewahrt werden, aus Originalerde vom Kalvarienberg in Jerusalem errichtet.

Abgebildet ist Helena (neben Christus, den vier Evangelisten, den Aposteln Petrus und Paulus sowie Papst Silvester I.) auf dem im fünften Jahrhundert entstandenen (allerdings 1000 Jahre später komplett renovierten) Gewölbemosaik der Kapelle. Auch die Wallfahrtskirche darüber geht auf antike Grundmauern zurück. Im 12. Jahrhundert wurde sie umgebaut, doch erst eine Allerweltsbarockisierung im 18. Jahrhundert hat ihr künstlerisches Schicksal – wie, leider Gottes, das so vieler anderer römischer Kirchen – vollends besiegelt.

Ach ja, der Barock . . . Ursprünglich bedeutet das auf nicht ebenmäßig runde, also missratene Perlen angewandte Wort barocco »hässlich«. Und wiewohl einige der schönsten Kirchen (wie Il Gesù, San Ignazio, San’ Andrea, San Carlino) und Paläste Roms diese Wortbedeutung glanzvoll widerlegen, so lernt man im Verlauf römischer Besichtigungstouren doch, den Barock und seine vor nichts haltmachende Umbaumanier zu hassen.

In gewisser Weise gilt das leider auch für die nächste Station unserer Pilgertor, den von Santa Croce in Gerusalemme bereits sichtbaren und über die Via Carlo Felice rasch erreichbaren Lateran. Sicher, an großartiger Weitläufigkeit lassen weder die Kirche San Giovanni in Laterano und der angrenzende Papstpalast noch die vor beiden liegende Piazza etwas zu wünschen übrig. Doch dieser Eindruck herrscht vor allem aus der Ferne. Je näher man dem Lateran kommt, desto mehr erscheint einem jene Großartigkeit nur noch als monumentale Öde. Ganz anders als am Petersplatz gibt es hier nichts, was dem Blick auf die Steinmassen einen sinnvollen Halt und eine lebendige Perspektive verleihen könnte. Alles hier, das spürt man, soll Macht und Bedeutung signalisieren – und macht gerade so den riesigen Bedeutungsverlust deutlich, den die einstige römische Residenz der Päpste und ihres gesamten Hofstaats während der letzten 1000 Jahre erfahren hat.

Das Merkwürdige daran ist: Rein kirchenrechtlich gesehen ist bis heute die Lateranbasilika die wichtigste unter den römischen Kirchen. Sie – und nicht etwa Sankt Peter – ist die Titularkirche des Papstes als Bischof von Rom, jenes Amtes also, von dem sich alle anderen päpstlichen Vollmachten erst ableiten. Und nach wie vor wird das Leben der Diözese (der Bischofsgemeinde) Rom vom Lateranpalast aus koordiniert und geleitet.

Das alles ist, auch wenn dem Papst für die Verwaltung seines römischen Kirchensprengels eine Reihe von Kardinälen und Bischöfen zur Seite stehen, nicht etwa bloße Theorie, im Gegenteil: Gerade in jüngster Zeit legen die Päpste wieder größten Wert darauf, in ihrer Eigenschaft als Bischöfe von Rom wahrgenommen zu werden und, so gut es geht, mit den in Rom wohnenden Katholiken und ihren Seelsorgern Kontakt zu halten. Die Gelegenheit dazu nehmen sie nicht nur bei Gemeindebesuchen wahr (wie Johannes Paul II. hat sich Benedikt XVI. vorgenommen, im Lauf seiner Amtszeit jede einzelne römische Pfarrei aufzusuchen), sondern auch, indem sie vor allem an hohen Feiertagen persönlich die Festmessen in der Lateranbasilika zelebrieren. Für Roms Katholiken und für gut informierte Touristen bietet sich dann die Gelegenheit, dem Papst wesentlich näher zu kommen, als dies während der Massenaudienzen und Sonntagsansprachen im Vatikan der Fall ist. Dennoch, von der einstigen Bedeutung des Laterans erzählen nur noch die Steine.

