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Der Mann, der an dem Tisch saß und Abigail ansah, war weder ihr Vater noch ihr Freund. »Setz dich, Abi«, sagte er mit einer Stimme, die versuchte, beides zu sein. Er war auch kein Sozialarbeiter, eher ein inkompetentes Arschloch. Er machte samstags die Nachtschicht und schlief gewöhnlich, anstatt ein Auge auf die Bewohner zu haben. Abigail hätte dafür sorgen können, dass er rausgeschmissen wurde. Vielleicht würde sie das auch, wenn er sie noch einmal Abi nannte.
»Abigail«, korrigierte sie ihn und ließ sich auf dem Stuhl nieder. Sie hielt nichts von Kosenamen. Kosenamen waren etwas für Leute, die geliebt wurden.
»Okay, Abigail. Also, sitzt du bequem?«
»Alles prima.«
»Ich fürchte, ich habe sehr schlechte Nachrichten.«
Sie erwiderte nichts.
»Abi?«
»Wie ich bereits sagte, ich heiße Abigail«, sagte sie. Sehr schlechte Nachrichten langweilten sie, die Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit, mit der sie auftraten. Immer wurden sie einem in Beratungsräumen wie diesem überbracht: kotzeabweisender Teppich, unaufgeräumte Schreibtische mit Kaffeetassenringen, fleckige Decken. An der Wand ein Plakat der Telefonseelsorge. Und immer waren die Überbringer der Nachricht Menschen wie dieser hier, die besorgte Gesichter machten, während sie im Geiste ihre Einkaufsliste schrieben.
Vor zwei Jahren hatte sie im Aufnahmezentrum von Granoch denselben hohen Stapel orangefarbener Ordner angestarrt. »Dieses Internat hat einen ausgezeichneten Ruf«, hatte damals das jeweilige inkompetente Arschloch gelogen, »und es liegt ganz in der Nähe der Gegend, wo du aufgewachsen bist.« Als wenn die Nähe zu einem Zuhause, das es schon lange nicht mehr gab, ein Vorteil wäre.
Auf dem orangefarbenen Ordner war mit dickem schwarzem Stift Abigail Thom gekrakelt und darunter eine fünfstellige Zahl: 50837. Das war ihre Nummer. Sie war diese Nummer. Kind fünfzigtausendachthundertsiebenunddreißig. Ihr beschissenes Papierleben, geschrieben von Leuten, die sich beim Sprechen Notizen machten und sie nicht lesen ließen, was sie geschrieben hatten. Und die dann abends nach Hause gingen und unterwegs zum Einkaufen haltmachten. Eines Tages würde sie lesen, was da drinstand. Was gab ihnen das Recht, mehr zu wissen als sie?
»Deine Mutter ist gestern Nacht gestorben«, sagte er.
Abigail hörte die Worte, konnte sich aber nur auf den Kaffeebecher konzentrieren. GLASGOW, KULTURHAUPTSTADT 1990. Der Becher war älter als sie.
»Das ist jetzt schwer zu begreifen, ich weiß.« Er machte eine Pause, bevor er die Neuigkeit wiederholte. »Hast du mich gehört? Deine Mutter ist gestern Nacht gestorben. Deine leibliche Mutter.«
»Oh.« Ihre Stimme klang nicht richtig. Zu leise. Sie schluckte, setzte sich aufrecht und versuchte, das Wimmern schnell in etwas Entwaffnendes und Nüchternes übergehen zu lassen. »Oh, okay. Danke, dass Sie es mir gesagt haben. Ist das alles?«
Das inkompetente Arschloch blinzelte. Offenbar hatte er auf eine große Szene gehofft. Wahrscheinlich hatte er gedacht, sie würde sich in seine Arme werfen und an seiner knochigen Schulter weinen. Wahrscheinlich hatte er sich schon darauf gefreut, heute Abend nach Hause zu gehen und seinem Mitbewohner (denn eine Freundin hatte der sicher nicht) zu erzählen, dass er eine sechzehnjährige Waise getröstet hatte, dass er das schluchzende Mädchen fest im Arm gehalten hatte, dass er, und nur er, heute geholfen hatte.
