S ir Simon und Rozie waren bis spät noch im Büro. Im letzten Januar, erinnerte sich Rozie, hatte er dazu geneigt, seinen Computer schon um fünf Uhr herunterzufahren, seine Frau in London zu einem Schwatz anzurufen und so das Beste aus der Ruhe der winterlichen Pause zu machen, bevor es im Februar wieder wie gewohnt losging. In diesem Jahr war Lady Holcroft noch in Schottland, doch das erklärte Sir Simons sorgenvollen Ausdruck und den Stapel Akten nicht, durch den er sich arbeitete.
»Irgendetwas Interessantes?«, fragte sie und steckte den Kopf durch seine Tür.
»Nur wenn Sie die Zusatzinformationen zum Einspruch der Regierung gegen das höchstrichterliche Urteil zu R. Miller versus den Minister wegen des Verlassens der Europäischen Union interessiert«, sagte er und rieb sich die Augen. Er hob den Blick. »Es ist alles äußerst wichtig, hat jedoch vor acht Stunden aufgehört, interessant zu sein. Ich versinke im Euro-Sprech. Aber ich komme schon durch.«
»Müssen Sie das?«
»Ja. Die Premierministerin wollte das königliche Vorrecht anrufen, unser Ausscheiden einzuleiten. Ihr ›Brexit heißt Brexit‹-Ding. Das königliche Vorrecht ist in der Tat von Bedeutung. Aber in diesem Fall heißt Brexit …«, er deutete auf den einen halben Meter hohen Stapel vor sich auf dem Tisch. »Ich bin nicht sicher, dass irgendwer weiß, was genau es im Moment bedeutet. Und dann hat der Sekretär der Premierministerin angerufen. Sie will reden. Das klingt unheilvoll.«
»Warum?«, fragte Rozie.
»Weil es bedeutet, dass sie über Weihnachten nachgedacht hat.«
»Ist das nicht eine gute Sache?«
»Nicht unbedingt, nein. Premierminister, die zu viel Zeit mit Nachdenken verbringen, neigen zu schlechten Ideen und besprechen sie mit den falschen Leuten, was es noch unendlich schlechter macht.«
»Ich hätte gedacht, die Ruhe und Entspannung würden ihr guttun«, meinte Rozie.
Sir Simon schnaubte. »Wenn sie sich ausruhte und entspannte, würde ich Ihnen vielleicht zustimmen. Aber das tut keiner von ihnen. Wenigstens nicht seit Macmillan. Sie holen ihre speziellen Berater zu Tischgesprächen heran, manchmal auch ihre Unterstützer, richten aufwendige Dinner für sie aus – wobei ich nicht sicher bin, wie oft sie Letzteres tut. Sie spielen jedes Szenario durch und überdenken alles. Wenn es nach der Chefin ginge, würde sie mit jedem von ihnen fischen gehen, damit sie mal ausspannen und etwas Abstand gewinnen.«
»Ich kann mir Theresa May nicht beim Fischen vorstellen«, sagte Rozie grinsend.
Sir Simon nickte und seufzte. »Das ist das Problem. Ich auch nicht. Ich spüre, dass dieser Stapel während der nächsten paar Wochen noch wachsen wird, und ich muss irgendwie wissen, wovon ich rede.«
»Möchten Sie, dass ich es für Sie lese? Oder doch einen Teil davon?«
»Nein, das mache ich schon. Ich habe in der nächsten Woche ein paar Besprechungen in der Stadt. Da darf es durchaus so aussehen, als wäre ich informiert. Gehen Sie ruhig.«
Er lächelte ihr freundlich zu, und Rozie lächelte zurück. Aber sie fühlte sich ausgeschlossen. Sie hatte ihre kurze Zeit an der Spitze der Nahrungskette des Privatbüros genossen, als sie die internationalen Informationen hatte lesen können. Jetzt fühlte sich ihr Job wieder banal an. Sie konnte sich nicht mal mit Henry ablenken, der seine Pflichten vorübergehend an einen anderen Offizier abgegeben hatte. Rotierende Aufgabenplanung eben. Sie wünschte Sir Simon eine gute Nacht und ging hinaus.