700 Jahre ist es mittlerweile her, dass sich Papst Clemens V. unmittelbar nach seiner Wahl nach Avignon absetzte und damit den Lateran aufgab, der seinen Vorgängern fast ein Jahrtausend lang als Residenz gedient hatte. Das Gelände gehörte ursprünglich einer römischen Patrizierfamilie, den Laterani, wurde dann von Nero konfisziert und zum kaiserlicher Besitz erklärt. Nachdem Kaiser Konstantin die Kirche als seinen wichtigsten Bündnispartner gewonnen hatte, machte er im Jahr 314 den Lateran dem damaligen Papst Miltiades zum Geschenk, mit der Auflage, auf dem Grundstück ein Gotteshaus zu errichten.

So entstand hier, noch vor der ersten Peterskirche, die zunächst Christus, dem Erlöser gewidmete Lateranbasilika – und es entstand der Papstpalast, von dem aus die sich rasch vergrößernde Weltkirche fortan regiert wurde. Zwar begann die jenseits des Tibers liegende Peterskirche vor allem wegen des darunter vermuteten Petrusgrabs der Laterankirche bereits im frühen Mittelalter den religiösen Rang abzulaufen; bedeutendstes Zeichen dafür war die in Sankt Peter erfolgte Kaiserkrönung Karls des Großen. Dennoch blieb der Papstsitz im Lateran faktisch wie politisch das Machtzentrum der katholischen Kirche – und insofern der Vorgänger des heutigen Vatikans.

Dessen zweiter Vorgänger wurde, wie eben erwähnt, für insgesamt 70 Jahre das südfranzösische Avignon mit seinem mächtigen, bis heute erhaltenen Papstpalast. Nach ihrer Rückkehr aus dem französischen Exil (in dem sie sich zwar auf Wunsch des französischen Königs, aber auch durchaus aus eigenem Antrieb aufhielten – niemand hat sie dazu gezwungen) blieb den Päpsten dann kaum eine andere Wahl, als in den Vatikan überzusiedeln: Der Lateranpalast war nämlich in der Zwischenzeit bis auf wenige Überreste abgebrannt; das heutige Nachfolgergebäude wurde erst 200 Jahre später, im 16. Jahrhundert, errichtet, nachdem die Ruinen des alten Palastes – mit Ausnahme der Scala Santa, der Heiligen Treppe, und der ehemaligen Papstkapelle – zerstört worden waren.

Damals plädierten viele dafür, die durch den Brand ebenfalls beschädigte Laterankirche bei dieser Gelegenheit gleich mit abzureißen. Doch Papst Innozenz X. sorgte dafür, dass die alte Bausubstanz der Kirche erhalten blieb und beauftragte, als das Heilige Jahr 1650 bevorstand, den berühmten Barockbaumeister (und Bernini-Konkurrenten) Francesco Borromini mit der Renovierung und Modernisierung von San Giovanni. Wohlwollend gesagt mag man das Ergebnis von Borrominis architektonischen Bemühungen als einen formstrengen, vor allem seiner bewussten Kühle wegen eindrucksvollen barocken Kirchenraum bezeichnen. Man könnte aber auch sagen: Die heutige Lateranbasilika wirkt in erster Linie leer. Immerhin ließe sich das als Vorzug interpretieren: Schließlich verschafft uns der von seinen antiken Grundmauern umfasste Innenraum ein nachhaltiges Bild von den imposanten Dimensionen einer original römischen Basilika.

Leider wird selbst dieser Eindruck ziemlich heftig gestört durch eine Bausünde, die man sogar einem Papst kaum verzeihen mag: die unter Leo XIII. um 1880 vergrößerte Apsis (also der Altarraum) der Kirche, deren Wände mit ebenso riesigen wie heillos kitschigen Mosaiken aus dem 19. Jahrhundert bedeckt sind. Das Mosaik im Apsisrund – es zeigt den von seinen Aposteln umgebenen Christus – stammt zwar aus dem 13. Jahrhundert, ist aber nur die (nicht sonderlich gelungene) Kopie eines antiken Vorbilds, in die bei dieser Gelegenheit zudem noch Darstellungen des Auftraggebers der Renovierung (Papst Nikolaus IV.) sowie der heiligen Franziskus von Assisi und Antonius von Padua eingefügt wurden.