»Ähm, tja, die Krankenschwester sagte, deine Mutter hätte dir etwas hinterlassen, im Western Infirmary. Willst du, dass ich dich dorthin bringe, damit du es abholen kannst?«
»Nein«, sagte Abigail. »Ich weiß, wo das ist.«
Das Krankenhaus war zu Fuß nur fünf Minuten von dem Wohnheim entfernt, das sie seit einem Jahr ihr Zuhause nennen musste. Es hieß New Life – Neues Leben –, aber sie nannte es No Life – Kein Leben. Sechs Schlafzimmer, zwölf Bewohner. Die Bewohner wurden obdachlose junge Erwachsene oder die zu Betreuenden genannt, aber Abigail zog die Wahrheit einem Euphemismus vor: Ungeliebte Niemande.
Sie war ein Ungeliebter Niemand, seitdem sie neun war. Da war Nieve gestorben. Die wunderbare Nieve. Bis dahin hatte Abigail nur selten an ihre leibliche Mutter gedacht. Nieve war ein Hippie mittleren Alters gewesen. Eine angegraute, langhaarige Frau, die Pot rauchte und Gitarre spielte. Freundlich und fürsorglich und großzügig. Alles, was Abigail kannte, und alles, was sie brauchte. Ja, ihr Leben war »unkonventionell« gewesen (so sagte der Sozialarbeiter); sie lebten in einem Anti-Atom-Camp im Westen Schottlands, wo US-U-Boote stationiert waren, obwohl die Sowjetunion längst Geschichte war. Warum also die Kriegsschiffe, wenn es doch keine Bedrohung gab? Eine Protestbewegung hatte sich dort niedergelassen und versuchte, sie zu vertreiben.
Auf Nieves leuchtend pinkfarbenem Wohnwagen stand mit schwarzer Farbe die Parole ATOMWAFFEN? NEIN DANKE!. Ganz hinten drin waren die Betten. Abigail hatte in dem oberen Bett geschlafen, von wo aus man durch ein winziges Fenster das Holy Loch überblicken konnte. Nieve machte schottische Graupensuppe, die auf einem Gaskocher köchelte. Im Herbst sammelte Abigail mit den anderen Kindern Pilze, und sie gingen gemeinsam zur Schule. Abends saßen sie um ein Lagerfeuer herum und erzählten sich Geschichten. Die Erwachsenen taten dasselbe, nur dass sie nicht zur Schule gingen, sondern den lieben langen Tag Pläne schmiedeten, um die Welt besser zu machen und sicherer und gerechter.
Seltsam, dass Abigail sich nur noch an die Vornamen ihrer Kindheitsfreunde erinnerte. Serena. Malcolm. Sunday, das Baby.
Wo sie jetzt wohl waren, und was aus ihnen geworden war?
Nicht lange nach Abigails neuntem Geburtstag hatte Nieve ihr gesagt, dass sie Krebs hatte.
Einen Monat später war sie tot.
Abigail eilte aus dem Büro des inkompetenten Arschlochs. Sie musste überlegen, was sie als Nächstes tun wollte. Sollte sie direkt zum Krankenhaus gehen? Es war ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen entfernt in derselben feinen Schickimickigegend von Glasgow. Sowohl das Western Infirmary als auch No Life waren in schönen viktorianischen Gebäuden untergebracht, die das Elend darin nicht erahnen ließen.
Ihre Mutter war so nah gewesen, als sie starb. Aber andererseits hatte Abigail überhaupt keine Ahnung gehabt, wo ihre Mutter lebte oder was sie tat. Nie. Vor sechzehn Jahren war sie an einem regnerischen Dienstag in Nieves Protestcamp angekommen. Sie und Nieve waren Freundinnen gewesen. Laut Nieve hatte ihre Mutter ihre Freundin angefleht, das neugeborene Baby zu nehmen. Sie war verzweifelt gewesen und hatte sehr geheimnisvoll getan. »Pass gut auf sie auf. Erzähl ihr nichts von mir. Und versuch nie, mich zu kontaktieren.«
Stimmte das überhaupt? Bisher hatte sich Abigail diese Frage noch nie gestellt, aber Nieve hatte es mit der Wahrheit nie so genau genommen.
