R ozie rief sich rasch ins Gedächtnis, was sie über Neds letzte Stunden zu wissen glaubte.
»Aber er wurde in London gesehen, Ma’am, von Zeugen.«
»Ein großer Mann mit einem markanten Hut und Schal wurde gesehen«, korrigierte die Queen sie. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie sehr sich die Männer der St Cyrs ähneln?«
Doch, das war es. »Aber was ist mit den Textnachrichten, die er Astrid geschickt hat? Ihr wäre doch aufgefallen, wenn sie nicht von ihrem Verlobten gekommen wären.«
Die Queen sah sie scharf an.
»Tatsächlich?«
Es klang wie eine rhetorische Frage, aber Rozie bestand auf ihrem Einwand. »Wenn jemand anders sein Telefon benutzt hat, muss er das sehr clever angestellt haben, Ma’am. Astrid sagte, die Nachrichten seien ziemlich vertraulich gewesen.« Sie wollte die Chefin nicht in Verlegenheit bringen, aber das Simsen unter Paaren konnte heutzutage ganz schön unzweideutig sein. Das heißt, wenn es gut war. Obwohl …
»Hmm?«, murmelte die Queen, als sie sah, dass Rozie zögerte.
»Ich nehme an, dass sich der Stil imitieren ließe, wenn man die vorherigen Nachrichten einsehen könnte, und dazu würde es reichen, ein wenig hochzuscrollen.« Vielleicht war es doch nicht so schwierig. Wenigstens nicht für eine kurze Unterhaltung. Unheimlich, aber kein Kunststück.
»Wir können also nicht sicher sein, dass es Ned war, der Astrid an dem Abend geschrieben hat.«
Aber jemand hatte ihr geschrieben. Und zwar von Neds Handy, in seinem Studio. Rozie blickte auf ihre Notizen.
»Ich sehe nicht, wer. Laut Valentine waren er und Roland Peng zu der Zeit in seinem Studio. Lord Mundy, Flora und ihre Töchter waren in Ladybridge Hall. Sie alle bürgen füreinander. Dann hat sich Lord Mundy noch spät mit Mr Wallace getroffen. Flora hat ihn ankommen sehen.«
Die Queen nickte. »Mr Wallace kann die Geschichte nicht mehr bestätigen oder dementieren. Ein Auto ist in Ladybridge Hall angekommen, sicher. Es kann aber auch gut ein Taxi vom Bahnhof gewesen sein. Ich denke, bei allem, was die St Cyrs angeht, müssen wir davon ausgehen, dass jede und jeder von ihnen bereit ist, zum Schutz der Familie zu lügen. Die Frage ist, wer hat Ned noch nach ihnen gesehen oder anschließend mit ihm gesprochen?«
Rozie überlegte. Es schien unwahrscheinlich, ergab aber Sinn. Das ungelöste Problem war immer gewesen, wie Ned in London hatte verschwinden können. Sollte er gar nicht dort gewesen sein, beantworteten sich etliche Fragen selbst. Und auch die Fundstelle der Hand passte besser ins Bild. Rozie legte ihr Notizbuch zur Seite.
»Es gibt da zwei Dinge, die ich nicht verstehe.«
»Oh?«
»Wenn es nicht Ned war, warum ist dann die Polizei noch nicht dahintergekommen? Würden DNS und Fingerabdrücke nicht zeigen, was wirklich geschehen ist?«
»Das sollte man meinen«, sagte die Queen mit einem kurzen Seufzer. »Deshalb habe ich mich auch so lange gefragt, ob ich mich vielleicht täusche. Wenn ich recht habe, war der Täter, wer immer er ist, äußerst vorsichtig und clever. Ich stelle mir vor, dass er eine Menge TV -Dokumentationen über Spurensicherung gesehen hat. Die sind faszinierend. Und die Polizei hat auch nicht weiter über die Hunde nachgedacht. Was ist Ihre andere Frage?«
»Wie ist Ned gestorben?«
»Auf die altmodischste Weise, die es gibt. Ich denke, er wurde vergiftet.«
Rozie nickte. Natürlich. In echter St-Cyr-Tradition.
»Die Sache bei Gift ist, dass der Gebrauch Probleme bringt, wenn man will, dass es nicht nachweisbar ist«, sagte die Queen. »Ich habe genug Detektivromane gelesen, um das zu wissen. Wenn man jedoch plant, dass die Leiche niemals als solche gefunden wird, ist es weit einfacher. Das heißt, er wurde versteckt, seine Kleider wurden ihm ausgezogen, das Handy und die Schlüssel abgenommen. So konnte der Mörder später die Leiche in aller Ruhe beseitigen. Wichtig war, während der nächsten paar Stunden für Ablenkung zu sorgen.«
»Wenn Flora also sagt, dass sie Ned und ihren Vater aus Ladybridge Hall hat wegfahren sehen …«
»Hat sie jemanden in Neds Auto gesehen, in Neds Mantel, mit seinem Hut. Oder sie hat gelogen.«
Rozie versuchte die Verwegenheit des Ganzen zu erfassen. Bis jetzt hätte sie die St Cyrs nicht derartiger Bravourstücke für fähig gehalten. Sie waren exzentrisch, ja, aber … Andererseits, gab es überhaupt etwas, was der Aristokratie nicht zuzutrauen war? Trotzdem …
»Wenn Sie recht haben, Ma’am, wenn der Mörder Mr St Cyrs Identität übernommen hat, hätte er in dessen Land Rover, dem Auto, dem Haus, der Wohnung erwischt werden können. Das Risiko … So viel hätte danebengehen können.«
»Offenbar war es das Risiko wert«, sagte die Queen. »›Besser in der Hölle regieren …‹ Vielleicht ist ja tatsächlich etwas danebengegangen. Aber die Situation ist die, dass die Polizei immer noch keine Ahnung hat, wo die Leiche sein könnte. Und ohne haben sie nichts. Natürlich würde sich alles klären, sobald sie gefunden würde.«
»Wissen Sie, wo sie ist, Ma’am?«
»Ich denke, ja. Es gibt nur einen logischen Ort, an dem sie sein kann.«
»Ich … Ich kann es immer noch nicht ganz glauben. Es ist schwer vorstellbar …«
»Das ist der Gedanke dahinter.«
»Aber ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Rozie. »Und wenn Sie recht haben, weiß ich, wo ich suchen würde.«
»Gut. Jetzt müssen Sie nur noch den Chief Constable dazu bringen, ebenfalls dort zu suchen.«