Das wichtigste von früher erhaltene »Originalteil« ist das mächtige bronzene Haupttor der Laterankirche. Jedoch stammt es weder von der abgebrannten alten Basilika noch überhaupt von einer Kirche, sondern aus der heidnischen Antike: Es handelt sich um das ursprüngliche Eingangstor des auf dem Forum Romanum stehenden römischen Kuriengebäudes, das Papst Alexander VII. 1661 dort aus- und hier einbauen ließ. Allerdings erwies sich das Tor des römischen Rathauses als zu klein für die päpstliche Basilika; die deshalb nachträglich angestückten Randleisten sind noch heute zu erkennen.

Ein viel eindrucksvolleres Beispiel für die Umwidmung römischer in christliche Kulturtradition bietet das hinter der Basilika und dem rechts angrenzenden Lateranpalast liegende Baptisterium San Giovanni in Fonte. Die unter Konstantin erbaute und noch heute in ihrer ursprünglichen Gestalt erhaltene Taufkirche des Laterans hat man praktischerweise auf den Fundamenten eines alten römischen Badehauses errichtet.

Weitere Fragmente der ursprünglichen Basilika gibt es in dem alten Hof zu sehen, den man vom linken Seitenschiff der heutigen Laterankirche aus erreicht. Dort findet sich einer der schönsten römischen Kreuzgänge überhaupt; er allein würde den Besuch des Laterans lohnen. Die originell geschmückten, oft anmutig gedrechselten Steinsäulen des Arkadenumgangs sind Paradebeispiele für die Arbeit der Kosmaten, einer zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert tätigen Gruppe von Marmordekorateuren, die ihre Spuren unter anderem auch in der Wallfahrtskirche Santa Maria Maggiore hinterlassen haben.

Die letzten vorhandenen Zeichen der ehemaligen Bedeutung des Laterans finden sich allerdings weder in der großen Basilika San Giovanni in Laterano noch im Lateranpalast, sondern in der kleinen, von den allermeisten Touristen übersehenen Kirche San Salvatore della Scala Santa. Sie liegt schräg gegenüber der Basilika, jenseits der den Lateranplatz begrenzenden Autostraße, und beherbergt das religiöse Kernstück des alten Lateranpalastes, die Papstkapelle Sancta Sanctorum (die »Allerheiligste«). Zwar wurde auch sie unter Nikolaus III. restauriert und mit neuem Mosaikschmuck versehen, doch der entscheidende Hinweis auf die Wichtigkeit dieses Orts ist bis heute erhalten geblieben: der Architrav (das ist der große Querbalken) über dem Altar, der in lateinischen Großbuchstaben die Aufschrift trägt: NON EST IN TOTO SANCTIOR ORBE LOCUS – »Auf der ganzen Welt gibt es keinen heiligeren Ort«.

Betreten darf man diesen heiligen Ort als Besucher übrigens nur an wenigen Wochentagen (dienstags, donnerstags und samstags), und auch dann nur während jeweils einer Vormittags- oder Nachmittagsstunde. In den übrigen Zeiten muss man sich mit einem Blick durch die marmorne Frontwand der Sancta Sanctorum begnügen.

Vor diese Wand gelangt man über die Scala Santa, die »heilige Treppe« – so genannt, weil sie aus den 22 Marmorstufen jener Treppe zusammengefügt ist, über die Christus sein Kreuz auf den Kalvarienberg getragen haben soll und die, ebenso wie die Kreuzigungsreliquien von Santa Croce in Gerusalemme, Konstantins Mutter Helena nach Rom gebracht hat. Oft trifft man hier Gläubige, die die (mittlerweile mit Holz verkleideten) Treppenstufen auf Knien überwinden und sich so einen Sonderablass verdienen. Wer das nicht mag, darf – entgegen einem von manchen Reiseführern verbreiteten Gerücht – die Treppe getrost zu Fuß hochsteigen.