Nach Nieves Tod hatte Abigail Besuch bekommen von zwei Männern in Jeans. Sie fuhren sie in einem klapprigen Ford Fiesta weg. Sie waren Sozialarbeiter, sagten sie ihr, und sie würden sie an einen Ort bringen, der »Heim« genannt wurde. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber selbst im Alter von neun Jahren begriff sie schnell, dass es etwas Schlechtes war. Es war eines von diesen Büros mit den schmutzigen Kaffeebechern, orangefarbenen Ordnern und Telefonseelsorgepostern. Sie durfte nicht einmal an Nieves Beerdigung teilnehmen, einer humanistischen Trauerfeier in der Nähe von Tighnabruaich.
Bei der Zeremonie gäbe es viel zu viele Drogen, sagte man ihr. Es wäre »zu ihrem Besten«, sich fernzuhalten.
An diesem Abend, so hatte sie es sich zumindest vorgestellt, feierte ihre kleine Gemeinschaft Nieves Leben, indem sie ihren Pappsarg bemalten.
Abigail bereute nur wenig, aber dass sie nicht dabei gewesen war, erfüllte sie immer noch mit Wut. Sie hatte vorgehabt, zwei Vögel zu malen, die frei vor einem klaren blauen Himmel flogen, eine Kopie des Bildes, das in Nieves »Truhe der besonderen Dinge« am Fuß ihres Bettes eingraviert war. Nieve hatte ihr immer gesagt, dass sie beide zwei freie Vögel waren, wie die in der Gravur. Aber die Sozialarbeiter sagten, dass sie nicht mehr zurück in die Kommune und keinerlei Kontakt mit den Menschen dort haben dürfe.
Und so hatte es begonnen. Sieben Jahre des »Betreutwerdens« an acht verschiedenen Orten. Sieben Jahre, in denen sie untersucht und dokumentiert wurde von Frühschichtarbeitern, Spätschichtarbeitern, Nachtschichtarbeitern, Außendienstmitarbeitern, Adoptions- und Pflegekindersachbearbeitern, bla, bla, bla. Fauler Zauber, das alles und sie alle. Wie hieß es noch mal in der Bibel? »Sieben magere Jahre«? Vielleicht war doch nicht alles Quatsch, was in der Bibel stand.
Ihr erster Sozialarbeiter – einer von den Männern in dem Ford Fiesta – hieß Jason McVeigh. Lange Haare und locker drauf, so wie die Männer, die sie aus der Anti-Atomkraft-Kommune kannte. Bei ihm hatte Abigail sich wohlgefühlt. Er zeigte ihr Mitgefühl und widmete ihr Zeit. Er wollte ihre Meinung hören. Er verteidigte sie, als die Erzieher sie beschuldigten, Geld aus dem Personalbüro gestohlen zu haben. (Hatte sie nicht.) Jason nahm sie mit zum Einkaufen, als sie für den traurigen kleinen Tanzabend, den ihre Schule veranstaltete, nichts zum Anziehen hatte.
Nach zwei Jahren ging Jason, um in einer Bar auf Mallorca zu arbeiten. Wer konnte es ihm verübeln? Als er sich verabschiedete, schien er einen Kloß im Hals zu haben. Er würde sie nie vergessen, hatte er gesagt.
Drei Jahre später traf Abigail ihn zufällig auf dem Hauptbahnhof in Glasgow. Er hatte sich die Haare kurz schneiden lassen und schob einen Buggy mit einem kleinen Kind darin. Seinem Kind. Aufgeregt war Abigail zu ihm gerannt. Er sah aus, als würde er sich sehr bemühen, doch er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Alles, was er zustande brachte, war ein leeres Lächeln und ein »Ich hoffe, es geht dir gut?«.