Rozie war in einer viktorianischen Lodge untergebracht, etwa fünfzehn Minuten zu Fuß vom Haus entfernt. Könige und Königinnen, Herzöge und ihre Mätressen hatten über die Jahre hier logiert, und den meisten von ihnen, dachte Rozie, mussten die dunklen Wände und das schwere Mobiliar ähnlich beklemmend wie ihr vorgekommen sein. Aber ihr Zimmer war groß, das Bett bequem, und alles war besser als die Schuhschachteln, die ihr bei der Army zugeteilt worden waren.
Die Gäste, die sich die Lodge im Moment mit ihr teilten, waren ein Komponist klassischer Musik und dessen Frau, eine Opernsängerin. Die beiden waren für ein paar Tage hier, verbrachten die Abende mit Partyspielen und unterhielten ihre königlichen Gastgeber, indem sie dem Flügel im Gesellschaftszimmer sowohl klassische Klänge wie auch alte Beatles-Songs entlockten. Was hieß, dass Rozie die Lodge für sich hatte. Sie wollte ihre Notizen zum Kalender der Queen während der nächsten Monate auf dem großen Mahagoni-Esstisch ausbreiten, um die einzelnen Termine mit einem Farbcode zu versehen, der anzeigte, wie viel Vorbereitung sie verlangten. Was in Sandringham passiert, bleibt in Sandringham , doch häufig bestand das lediglich aus Büroarbeit.
Das Ganze dauerte länger als erwartet. Sie verlor das Zeitgefühl, wusste aber, dass es gegen Mitternacht sein musste. Die Playlist mit Fela Kuti und Nina Simone, die im Hintergrund auf ihrem Telefon spielte, lief mindestens zum zehnten, zwölften Mal. Der Wind draußen war stärker geworden, und irgendetwas schlug da in einem unregelmäßigen Rhythmus dumpf gegen etwas anderes. Davon abgelenkt, stellte sie sich Vertäuungen vor, die sich gelöst hatten. Es erinnerte sie an ihre Tage in der Army, wo alles immer fest verzurrt hatte sein müssen. Schließlich ertrug sie das Geräusch nicht mehr, nahm die schwerste Taschenlampe, die sie im Schrank in der Diele finden konnte, griff nach ihrem Mantel, schlüpfte in das erste Paar Stiefel, das passte, und ging hinaus, um nachzusehen, was da los war.
Die Lodge teilte sich ihren Garten mit einem kleinen Cottage, in dem einst die Dienerschaft königlicher Gäste untergebracht worden war. Rozie wusste, dass der Erbsenzähler darin wohnte, bis er etwas Dauerhaftes gefunden hatte. Sie hatte bereits zweimal versucht, mit ihm über sein Handgemenge mit Edward St Cyr auf dem Parkplatz zu sprechen, aber entweder war er nicht zu Hause gewesen oder hatte sie nicht sehen wollen. Rozie erinnerte sich, wie er sie bei der Treibjagd angestarrt hatte. Sie hatte sich deswegen keine Gedanken gemacht, jetzt war es etwas komplizierter.
Das Geräusch kam aus einem offenen, ans Cottage gebauten Schuppen mit Wellblechdach. Rozie leuchtete ins Innere hinein und sah verrostende Gartengeräte, ein kleines, mit einem Segeltuch bedecktes Boot und ein unter einer Plastikplane verstecktes größeres Fahrzeug. Allerdings hatte sich die Plane auf einer Seite gelöst, wehte hoch und klatschte gegen die Karosse. Rozie fragte sich, warum das unablässig schlagende Geräusch Cassidy nicht so verrückt machte wie sie. Im Schein ihrer Taschenlampe tauchte ein Bungeeseil auf, das auf dem Boden lag und mit dem die Plane festgemacht gewesen sein musste. Es führte unter dem Auto her, von einer Seite zur anderen. Es war eine vierradgetriebener Land Rover Freelander.
