Kapitel 10

I hre Ahnung erwies sich als zutreffend. Als Rozie am nächsten Morgen mit den Schachteln ins Büro kam, verkündete sie, dass Jack Lions freigelassen worden sei. Vielleicht reichte die Tatsache, »hinter einem Gebäude zu parken«, doch nicht aus, um ihn festzuhalten. Angesichts seiner Verbindung zum Opfer war die Queen erleichtert. Sie sah es als eine positive Entwicklung, auch wenn Bloomfield und seine Mannschaft zweifellos enttäuscht sein würden.

Aber während der Vorbereitungen für die Silvesterfeier im Ballsaal hatte Rozie auch ein paar beunruhigende Neuigkeiten für das Königspaar.

»Offenbar hat Mr  Lions dem Sunday Recorder ein exklusives Interview gegeben, Ma’am. Es wird morgen in der Zeitung erscheinen. Sie wollten es uns wissen lassen, weil Sie darin erwähnt werden.«

»Ich? Warum?«, wunderte sich die Queen.

»Das wollten sie nicht sagen, sondern uns nur aus Höflichkeit darüber informieren.«

»Haben Sie irgendeine Idee, um was es gehen könnte?«

Rozie hatte gerade ein kurzes, schwieriges Gespräch mit dem Chief Constable geführt, der seinerseits ein kurzes, schwieriges Gespräch mit seiner Mannschaft im Hauptquartier der Einheit für Gewaltverbrechen geführt hatte. Es tat allen leid. Es sei unerträglich, dass die Queen da so ohne jede Vorwarnung hineingezogen werde.

»Es hat sich herausgestellt, dass Lions ein Alibi für den fünfzehnten Dezember hat«, erklärte Rozie.

»Ein gutes?«

»Ähm, ja, Ma’am. Es kam von einem Beamten der Met, der sich undercover in eine Gruppe von Tierrechtsaktivisten eingeschlichen hat. Er hat Mr  Lions in einem Nachrichtenbeitrag zu dessen Verhaftung erkannt. Wie sich herausstellte, war er den ganzen Tag bei einem Treffen in Nord-London, auf dem eine Aktion gegen ein paar Versuchslaboratorien vorbereitet wurde. Der Beamte hat ihn da persönlich gesehen. Bilder der Videoüberwachung bestätigen es, und als Mr  Lions damit konfrontiert wurde, gab er es gleich zu.«

»Warum hat er es nicht sofort gesagt?«, fragte sich Prinz Philip. »Es ist doch fraglos besser, sich zur Planung eines Angriffs auf ein Versuchslabor zu bekennen als unter Anklage zu stehen, den eigenen Vater zerstückelt zu haben?«

»Ja, Sir«, sagte Rozie. »Sie denken, Lions scheint seine Verhaftung mit Absicht in die Länge gezogen zu haben. Offenbar hat er seine Teilnahme an der Tierschutzsache mit einem breiten Grinsen eingestanden. Als wäre ihm etwas gelungen.«

»Was?«

Rozie schüttelte den Kopf. »Ich habe die Beamten gefragt, aber sie wissen es nicht.«

Die Queen schürzte die Lippen. »Angesichts dessen, was er tatsächlich gemacht hat, habe ich da eine Ahnung.«

Sie seufzte und hoffte, es würde nicht so schlimm, wie sie dachte.

 

Es wurde schlimmer.

MORD IN SANDRINGHAM  – UNSCHULDIGER VERHAFTET

 

GROSSES POLIZEIAUFGEBOT , UM WEIHNACHTSFEST DER QUEEN ZU SCHÜTZEN

 

JACK LIONS : WIE ICH EINGESPERRT WURDE , UM DER QUEEN PEINLICHKEITEN ZU ERSPAREN  – DAS KOMPLETTE INTERVIEW

Niemand traute sich am nächsten Morgen, das Boulevardblatt allzu auffällig zu lesen, und doch rissen es sich alle aus den Händen, um es genau zu studieren.

»Dieser Mistkerl!«, sagte Philip, der als Erster sein Urteil abgab. »Dieser miese Mistkerl.«

»Du hast doch nicht das Geringste damit zu tun!«, entrüstete sich Sophie Wessex bei der Queen und fühlte sich offenbar an ihrer Stelle angegriffen.

»Diese Fotos von Bloomfield, wie er Heiligabend hier vorfährt …«, bemerkte Anne säuerlich. »Die sind nicht ideal.«

»Die wollen den Eindruck erwecken, das Ganze sei von uns gesteuert worden!«, explodierte Philip. »Oder doch zumindest, dass uns die Polizei in den Arsch kriecht und alles tut, um unseren Ruf zu erhalten, als wären wir eine Bananenrepublik. Als wäre neue Polizeireviere zu eröffnen das Einzige, was wir je tun. Und ihnen Orden verleihen, weil sie verdammte Leben retten. Mistkerl «, murmelte er wieder.