Danach hatte Abigail nie wieder jemanden nahe an sich herangelassen. Sie gab es auf, darum zu bitten, die Kommune besuchen zu dürfen. Als sie vierzehn war und im Aufnahmezentrum von Granoch lebte, ein paar Kilometer die Straße weiter runter, hatte sie sie fast vergessen.
Abigail saß auf ihrem steifen Anstaltsbett. Im Moment hatte sie das Zimmer für sich, das war gut. Zimmergenossen und Zimmer wechselten einander ab. Niemand und nichts schaffte es je, sauber zu bleiben. Nicht sauber auf die Art, wie die Leute und Orte im Fernsehen aussahen oder sogar in der Kommune, wo Nieve und ihre Freunde im See badeten und ihre Wohnwagen stets gründlich putzten.
Ihre neueste Zimmergenossin, ein rumänisches Mädchen namens Camelia, das gerade angekommen war, klebte im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher.
Das Foto, dachte Abigail immer wieder.
»Deine Mum war eine gute Frau«, hatte Nieve ihr mehr als einmal gesagt, »aber sie war nicht in der Lage, sich um dich zu kümmern. Bitte frag mich nicht mehr nach ihr.«
Zunächst hatte Abigail auch nicht das Bedürfnis gehabt, weiterzufragen. Nieve war ihre Familie. Sie gehörte zu jemandem. Aber aus irgendeinem Grund hatte Abigail an ihrem neunten Geburtstag beschlossen, dass sie nun wissen wollte, wie ihre Mutter aussah.
»Bitte! Als Geburtstagsgeschenk?«
»Es tut mir leid, Schatz, ich kann dir nichts sagen. Ich habe es versprochen.«
»Nieve. Bitte.«
Widerstrebend nahm Nieve den Schlüssel – der stets an einer Silberkette um ihren Hals hing –, und zum ersten Mal, seit Abigail denken konnte, schloss Nieve die »Truhe der besonderen Dinge« auf. Es war ihr Stolz und ihre Freude, dieses Ding, in dessen schwerem Deckel zwei Adler oder Falken oder irgendwelche anderen majestätischen Vögel mit ausgestreckten Flügeln eingraviert waren. Doch der Inhalt der Truhe war ein Geheimnis. Abigail versuchte, über Nieves Schulter zu spähen, doch sie sah nur einen Haufen Krimskrams, Fotos und Papiere.
Nieve griff hinein und gab Abigail ein kleines gerahmtes Polaroid: Bunte Demonstranten auf dem George Square in Glasgow mit ATOMWAFFEN?-NEIN-DANKE!-Plakaten.
»Da vorne, das bin ich, und die Hübsche dort, das ist sie, die Dritte von links in der zweiten Reihe. Siehst du? In Orange und Rot? Die dir so ähnlich ist?«
Abigail betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die winzige rot-orange gekleidete Demonstrantin.
»Sie ist genauso schmal gebaut wie du, siehst du?«, sagte Nieve. »Man muss auch für Kleinigkeiten dankbar sein.«
Die neunjährige Abigail fand auch, dass die Frau auf dem Foto schlank war und dass sie regelmäßige Gesichtszüge hatte. Ob sie hübsch war, konnte sie nicht wirklich sagen. Das ist meine Mutter?, hatte sie sich gefragt. Daran erinnerte sie sich.
Nieve war damals schon todkrank. Und sie wusste es.
Abigail warf einen Blick auf ihren grauen Nike-Rucksack am Fuß des Bettes. Das Foto steckte in der Seitentasche. Abgesehen von Nieves Silberkette mit dem Schlüssel daran – die Abigail seit Nieves Tod um den Hals trug –, war es das einzige Andenken an etwas, das vage einer »Familie« ähnelte, das sie behalten hatte. Sie zog den Reißverschluss des Rucksacks auf. Ihre Finger zitterten nicht, sie waren bemerkenswert ruhig. Sie berührte den Rahmen, drehte ihn herum und öffnete ihn, um das kleine Stück Papier herauszuholen, das sie dort vor einigen Jahren versteckt hatte: die mehrfach vergrößerte und ausgeschnittene Fotokopie des Gesichts ihrer Mutter. Abigail hatte die Kopie im Büro ihres vierten Kinderheims gemacht, während die Erzieher eine Schlägerei im Mädchenbadezimmer schlichteten.