Zwei andere bedeutende Reliquien werden in der Lateranbasilika selbst aufbewahrt: Im Ciborium (so heißt in der katholischen Liturgie der »Speisenbehälter« für die Hostien) sind zwei Totenköpfe zu sehen oder zumindest zu ahnen: vorgeblich die Häupter der Apostel Petrus und Paulus. Während sich die Frage nach der Echtheit der Schädel wohl niemals zufriedenstellend beantworten lässt, gibt es im Fall des Paulus-Schädels immerhin eine plausible Erklärung dafür, dass man ihn von dem zugehörigen Skelett getrennt zeigt: Anders als dem der Legende nach am Kreuz gestorbenen Petrus soll man Paulus das Privileg einer römischen Staatsbürgern vorbehaltenen Hinrichtungsart zugebilligt haben: Er wurde enthauptet.

Das kopflose Skelett des Paulus wurde der Überlieferung zufolge außerhalb der Stadtmauern begraben, an der Stelle, an der heute die Basilika San Paolo fuori le mura steht – gleichfalls eine der sieben Wallfahrtskirchen, der allerdings ein noch härteres Schicksal als dem Lateran widerfuhr: Die bis zum Bau des neuen Petersdoms mit Abstand größte Basilika der Welt brannte im Juli 1823 bis auf wenige Grundmauern ab; ein mit Renovierungsarbeiten beschäftigter Dachdecker hatte, als er Feierabend machte, unter einer Bleipfanne ein Stück glühender Kohle übersehen. Das Ereignis wurde nicht nur in Rom, sondern von vielen Katholiken in der ganzen Welt als Katastrophe empfunden. Die Patriarchalbasilika Sankt Paul vor den Mauern nämlich galt als die wichtigste christliche Kirche außerhalb des Vatikans; wie Sankt Peter über dem Grab des Petrus war dieses Gotteshaus über dem Grab des Paulus errichtet worden, des anderen der beiden »Apostelfürsten« also, die die Anfänge der römischen Kirche geprägt hatten.

Allerdings: Der entscheidende Anteil kam, wie schon im Eingangskapitel dieses Buches beschrieben, dabei nicht Petrus, sondern Paulus zu. Auf seinen Missionsreisen durchs alte römische Weltreich geriet Paulus mehrmals in Gefangenschaft, und als Gefangenen eskortierte man ihn schließlich nach Rom.

Ob Paulus vor seinem Tod tatsächlich Gelegenheit fand, die christliche Lehre in Rom selbst, zumindest unter den dort gefangen gehaltenen Christen, zu entfalten, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass die römische Gemeinde Paulus schon sehr früh als religiöse Leitfigur verehrte, während die auf der »Nachfolgepassage« des Matthäusevangeliums gründende These, Petrus sei der erste Leiter der römischen Gemeinde gewesen, erst deutlich später zur innerhalb der Kirche herrschenden Meinung wurde. Paulus geriet deswegen nicht in Vergessenheit; wohl aber stand er von da an in der Rangfolge der Apostel deutlich hinter Petrus.

War das gerecht? Wir gehen wohl nicht ganz fehl, wenn wir in der Kirche San Paolo fuori le mura auch ein Monument des schlechten Gewissens der römisch-katholischen Kirche gegenüber ihrem Urahnen und Mitbegründer Paulus erblicken. In dem Maße, in dem sich die frühen christlichen Basisgemeinden zur »Amtskirche« entwickelten, wuchs bei vielen das Unbehagen über jene Zurücksetzung des Paulus. Manche Kritiker sprachen sogar von dessen gezielter »Ausgrenzung« aus der offiziellen Tradition der katholischen Kirche, deren hierarchischer Charakter sich mit Paulus’ Auffassung vom Christentum nicht vertrage.