Die Queen sah die Zeitung als Letzte, nachdem sie sich am Abend zu sehr verausgabt und den Morgen über mit den Nachwirkungen ihres Infekts zu kämpfen hatte. Mit ihren neunzig Jahren erinnerte sie ihr Körper gelegentlich daran, dass sie auf ihn achten sollte.

Was da in der Zeitung stand, half ihr dabei nicht. Das ausführliche Exklusivinterview mit Jack Lions füllte die Seiten vier, fünf und sechs, illustriert durch etliche Fotos von Sandringham House, ihr selbst hinter einem Vorhang an einem Fenster (aufgenommen vor etwa zehn Jahren in Schottland), das aussah, als spähte sie heimlich etwas aus, dem Chief Constable, wie er in dem Subaru in Sandringham vorfuhr und einem alarmierenden Bild von etlichen Beamten der Met in voller Einsatzmontur, als wären Dutzende von ihnen losgeschickt worden, um Mr  Lions auf die Straße zu zerren.

Es war am Tag nach meinem ersten Weihnachtsfest mit meiner Freundin und unserer erst sechs Wochen alten Tochter. Die Geburt war schrecklich und Alana immer noch nicht richtig genesen. Wir fingen gerade an, das Trauma hinter uns zu lassen, als wild gegen die Tür gehämmert wurde, und ehe wir’s uns versahen, war das Zimmer voller brüllender Polizisten, und mein kleines Mädchen fing erschreckt an zu schreien. Ich wurde von einem drakonischen Trupp Beamter gepackt und in einen Van verfrachtet …

Sie steckten mich in eine Zelle, und es war klar, dass sie nichts gegen mich in der Hand hatten. Sie brauchten nur irgendwen, und das schnell, den sie beschuldigen konnten, weil die abgetrennte Hand meines Vaters auf dem Gelände des Jagdschlosses der Queen gefunden wurde …

Aber so war es nicht!, dachte sie. Doch das war nicht der Punkt.

Kein Gedanke daran, mich um meinen Vater trauern zu lassen, der, wie ich gerade erfahren hatte, entführt und zerstückelt worden war. Er hatte mir von einem neuen Projekt erzählt, um die Landschaft zu retten. Wir wollten es gemeinsam verwirklichen. Seit Wochen hatten wir darüber geredet. Mein Vater hatte begriffen, was seine Pflicht gegenüber unserer Erde war. Wir hatten wieder zusammengefunden. Mein Leben sollte sich ändern, und jetzt war alles zerstört. Der Polizei war das egal. Sie haben mich stundenlang verhört und versucht, meinen Willen zu brechen, damit ich den Sündenbock abgab und sie gut dastanden vor einer sehr reichen alten Lady, deren Familie seit mindestens tausend Jahren für den Tod unzähliger unschuldiger Tiere verantwortlich ist. Tatsächlich haben sie mich an genau dem Tag aus meiner Wohnung gezerrt, an dem die Queen und ihre Familie in Sandringham Hunderte Fasane vom Himmel geholt haben …

Da war er, der Grund, aus dem er mit seinem Alibi gewartet hatte, der Grund für das triumphierende Grinsen bei seiner Freilassung. Ein Versuchslabor zu zerstören, war in den Augen eines Tierrechtsaktivisten nichts im Vergleich damit, die Königsfamilie selbst mit in die Debatte hineinzuziehen. In den nächsten vier Absätzen ging es um die früheren Könige und ihre Jagdleidenschaft, verbunden mit Fotos von verschiedenen Familienmitgliedern bei einer Hirschjagd in der Nähe von Balmoral und König Edward VII . auf dem Rücken eines Elefanten, wie er einen Tiger erschoss. In den entsprechenden Kreisen war Mr  Lions damit ein Held.

Im Salon warteten alle auf ihre Reaktion, doch die Queen, wenngleich verdrossen, blieb stumm.

»Es ist unglaublich«, sagte Edward. »Was sollen wir tun?«

Sie alle kannten die Antwort: Beschwere dich nie, erkläre dich nie. Wie schwer, frustrierend und ärgerlich es auch sein mochte.

»Sollen wir Sir Simon holen?«, fragte jemand.

»Nein«, sagte die Queen entschieden. »Rozie wird sich darum kümmern. Sie weiß, wie.«

»Das ist noch nicht das Ende«, murmelte Anne.

Die Queen war ihrer Meinung. Von ihrer Erkältung gezeichnet und mit anderen Dingen im Kopf, hatte sie gehofft, sich aus der Sache heraushalten zu können. Jetzt hatte die Presse sie ins Zentrum des Ganzen geholt, ob es ihr gefiel oder nicht.