Es war ein verschwommener Fleck.
Ihre Mutter war ein verschwommener Fleck. Ein Nachbild.
Abigail schnappte sich ihren Mantel, der im Flur hing. Camelia guckte Arachnophobia. Abigail verstand das; sie hatte viele Stunden auf demselben Sofa verbracht und die einzige DVD angeschaut, die sie besaß: Shining. Eine dreiköpfige Familie, die den ganzen Winter lang in einem verfluchten Hotel eingeschneit war und dort mit Jack Nicholsons entsetzlichem Abstieg in den Wahnsinn fertigwerden musste. Abigail hatte den Film immer geliebt, aber nicht etwa, weil sie sich ebenfalls wie in der Falle fühlte, sondern wegen des kleinen Jungen, Danny. Er besaß das »Shining«, eine Hellsichtigkeit, die ihm erlaubte, in die Zukunft und in die Vergangenheit zu sehen und telepathisch mit denen zu kommunizieren, die die gleiche Fähigkeit hatten. Es war diese Macht, die sie faszinierte – jemandem so nahe zu sein, dass man vollständigen Einblick in seinen Geist hatte und dieser umgekehrt auch in den eigenen. Ein unsinniger Wunschtraum. Gott, sie war ja noch nicht einmal jemandem nahe genug, um richtig mit Worten kommunizieren zu können.
Camelia wurde unruhig, als haarige Spinnenbeine auf dem Bildschirm erschienen.
Sie hatte allen Grund, nervös zu sein. Völlig mittellos, mit einer Mutter, die dringend medizinische Hilfe brauchte, hatte Camelia im Web gepostet, dass sie einen Job suchte, um ihre Familie in Rumänien zu unterstützen. Innerhalb weniger Stunden hatte sie einen »Freund« gehabt: Billy, der sich in sie verliebte, ohne sie je zu Gesicht bekommen zu haben, ihr das Ticket bezahlte, sie am Flughafen abholte und sie dann in dem Wohnheim mit den Worten ablud: »Ich bin gleich zurück.« Seitdem wartete Camelia auf diesem Sofa.
Billy war bei No Life wohlbekannt. Er war ungefähr siebenundzwanzig, hatte die stämmige Statur eines Rugby-Spielers und den Slang eines Jungen, der kurz nachdem er windelfrei geworden war, aufgehört hatte, zur Schule zu gehen. Niemand nannte ihn einen Zuhälter, aber er war einer. Niemand nannte ihn einen Menschenhändler, aber er war einer. Abigail hatte sich mit zwei von Billys früheren »Freundinnen« ein Zimmer geteilt. Eine war an einer Überdosis gestorben. Die andere verkaufte sich immer noch im Glasgow Green Park. Billys Strategie war es, Mädchen online oder im Wohnheim anzusprechen, wurzellos, heimatlos und perfekte kleine Einnahmequellen. Er machte sie süchtig und schickte sie auf die Straße.
Das hatte er auch mit Abigail versucht, kurz nach ihrer Ankunft im No Life, und ihr einen Gratisdruck angeboten. Daraufhin hatte sie ihm gesagt, was er mit sich selbst machen könne.
Abigail starrte Camelia an. Das arme Mädchen kaute an einem eingerissenen Fingernagel und starrte zwanghaft aus dem Fenster und auf die Uhr in ihrem Handy.
Das ist nicht mein Problem.
Es regnete. Was für eine Überraschung! Gott, sie hasste diese Stadt.
»Meine Mutter ist tot«, sagte Abigail laut, als sie die baumbestandene Straße entlangging, um zu sehen, ob sie dadurch etwas fühlte, irgendetwas. Aber sie fühlte nichts.
»Meine Mutter ist tot«, sagte Abigail wieder und platschte an der Kelvingrove Art Gallery vorbei. Es hieß, der Architekt dieses schönen roten Sandsteingebäudes habe sich umgebracht, weil es falsch rum gebaut worden sei. Das war natürlich Unsinn, denn beide Seiten waren genau gleich. Wenn er sich umgebracht hatte, dann nicht wegen des Gebäudes, sondern weil er es wollte. Irgendwann kam doch jeder an den Punkt, oder?