Zuletzt hat der linkskatholische Filmregisseur und Autor Pier Paolo (Petrus Paulus!) Pasolini diesen Vorwurf aufgegriffen und ihn unmittelbar ins Politische gewendet: Für Pasolini ist Paulus eine Art Vorläufer der politischen Theologie des 20. Jahrhunderts, der durch seine Auslegung der Botschaft Jesu das auf strikten Klassenschranken beruhende römische Machtsystem radikal infrage stellte und letzten Endes sogar überwand.

Auch wenn Pasolini (der übrigens ein nicht mehr realisiertes Drehbuch zu einem Film über den heiligen Paulus hinterließ) da vielleicht allzu enthusiastische Schlüsse gezogen hat: Seine Beschreibung des modernen Alltagslebens im »paulinischen« Rom – gemeint ist ungefähr die Gegend zwischen der Porta Ostiense und San Paolo – zählt zu den schönsten Texten, die über Rom geschrieben worden sind. Zugegeben, das gehört nicht wirklich hierher. Es sei denn, man ginge, mit Pasolinis Text in der Hand, den weiten Pilgerweg hinaus nach San Paolo zu Fuß, statt bequemerweise die Metrolinie B oder den Bus zu benutzen.

Anders als für Paulus selbst hat Pasolini sich für die dem Heiligen gewidmete Kirche offenkundig nicht interessiert. Verdenken kann man ihm das kaum. Der bald nach dem Brand mit dem »Wiederaufbau« beauftragte Architekt ließ unseligerweise die noch erhaltenen Mauern des alten Gebäudes abreißen, um Platz für seine Neukonstruktion zu gewinnen. Ungefähr erhalten blieben dabei lediglich die gewaltigen Dimensionen der alten Basilika. Dem fünfschiffigen Neubau selbst irgendwelche ästhetischen Reize abzugewinnen fällt einem alles andere als leicht.

Gewiss, Kirchen sind in erster Linie nicht für Touristen da, sondern für Beter. Doch angesichts der Bahnhofshallenatmosphäre des riesigen Innenraums von San Paolo dürften sogar die frömmsten Pilger Mühe haben, so etwas wie eine andächtige Stimmung in sich zu erzeugen. Und fragen darf man sich auch, ob es wirklich eine gute Idee war, ausgerechnet die Kirche des heiligen Paulus mit den Porträts sämtlicher (bis zu Benedikt XVI.) 266 Nachfolger des heiligen Petrus auszuschmücken, die man doch eher in der Peterskirche erwarten würde.

Nichtsdestotrotz gelten diese »Papstfresken« als eine der Hauptattraktionen von San Paolo fuori le mura. Begonnen wurde die Bildnisreihe relativ bald nach der Einweihung der alten Paulsbasilika im fünften, spätestens im sechsten Jahrhundert. Das heißt: Für den vorhergehenden Zeitraum kann von authentischen Porträts nicht die Rede sein; an deren Stelle sind idealisierende Abbildungen getreten.

Offen bleibt dabei obendrein die Frage, ob wenigstens Namen und Reihenfolge der zwischen und über den Arkaden von San Paolo verewigten Päpste dem tatsächlichen historischen Ablauf entsprechen. Feststellen lässt sich der Sachverhalt deswegen so schwer, weil die zu großen Teilen noch von der »Naherwartung«, also vom Glauben an ein baldiges Weltende geprägte junge Kirche nicht daran gedacht hatte, so etwas wie ein amtliches Päpsteregister anzulegen. Erst um 530 entstand das »Liber Pontificalis«, das die Kurzbiografien aller bis dahin amtierenden Päpste enthält und von da an bis zum Ende des neunten Jahrhunderts fortgesetzt wurde.

