13
Zurück in ihrem Badezimmer spritzte sich Abigail kaltes Wasser ins Gesicht. Sie blickte in den Spiegel, zuerst beiläufig, dann hielt sie inne, um ihr grimmiges Spiegelbild anzustarren. Einige Haarsträhnen waren nass geworden und wirkten dunkler, und wie immer verstärkte die Wut das Funkeln in ihren Augen. Sie sah wirklich aus wie Becky. Ein bisschen wenigstens.
Wenn Grahame ihr nicht helfen wollte, außer mit einem läppischen, halb leeren Fotoalbum, dann war sie auf sich allein gestellt. Aber das war gut so. Einsamkeit war ihre Freundin, Fantasie ihre Feindin. Sie setzte sich aufs Bett und loggte sich auf dem Laptop, den Melanie ihr gekauft hatte, ein.
Sie suchte ungefähr eine Stunde lang, konnte aber Becky weder bei Facebook noch bei Twitter noch irgendwo sonst finden. Als sie den Namen ihrer Schwester googelte, fand sie nur denselben Artikel, den sie am Flughafen gelesen hatte: Ex-Marineoffizier Grahame Johnstone – verheiratet mit der Schauspielerin Melanie Gallagher … Tochter, Rebecca Johnstone … Geschäftsführer von GJ Prebiotics in Los Angeles. Das letzte Mal, als sie diesen Artikel gelesen hatte, war sie aufgeregt gewesen, nervös, erwartungsvoll.
Jetzt kannte sie diese Menschen. Einer von ihnen war tot. Zwei waren ihr ein Rätsel.
Dann fiel ihr das iPhone ein.
Sie holte es aus ihrer Tasche, gab die PIN ein und scrollte durch die Liste der Kontakte, bis sie Sticks Namen gefunden hatte. Angeblich war er ihr engster Freund gewesen. Vielleicht hatte er ein paar von ihren Sachen. Oder zumindest könnte sie versuchen, mit ihm darüber zu reden, was hier passiert war.
»Matthew, bist du’s?«, fragte sie in dem besten amerikanischen Akzent, den sie zustande brachte. Sie wollte nicht erkannt werden.
»Nein. Hier ist sein Vater.«
»Oh, ist er da, bitte?«
»Nein. Ich habe ihn seit drei Tagen nicht mehr gesehen.«
»Wirklich?«
»Das ist nichts Ungewöhnliches.« Mr. Howards Stimme war überraschend ruhig. »Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, dass ich fertig mit ihm bin. Ich verstehe, dass er eine schwere Zeit durchmacht. Das tun wir alle. Aber solange er nicht um meine Hilfe bittet und Verantwortung übernimmt, will ich nichts von ihm hören. Sagen Sie ihm das?«
Abigail öffnete den Mund, um zu antworten.
Doch die Leitung war tot.
Abigail brauchte Geld für das Taxi. Die Pfund, die sie noch besaß, hatte sie noch nicht in Dollar umgetauscht. Obwohl sie sich schlecht dabei fühlte, nahm sie sich fünfzig Dollar aus dem Versteck in dem Topf auf dem Kühlschrank. Sie würde es später zurückzahlen.
Die Adresse des Hauses kannte sie nicht, und es wurde langsam dunkel, deswegen war es schwer, den Weg dorthin zurückzufinden. Dem Taxifahrer riss die Geduld, während sie nach Hinweisen Ausschau hielt, die sie wiedererkannte, und Anweisungen gab: »Diese Ausfahrt, hier, schnell … Da entlang, nein, nein, biegen Sie links ab. Gleich an der Ampel!« Sie bat ihn zu warten, doch er fuhr weg, sobald sie ihm das Geld gegeben hatte.
Mittlerweile war es Nacht geworden. Die Straßenlampen vor dem baufälligen Haus – oder dem Hautquartier, wie sie es nannten – waren zerschlagen worden, aller Wahrscheinlichkeit nach von Stick und Becky. Im Schutz der Schatten kletterte Abigail über das Tor und schlich sich an der Hausseite entlang und in den Garten hinter dem Haus. Die Hintertür war verschlossen. Die Fenster waren zu, die Vorhänge vorgezogen. Sie tastete über den Kies und fand einen Stein, der groß genug war. Mit angehaltenem Atem schlug sie das Küchenfenster ein.
Ein Hund bellte im Hof nebenan, aber kein Alarm ging los. Sie duckte sich, wartete. Das Bellen hörte auf. Gott sei Dank, niemand hatte es gehört. Sie griff hinein und tastete nach dem Riegel an der Küchentür, öffnete ihn und schlich hinein.