»Dann ist sie eben tot«, sagte Abigail laut. »Na und? Wen interessiert das?«
Glasgow tropfte auf Abigail, während sie die drei Blocks zum Krankenhaus ging. Der Regen überzog sie mit Erinnerungen. Als sie dreizehn wurde, hatte sie die Heimerzieher gebeten, im Queens Park picknicken zu dürfen. Nicht genug damit, dass es an diesem Tag regnete, einer ihrer Niemand-Freunde verletzte einen anderen ihrer Niemand-Freunde mit dem Geburtstagskuchenmesser. Es endete damit, dass die ganze Gruppe vier Stunden lang in der Notaufnahme wartete. Trotzdem konnten die Sozialarbeiter nicht verstehen, warum sie es seitdem vorzog, allein in ihrem Dreckszimmer zu sitzen und zu lesen.
In ihrem vorletzten Jahr in der Internatsschule in Granoch hatte sie, da sie sich ziemlich viel selbst beigebracht hatte, gefragt, ob sie Chemie und Physik belegen könnte. Doch das überschnitt sich im Stundenplan. Es war schon erstaunlich, dass überhaupt Naturwissenschaften unterrichtet wurden, wenn man bedachte, dass einige der Schüler ihres Alters immer noch Pu der Bär lasen. Im Büro des Rektors hatte sie zuerst ruhig argumentiert, dann nicht mehr so ruhig und schließlich den Direktor einen blöden Schwachkopf genannt. Das Resultat war, dass sie an keinem der beiden Kurse teilnehmen durfte. An diesem Abend hatte sie gewartet, bis es dunkel war, und war dann aus dem Fenster des Schlafsaals gesprungen. Sie war gerannt, so weit ihre Beine sie hatten tragen wollen. Die Polizei fand sie am nächsten Tag, inmitten der Glasscherben eines verwüsteten Bushäuschen sitzend, vom Regen durchnässt und ausgehungert.
Sterbe ich jetzt hier?, hatte sie sich gefragt. Durchweicht von diesem schmutzigen Nieselregen? Würde sie in einem Krematorium im Schatten heruntergekommener Hochhäuser verbrannt werden? Würden die nassen Klumpen ihrer Asche mit Beton vermischt und über die Stadt verteilt werden?
Doch die eigentliche Frage war: Warum eigentlich nicht?
Die Glasgow University blickte aus weisen, unsichtbaren Augen auf sie herunter. Sie war noch nie drinnen gewesen, hatte aber schon oft vom Gehweg aus die Studenten durch die offenen Säulengänge schlendern sehen. Mit geraden Schultern und zielbewusst. Sie waren sauber. Um sie wurde sich gekümmert. Sie gehörten zu den Sandsteinsäulen, gepflegten Fußwegen und antiken Holztüren. Jetzt konnte sie ihre Silhouetten durch die heimeligen Sprossenfenster erkennen und sah die Turmspitze der Universität vom Gilmorehill aufragen, als wollte sie sagen: »Du wirst nie zu mir kommen. Du bist nur ein weiterer verlassener Glasgower, du bist ein Ex-Heimkind, ein obdachloser Teenager und jetzt auch noch eine Waise. Du glaubst, du wärst clever? Tja, das stimmt nicht. Du wirst nie hier in mir drin lesen.«
Na dann, scheiß auf die Universität. Ihr Pech. Scheiß auf sie alle. Wer sagt einem denn, dass es da drinnen nicht eine noble Version von Billy gab, der irgendwelche reichen Mädchen an die Nadel brachte?
Sie wandte sich ab, den Pfützen ausweichend. Sie fragte sich, ob die Leiche ihrer Mutter wohl immer noch im Krankenhaus war. Sie fragte sich, ob sie sie würde anschauen müssen.