Die darauffolgenden 150 Jahre, bekannt als saeculum obscurum (»dunkles Jahrhundert«), verliefen im Vatikan derart verworren und wohl auch skandalös, dass die zeitgenössischen Chronisten offenbar jeden Überblick verloren. Heute weiß man immerhin, dass zwischen 882 und 1049 mindestens 44 Päpste regiert haben, fast so viele wie in den fünf Jahrhunderten davor und danach. Viele von ihnen gelangten durch Bestechung oder Gewalt auf den Thron – und wurden nach meist kurzer Amtszeit ihrerseits vergiftet oder erschlagen.

Erst im zwölften Jahrhundert wurde das »Liber Pontificalis« neu überarbeitet und wieder regelmäßig fortgeschrieben. Doch nachdem die Jahrzehnte des Schisma, in denen zwei oder mehr Päpste gleichzeitig regierten (und dementsprechend verschiedene offizielle Papstchroniken kursierten), erneut große Verwirrung gestiftet hatten, hat man die Arbeit am »Liber Pontificalis« zu Beginn des 15. Jahrhunderts endgültig eingestellt.

Das heute gültige Papstverzeichnis ist fester Bestandteil des 1716 erstmals erschienenen und seit 1851 als offizielles päpstliches Jahrbuch firmierenden »Annuario Pontificio«. Daran, dass die Reihe der Papstfresken in San Paolo nicht mit dieser aus vatikanischer Sicht verbindlichen Chronologie übereinstimmt, dürften sich angesichts der verwickelten Geschichte des Papsttums allenfalls Pedanten stoßen. Ärgerlicher schon ist es für den Betrachter, dass er hier in den meisten Fällen lediglich Kopien zu sehen bekommt: Mit der Basilika selbst hat der Brand von 1823 so gut wie alle bis dahin entstandenen Papstbildnisse zerstört; die wenigen erhaltenen sind im Museum des der Kirche angegliederten Benediktinerklosters zu sehen.

Bei der Betrachtung der jüngsten, nach dem Neubau der Basilika entstandenen und künstlerisch recht unbedeutenden Papstbildnisse (das des gegenwärtigen Papstes ist durch den Strahl eines Punktscheinwerfers hervorgehoben) fällt vor allem auf, dass der Raum für weitere Porträts ziemlich knapp bemessen ist. Dazu könnte einem die oft zitierte »Weissagung des Malachias« einfallen. Die stammt angeblich von einem irischen Zisterzienserabt des zwölften Jahrhunderts, wurde in Wahrheit jedoch erst 1590 von einem Anonymus in die Welt gesetzt. Wie viele ähnliche Prophezeiungen (zum Beispiel die noch berühmtere des Nostradamus) sagt die »Weissagung des Malachias« das Ende der Welt voraus, tut dies aber in einer besonders aparten Form, indem sie alle bis dahin regierenden Päpste vorausblickend aufzählt und mit einer kurzen Charakterisierung versieht. Papst Benedikt XVI. – ihm kommt laut Malachias der Beiname de gloria olivae zu: »vom Ruhm des Olivenbaums«, warum auch immer – wäre demnach bereits der vorletzte Papst überhaupt. Gemessen daran wirkt der Anblick der Porträtserie in San Paolo einigermaßen beruhigend: Es gibt noch Platz für gut zwei Dutzend weiterer Nachfolger.

Der gegenwärtig amtierende Papst übrigens hat dem schlechten Gewissen des Vatikans gegenüber dem heiligen Paulus auf ganz besondere Weise Rechnung getragen, als er das Jahr 2008 offiziell zum Paulusjahr erklärte. Damit lenkte er zugleich den Blick der katholischen Öffentlichkeit wie den vieler Rombesucher wieder auf die Paulusbasilika, die zwar nicht mehr außerhalb der Mauern, also der römischen Stadtgrenzen, aber immer noch sehr weit weg vom Vatikan liegt – ein Monumentalbau im Niemandsland zwischen Industriebrachen und Vorstadtwüsten, der seine eigentliche Bestimmung, die Erinnerung an den hier begraben liegenden heiligen Paulus, lange Zeit eher zu verbergen als sie sichtbar zu machen schien.