Rozie war überrascht. Viele ihrer Freunde in der Army schützten ihre Autos so – aber für gewöhnlich waren es empfindliche Sportwagen oder Oldtimer, die leicht rosteten. Das hier war ein Land Rover, und es überraschte sie auch, dass Cassidy den Wagen nicht benutzte. Das wäre auf den Wegen hier so viel vernünftiger, als mit dem kleinen Nissan herumzuschaukeln, der vor dem Cottage parkte und aussah wie ein Leihwagen. Warum ein anständiges Auto unter einer Plane aufbewahren, wenn du …
Bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, fiel das Licht ihrer Lampe auf den auf der Fahrerseite makellosen Kühlergrill und die daneben etwas komisch wirkende Beifahrerseite. Sie löste das Bungeeseil ganz, zog die Plane zur Seite, und ihr Puls schoss in die Höhe, als sie sah, dass der linke Scheinwerfer in einem komischen Winkel zur Seite zeigte. Die gesamte vordere Ecke des Wagens war eingedrückt, die Stoßstange hing halb herab, und in der Haube war eine große, tiefe Delle. Eine Delle , dachte Rozie, etwa so groß wie von einer kleinen, erwachsenen Frau hineingedrückt .
Die Scheinwerfer eines sich nähernden Autos erleuchteten die Baumwipfel. Rozie konnte den Motor durch das Rauschen des Windes hören. Sie griff in die Manteltasche, um ein Foto des Schadens am Land Rover zu machen, doch da war nichts. Der Wagen kam näher. Ihr Telefon musste noch auf dem Esstisch liegen und den leeren Raum mit My Baby Just Cares For Me unterhalten.
Rozie schaltete die Taschenlampe aus und wartete. Der Wagen fuhr vorbei. Sie wollte gerade zurück zur Lodge gehen, als sie Schritte hörte und einen großen schwarzen Umriss durch die Dunkelheit auf sich zurennen sah. Shit! Er hatte einen Hund. Natürlich hatte er einen. Alle hier hatten einen Hund. Der Hund blieb vor ihr stehen und bellte laut genug, um die Toten aufzuwecken. Sie spannte die Muskeln an und wartete, dass Cassidy auftauchte.
Aber er kam nicht. Rozie sah erst jetzt, dass die Hintertür des Cottage weit offen stand. Aus einem Raum fiel schwaches Licht nach draußen. Der alte Labrador schien aufgeregt. Ganz offenbar wollte er, dass sie mit ihm kam.
Angesichts dessen, was sie gerade entdeckt hatte, wäre es das Beste gewesen, loszulaufen und die Polizei zu rufen. Aber irgendetwas stimmte da nicht. Wie konnte die Tür da mitten im Winter so offen stehen? Ihre Army-Ausbildung sagte ihr, das Risiko der Situation genauer abzuschätzen und nachzusehen, was dahintersteckte.
Ein Vorhang zum Raum neben der Küche war nur teilweise zugezogen. Die Taschenlampe in der Hand, alle Sinne in Alarmbereitschaft, schlich Rozie zum Fenster und spähte hinein. Der Raum hatte etwa die Größe von Katies Wohnzimmer und wurde durch eine einzelne Tischlampe mit einem schief sitzenden Schirm erleuchtet. Der Boden in der Nähe der Lampe lag voller schmutziger Teller und einiger leerer Weinflaschen. Darüber hinaus vermochte sie die in Strümpfen steckenden Füße eines bäuchlings hinter einem alten Sofa liegenden Mannes auszumachen. Der Hund war wieder drinnen und saß neben ihm.
Rozie folgte ihm vorsichtig. Die offene Tür führte in die kleine Küche. Auf dem Tisch lag eine Schrotflinte mit einer Reihe Putzstöcke und Öle. Entlang der Fußleisten standen leere Weinflaschen, in ordentlichen Zweierreihen. Eine offene Tür führte ins Wohnzimmer. Rozie sah den Mann gleich beim Eintreten. Sie hockte sich neben seinen Kopf und betrachtete sein blasses, unrasiertes Gesicht.
Das war also Julian Cassidy. Rozie erkannte ihn jetzt. Vor etwa fünf Jahren hatte er beim Schießen um den Queen’s Prize in Bisley neben ihr gestanden, und es überraschte sie nicht, dass er sie bei der Jagd wiedererkannt und angestarrt hatte: Eine schwarze Frau fiel in den feineren Kreisen dieser Art Schießwettbewerbe auf. Weiße Männer nicht so sehr. Cassidy war freundlich gewesen, erinnerte sie sich, und wusste mit dem Gewehr so gut wie sie umzugehen. Auch wenn sie nicht gewonnen hatten, hatten sie an dem Tag doch heftig gefeiert.
Sie legte ihm ihre Finger auf den Hals und spürte einen schwachen Puls. Was immer mit ihm geschehen war, er würde ihr nichts antun, heute Abend zumindest nicht.