»Mein Name ist Abigail Thom. Meine Mutter, Sophie Thom, ist gestern Nacht hier gestorben. Angeblich hat sie mir etwas hinterlassen.«
Die Rezeptionistin tippte auf die Tastatur ein, dann wies sie sie an, die Treppe in den ersten Stock zu nehmen und zum Schwesternzimmer der Station B zu gehen. Dort angekommen wiederholte Abigail den obigen Satz, Wort für Wort.
»Können Sie das buchstabieren?«, fragte die Krankenschwester mit verkniffenem Gesicht.
»Natürlich kann ich das.«
Die Schwester fand das nicht lustig. Schließlich war sie Schottin. Schotten fanden nichts lustig, was lustig war. Schotten waren gerne unglücklich. Warum sonst spielten sie Dudelsack? Warum sonst tranken und rauchten sie sich schon in jungen Jahren ins Grab? Warum sonst schworen sie miesen Fußballmannschaften, die nichts konnten außer bigott zu sein, unsterbliche Liebe?
»A-B-I-G …«
»Nicht Sie, Ihre Mutter.«
»Oh. T-O-T.«
Die Schwester hatte zwei der drei Buchstaben in ihren Computer getippt, bevor sie die Augenbrauen hob und über ihre billige Brille spähte. »Ich bin sehr beschäftigt.«
»Sie heißt Sophie. S-O-P-H-I-E.«
»Nachname?«
»Thom. T-H-O-M.«
»Einen Moment.« Die Schwester tippte.
Abigail sah sich um. An beiden Seiten des Zimmers standen zehn Betten, getrennt von Vorhängen, einige zugezogen, einige nicht. Sämtliche Betten waren besetzt. Die Frauen sahen alle gleich aus: welk, gelblich und 173 Jahre alt. In einem dieser Betten hatte wahrscheinlich ihre Mutter gelegen. In welchem wohl?
»Folgen Sie mir.«
Der Geruch von Antiseptikum war hier in dem Einzelzimmer sogar noch stärker als auf der Station. Vielleicht übergossen sie die Zimmer der Toten mit einer Extra-Flasche. An einem Ende war ein Fenster, von dem aus man den trüben Clyde River und die Kräne der Werften sah. Dort stand ein Einzelbett unter einer summenden Neonlampe, darauf lag ein mit einem Laken bedeckter Körper.
Wie im Traum ging Abigail zum Kopfende des Bettes, hob das Laken an und blickte hinunter auf das Gesicht. Ganz kurz glaubte sie die Frau auf dem Foto zu erkennen. Aber diese Frau war alt, eine Fremde. Ihre Augen waren geschlossen, die Wimpern dick und schwarz, nicht getuscht, die Augenbrauen voll und hübsch geformt. Abigail starrte auf die Brauen. Ihre Mutter hatte sie ein wenig gezupft, ja, aber nicht sehr viel. Das war nicht nötig.
Hmm, also daher habe ich meine kleinen, anliegenden Ohren. Hatte sie sich Lipliner tätowieren lassen? Die Lippen waren voll und am Rand sauber gezeichnet. Gar nicht wie die dünnen schottischen Lippen. Eigentlich genauso wie Abigails. An der Form des Lakens erkannte sie, dass die einst schlanke Gestalt ihrer Mutter jetzt abgemagert war, vom Tode ausgemergelt.
Viele Male hatte sie sich vorgestellt, ihre Mutter zu treffen. Aber niemals so. War sie schön? Kann ein totes Gesicht überhaupt schön sein? Ihr Haar war immer noch hübsch, rabenschwarz. Aber vor allem war sie tot, und nein, Tote waren nicht schön.
Nachdem sie das Gesicht noch weitere zehn Sekunden oder so betrachtet hatte, drehte Abigail sich um und ging zur Tür.
»Warte!«, rief die Schwester und zog das Laken wieder zurecht. »Sie hat dir etwas hinterlassen, erinnerst du dich?«
Abigail blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Die Schwester holte eine Plastiktüte aus dem Nachttisch und gab sie ihr.