Doch das soll nun anders werden. Bislang konzentriert sich der Blick des Kirchenbesuchers, wenn er nicht gerade die Papstbilder über den seitlichen Arkaden betrachtet, zwangsläufig auf den riesigen, vom Florentiner Bildhauer Arnolfo di Cambio geschaffenen Baldachin über dem Papstthron (nebenbei: das einzig wirklich sehenswerte Kunstwerk hier). Im Nähertreten bemerkt man die halbkreisförmige Vertiefung vor dem Altar: Ein paar Stufen führen zu einer durch ein Ziergitter geschützten Marmorplatte mit der Inschrift PAVLO APOSTOLO MART – »Dem Apostel und Märtyrer Paulus (gewidmet)«.

Diese Platte ist das einzige im Neubau enthaltene Überbleibsel der alten Basilika. Merkwürdigerweise war man über die Jahrhunderte nie, nicht einmal nach dem Brand der Kirche, auf die Idee gekommen, nachzuschauen, ob sich darunter tatsächlich ein Grab befand. Hatte man Angst, dort womöglich nichts zu finden? Falls ja, so hat sie der Vatikan jedenfalls tapfer überwunden, als er 2002 ein Archäologenteam mit der Überprüfung des Sachverhalts beauftragte. Und die Experten hatten Erfolg: Sie fanden tatsächlich einen Sarg unter der Marmorplatte. Dennoch tat der Vatikan die daraufhin in den Medien verbreitete Meldung »Paulusgrab entdeckt!« als unsinnige Übertreibung ab: Die Grabungsarbeiten hätten doch nur bestätigt, was man ohnehin schon immer wusste.

Nichtsdestotrotz tauchte nun auch hier das schon im Zusammenhang mit dem »Petrusgrab« im Vatikan geschilderte Problem auf: Woher weiß man, dass in diesem Sarg wirklich die Gebeine des heiligen Paulus liegen? Ein Indiz dafür könnte ein etwa zehn Zentimeter breiter (mittlerweile vermörtelter) Spalt sein, den die Archäologen im Sargdeckel entdeckten. Solche Öffnungen kennt man vor allem von Kultgräbern der Frühzeit; sie dienten dazu, Opfergaben für den Toten in den Sarg einzuführen. In Rom, wo man ja die Feuerbestattung praktizierte, kamen diese kleinen Sargschlitze – Archäologen nennen sie Libationsröhren – erst wieder bei christlichen Heiligengräbern in Gebrauch: Die Gläubigen schoben Stoff streifen oder Holzstücke durch die Öffnung, um sie durch Berührung mit dem Leichnam zu »weihen« und sie so zu Amuletten zu machen.

Ein wichtiges Indiz, wie gesagt, aber natürlich kein endgültiger Beweis. Dennoch kamen die Entdeckungen der Archäologen wie gerufen zum Paulusjahr: Mit dem Sarg erhält die Basilika sozusagen ihr geistliches Zentrum zurück, das durch eine Umgestaltung der Grabstätte in Zukunft vollständig sichtbar gemacht werden soll.

Ganz sicher ist sich der Vatikan seiner Sache allerdings nicht: Von der naheliegenden Möglichkeit, eine Kamera durch die Librationsröhre zu schieben, um den Grabinhalt zu überprüfen (ein Skelett mit Kopf, eines ohne Kopf – oder gar kein Skelett?), möchte man vorläufig keinen Gebrauch machen. Die zögernde Haltung des Vatikans ist Symptom für ein wirkliches Dilemma der katholischen Kirche: Je mehr Aufhebens sie von vermuteten oder echten Reliquien macht, desto mehr konterkariert sie ihr eigenes, durchaus ernst gemeintes Bestreben, den Glauben unabhängig von vorwiegend magischen Elementen wie eben der Verehrung angeblicher Heiligengebeine zu machen. Ganz im Sinne des heiligen Paulus übrigens: Die anderen »fordern Zeichen«, hat der Völkerapostel geschrieben, »wir Christen aber leben im Glauben und nicht im Schauen«.