Es war fast stockfinster. Sie wünschte, sie hätte daran gedacht, eine Taschenlampe mitzubringen. Weil sie die Lampen nicht anknipsen wollte, schlurfte sie durch die Küche, die Hände vor sich ausgestreckt, und suchte die Oberflächen ab, bis sie den Herd fand. Die Gasflamme brannte nach drei Klicks und gab genug Licht, dass sie in dem Schrank unter dem schmutzigen Spülbecken eine Kerze fand. Sie zündete sie an und drehte das Gas ab.
Bis auf ein paar Flyer auf dem schäbigen Teppich war der Flur leer, die Schlafzimmer ebenso. Das Wohnzimmer, in dem das letzte Mal noch überall Papier und Malutensilien verstreut gewesen waren, war jetzt komplett ausgeräumt, sogar die Möbel waren weg. So wie in Beckys Zimmer.
Moment. Ein Geräusch. Was war das? Hatte da jemand gehustet? War das wieder der Hund?
Abigail blieb reglos im Flur stehen, schirmte die Kerzenflamme mit der Hand ab und hielt den Atem an. Hatte sie sich das nur eingebildet? Langsam zählte sie bis zwanzig. Fantasie war der Feind. Auf Zehenspitzen ging sie weiter zum Schrank unter der Treppe, die Flamme flackernd vor ihr. Das Schloss war jetzt aufgebrochen. Die Tür knarrte, als Abigail sie ganz aufdrückte. Sie streckte ihre zitternde Hand in den dunklen Schrank und sah zu, wie die schwache Flamme den Raum erhellte. Die Kiste, in der Becky das Geld und die Fotokopie des Briefes ihrer Mutter versteckt hatte, war fort.
Doch die rechteckige Kiste, die sie vom Van zusammen hereingetragen hatten, war noch da. Unter der Decke, unberührt. Langsam hob sie die Decke an und schnappte nach Luft.
Die Kiste war aus Eichenholz. Sie sah aus wie ein kleiner Schrankkoffer oder …
In den Deckel war ein Bild eingraviert: zwei große Vögel, mit ausgebreiteten Flügeln.
Die Truhe.
Abigail hörte auf zu atmen. Das Haus wurde ganz still. Es gab nur noch ihr Herz, das unter ihren Rippen klopfte.
Nieves Truhe der besonderen Dinge. Hier. Jetzt. An diesem Ort.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Ihre Fingerspitzen bebten. Die Kerze in der anderen Hand flackerte. Hatte sie Wahnvorstellungen? Wie war es möglich, dass diese Truhe in diesem Schrank war? Nein, nein, nein … Abigails Atem ging schnell, angstvoll, als sie nach der Kette um ihren Hals tastete. Nieve hatte ihr den Schlüssel gegeben. Vor sieben Jahren. Ihr Vater musste die Truhe vor Becky versteckt haben. Oder nicht einmal versteckt; Becky hatte die Truhe nur für ein weiteres Stück Gerümpel auf dem Dachboden gehalten. Vermutlich hatte sie nie einen zweiten Gedanken an ihre Bedeutung verschwendet. Warum sollte sie auch, wenn Grahame gelogen hatte? Sie hatte nur einen leeren Schrankkoffer gewollt, und auch das nur, weil sie Stauraum brauchte.
Doch Vermutungen über Becky anzustellen war zwecklos. Dass die Truhe hier war, bedeutete, dass Nieve gewusst hatte, wo Becky war, und dass Nieve ihre Existenz vor Abigail verheimlicht hatte. Wann hatte Nieve die Truhe nach Übersee verschickt? An demselben Tag, an dem sie Abigail den Schlüssel gegeben hatte, als sie im Sterben lag, in ihrem Bett im Wohnwagen? »Nimm den. Behalte ihn immer bei dir. Ich habe nichts anderes, das ich dir geben kann.« Bis jetzt hatte Abigail diese Worte immer für seltsam und überflüssig gehalten. Sie hatte immer gedacht, dass Nieve etwas Bedeutungsvolleres, Schöneres hätte sagen können.
Abigail schluckte mit zusammengeschnürter Kehle. Sie lehnte die Kerze an die Tür. Sie flackerte gegen das Holz. Hektisch tastete sie nach dem Verschluss der Kette. Sie brauchte den Schlüssel. Wo war der kleine Riegel, um sie zu öffnen? Da. War das …
Die Kerze kippte um. Scheiße. Der Teppich brannte.