»Danke«, sagte Abigail mit erstickter Stimme. Dann rannte sie durch den Flur und die Treppe hinunter, so schnell, dass sie sich heftig keuchend gegen die Backsteinwand des Krankenhauses lehnen musste, als sie es endlich nach draußen geschafft hatte. Sie merkte, dass sie eine alte, abgenutzte Supermarkttüte von Tesco umklammert hielt. Darin war etwas Quadratisches und Schweres.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, ging sie den Hügel hinunter und über die Straße in den Park. Der Regen hatte aufgehört, doch sie bemerkte es nicht. Sie kletterte über einen Zaun in das Waldgebiet am Fluss und fand einen Platz unter einem Baum, wo sie die Tesco-Tüte leerte: ein dickes, wattiertes Päckchen, ungefähr zwanzig mal zwanzig Zentimeter. Abigail legte die Plastiktüte auf das nasse Gras, setzte sich darauf und untersuchte das Päckchen. Es war mit einem dicken schwarzen Marker beschriftet.
Für meine Tochter Abigail Thom: DRINGEND!!!
Sie zupfte an dem braunen Klebeband und riss es ab.
Geld. Mein Gott. Abigail riss die Augen auf. Ihr Herz flatterte. Britische Pfund, viele britische Pfund, bündelweise Zwanziger.
Eines der Bündel fiel zu Boden. Hastig sah sie sich in dem schattigen Park um, aus Sorge, dass jemand sie gesehen haben könnte – dann nahm sie es mit zitternden Fingern auf und stopfte es zurück in die Supermarkttüte. Sie kletterte weiter zum Fluss hinunter und kniete sich in den Matsch, ohne sich darum zu kümmern, ob sie nass wurde oder schmutzig. Der Park war verlassen. Sie entfaltete den getippten Brief, der dem Päckchen beigelegen hatte. Darin lag ein E-Ticket von American Airlines. Sie hielt es fest umfasst, während sie las.
Liebe Abigail,
ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, deswegen erzähle ich dir nicht den Anfang, sondern nur das Ende. Fünf Dinge musst du wissen:
Dein Vater lebt. Sein Name ist Grahame Johnstone. Er wohnt in Los Angeles. Ich wollte warten, bis du achtzehn bist, um dir von ihm zu erzählen, doch dann werde ich tot sein. Sehr bald schon, denke ich. Deinem Vater habe ich zum ersten Mal gestern, am 18. Juli, von dir erzählt. Ihr beide müsst euch unbedingt kennenlernen.
Du hast eine ältere Schwester namens Becky. Bitte zeig ihr diesen Brief. Bitte sag ihr, dass ich sie liebe, so wie ich dich liebe, dass ich mich immer noch an ihr schönes Gesicht erinnere und dass ich jeden Tag an euch beide gedacht habe. Sie war ein neugieriges und willensstarkes Baby. Bitte sie um Hilfe.
Das Ticket in diesem Umschlag ist ein einfaches Ticket nach Los Angeles. Dein Vater erwartet dich. Er holt dich vom Flughafen ab. Er ist ein cleverer Mann, Abigail.
Ich habe für jede von euch, für dich und Becky, 25 000 Dollar gespart. Bitte sag deinem Vater nichts von dem Geld. Es ist dein Erbe und das deiner Schwester, von mir. Bitte nimm die Freundlichkeit deines Vaters an. Er wird dich gut behandeln. Nutze dieses Geld, um glücklich zu sein, nutze es, um frei zu sein.
Egal, was du und Becky jetzt von mir denkt, ich weiß ganz sicher, dass ihr es eines Tages anders sehen werdet. Ich liebe dich, Abigail. Ich habe dich immer geliebt.
Ganz unten hatte ihre Mutter mit einer Reihe Kringel unterschrieben, mit schwarzem Stift. Kein Wunder, dass sie den Brief getippt hat, dachte Abigail. Ihre Handschrift! Sie war schrecklich, fast unleserlich, mit vielen Tintensprenkeln. Sie musste schon sehr krank gewesen sein; die Buchstaben waren so zittrig, dass es aussah, als hätte sie Stoppsie Thom statt Sophie Thom geschrieben.