In Panik begann sie mit den bloßen Händen auf den glimmenden Teppich einzuschlagen. Verdammt. Die Flamme ging aus, aber zuvor verbrannte sie sich noch daran.
Ein Klirren. Schritte auf Glasscherben.
Aus der Angst wurde Panik. Ihre Fantasie hatte ihr also doch keinen Streich gespielt. Sie sprang auf. Das Geräusch war aus der Küche gekommen. Jemand war im Haus. Leise schlich sie durch den Flur, blieb hinter der Küchentür stehen und spähte mit einem Auge durch den Spalt. Die Hintertür war offen. Eine dunkle Gestalt rannte durch den Garten und sprang über den Zaun.
Abigail stürzte in die entgegengesetzte Richtung – aus der Vordertür auf die Straße.
Sie hörte erst auf zu rennen, als sie eine hell erleuchtete Bodega erreichte. Ein paar Jugendliche standen vor der Tür. Kapuzenpullis, Bier in Tüten, abgehärmte Gesichter. Sie starrten sie an, als sie atemlos ein Taxi rief. Sie starrte zurück. Komisch: Jetzt erschienen ihr Jungs wie diese nicht mehr so bedrohlich. Sie wusste nicht einmal, welche Bedrohlichkeitsquote sie ihnen geben sollte.
Als Abigail zu Hause ankam, guckte Melanie im Wohnzimmer Two and a Half Men. Sie lachte jedes Mal, wenn das Gelächter aus der Konserve ertönte. »Wo warst du?«, fragte sie Abigail, ohne den Blick abzuwenden. »Ich habe Pad Thai gekocht.«
Einen Moment lang fragte sich Abigail, ob die Alien-Eidechse auch Dope rauchte.
Fernsehen und Pad Thai.
»Ich möchte nichts essen.« Abigail baute sich zwischen Melanie und dem Bildschirm auf. »Ich verstehe nicht, wie du – he, ich spreche mit dir.«
»Es ist noch etwas im Kühlschrank«, erwiderte Melanie mit ausdrucksloser Stimme. Sie legte den Kopf schief. Hier war Abigails Fantasie nicht ihre Feindin. Melanie versuchte an Abigail vorbei auf den Bildschirm zu sehen. Sie nahm tatsächlich nicht wahr, dass ihre Stieftochter völlig durch den Wind war.
Mit einem Schaudern ging Abigail aus dem Raum, an dem Arbeitszimmer ihres Vaters vorbei.
Heute war die Tür ausnahmsweise einmal einen Spalt geöffnet. Sie erhaschte einen Blick auf ihn, wie er an seinem Schreibtisch saß, den Kopf in den Händen. Abigail blieb stehen. Sie spürte, wie ihre Wut wuchs. Sie würde hineingehen und ihn zur Rede stellen. Sie würde hineingehen, jetzt gleich, und sagen: »Hey, ich wollte Beckys Sachen sehen, sie anfassen, etwas von ihnen erfahren, und du hast sie alle weggeschmissen, wie Müll. Warum?«
Oder: »Hey, ich habe Nieves Truhe gefunden, was bedeutet, dass Nieve die ganze Zeit wusste, wo Becky lebte. Was wiederum bedeutet, dass du ein Lügner bist.«
Oder: »Hey, ich will eine Erklärung. Hörst du mich? Ich habe ein Recht zu erfahren, was wirklich vorgeht. Was hat deine Frau für ein Problem?«
Irgendetwas davon hätte sie sicher gesagt, wenn ihr Vater nicht aufgesehen hätte.
Als er sie zögernd dastehen sah, wurden seine Augen hart.
Abigail murmelte ein »Tut mir leid« und ging leise weiter nach oben. Melanie hatte nicht gelogen (sie log nie). Grahame wollte in Ruhe gelassen werden. Und das war in Ordnung. Richtig. Denn Abigail hatte heute Abend etwas gelernt. Grahame würde ihr nicht helfen, die Lücken zu füllen. Wer brauchte ihn überhaupt? Sie hatte sich noch nie auf jemanden verlassen und würde auch jetzt nicht damit anfangen. Sie war fertig mit ihrem Vater, so wie Sticks Vater fertig mit seinem Fleisch und Blut war. Sie würde alles herausfinden, was sie wissen wollte, ohne Grahame irgendetwas zu fragen.
Und auch ohne ihm irgendetwas zu sagen.