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Abigail war noch nie zuvor in einem Flughafen gewesen. Es erinnerte sie an ein Krankenhaus, aber für glückliche, gesunde Menschen. Eine Haltezone irgendwo zwischen der realen Welt und dem Nichts. Und alle außer ihr waren völlig unbeeindruckt davon, auch Camelia. Es schien, als wäre es für sie alle nichts Neues. Geschäftsleute tippten auf ihren Handys, Eltern zogen Kleinkinder von Süßigkeitenregalen weg, niemand achtete auf die Umgebung. Es war wie eine große Anstalt, deren Regeln Abigail nicht kannte. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, als Camelia für ihren Flug um neun Uhr eincheckte, und fühlte sich so ähnlich wie an ihrem ersten Tag im Heim in Dunoon.

»Das sind meine Handynummer und meine E-Mail-Adresse«, flüsterte Camelia, als sie ihre Bordkarte hatte. Sie kritzelte auf einen Kofferanhänger; die kurze weiße Schnur tanzte, während sie schrieb. »Und das ist meine Adresse in Rumänien. Bitte melde dich mal. Wenn es irgendetwas gibt, was ich für dich tun kann … irgendetwas, egal wann.«

»Das tue ich«, unterbrach Abigail sie. Sie schob das Stückchen Pappe in ihre hintere Hosentasche. »Und jetzt mach, dass du hier wegkommst!«

Camelia lächelte sie an und beugte sich vor, als wollte sie sie umarmen. Abigail sagte auf die einzige Art Auf Wiedersehen, die sie kannte: Sie drehte sich um und flüchtete.

Die Schlange am Schalter von American Airlines war lang und bewegte sich nur langsam voran. Es war bereits halb neun, als sie dran war. Nur noch neunzig Minuten bis zum Abflug. Glücklicherweise gab es auf ihrem Flug noch Plätze, aber nur in der ersten Klasse, was bedeutete, dass Abigail 2111 Pfund für ein einfaches Ticket nach L. A. auf den Namen Alina Beklea hinblättern musste. Die Frau am Schalter war so gehetzt, dass sie nur einen flüchtigen Blick auf den falschen Pass warf. Sie schob ihn in den Scanner. Es gab keine Probleme. Die Macht des Bargeldes, dachte Abigail mit flauem Gefühl im Bauch. Keine Fragen, zufriedene Taxifahrer, entgegenkommende Zuhälter. Erstaunlich, mit was man durchkam, wenn man furchtbar hässlich war und genug Geld hatte, um sich ein Erste-Klasse-Ticket nach Amerika zu leisten.

Als Abigail sich vom Schalter entfernte, schwirrte ihr der Kopf. Die vielen Menschen, die hellen Lichter, das hohle Echo Das geht alles zu schnell, dachte sie wieder. Es gelang ihr nicht, in den Roboter-Modus umzuschalten. Noch vor achtundvierzig Stunden war sie Abigail Thom gewesen, ein Ungeliebter Niemand. Jetzt war sie Abigail Thom, Erbin eines kleinen Bargeldvermögens, mit einem Vater und einer Schwester, die in Amerika auf sie warteten. Sie rang nach Atem. Los Angeles. Flog sie wirklich dorthin? Um dort zu leben? Ging sie gerade wirklich zum Abfluggate für internationale Flüge, Seite an Seite mit Anzugträgern auf dem Weg zu Hotels und Geschäften, mit verwöhnten Kindern auf dem Weg zu Freizeitparks?

Alles, was Abigail von Los Angeles wusste, hatte sie vom Comedy Channel. Vor allem aus Two and a Half Men und Entourage. Sie stellte sich große Strandhäuser vor, voll mit glücklich gestörten Familien. Blauer Himmel, viel zu üppige Frühstücke, haufenweise tolle Freunde, die laut lachend Salate aßen. Vielleicht würde sie das morgen tun. Laut lachend in der Sonne Salat essen. Oder sie wachte einfach auf.

Steig in den Flieger.

Leider war vorher noch eine zweite, noch furchterregendere Schlange zu bewältigen. Mit einem Ganzkörperscanner, wie sie es aus einigen Jugendstrafanstalten kannte. Uniformierte Männer starrten auf einen Computerbildschirm, während sich auf einem Laufband das Gepäck voranbewegte. Abigail bemerkte, dass sie zitterte. Einmal war sie in einer Polizeizelle durchsucht worden, weil man sie des Ladendiebstahls in einem Supermarkt verdächtigt hatte (fälschlicherweise). Sie war völlig verängstigt gewesen und hatte sich vergewaltigt gefühlt. Als sie den Rucksack auf das Laufband stellte, konnte sie die misstrauischen Blicke spüren.

So, wie sie befürchtet hatte, erklang ein durchdringendes Piepen, als sie durch den Scanner ging.

Eine Frau führte sie auf eine schwarze Matte, wo sie ein Gerät an ihrem Körper entlangführte und beide Seiten ihres Oberkörpers und der Beine abtastete.

»Das ist nur Ihr Gürtel«, sagte die Frau. »Das nächste Mal sollten Sie den ausziehen.«

Abigail brachte nur ein Nicken zustande.

Der Mann an dem Scanner zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und durchsuchte ihn. Mist. Vielleicht hatte Billy, um ihr eins auszuwischen, heimlich Drogen hineingesteckt.

»Sie haben Flüssigkeiten in Ihrer Tasche.« Anklagend hielt er ihr die Haarcreme und die Zahnpasta hin.

»Oh, ist das schlimm?«

»Ja, das ist es. Keine Flüssigkeiten über hundert Milliliter. Das muss weg.« Bevor sie antworten konnte, hatte er die Haarcreme in die große Tonne hinter ihm geworfen, die bereits von Shampoo und Haarspülungen und Hautlotionen überquoll. Da war sogar eine Flasche Wein. Das teilen sie bestimmt abends untereinander auf, dachte sie bei sich. Ein Vorteil, den der Job mit sich brachte.

»Die Zahnpasta können Sie behalten, aber stecken Sie sie das nächste Mal in eine wiederverschließbare Plastiktüte. Okay?«

»Okay. Danke.« Gott, wenn es ein nächstes Mal gab, musste sie an so vieles denken. Sie stopfte die Zahnpasta in den Rucksack und zog den Reißverschluss zu.

Zu Gate 43 war es ein zehnminütiger Gang durch hell erleuchtete Läden und anonyme Flure mit Rollbändern. Schließlich nahm sie in einem Raum Platz, der aussah wie das Wartezimmer eines Arztes. Als sie durch die riesigen Fenster in die Nacht spähte, bemerkte sie das Flugzeug von American Airlines, das mit dem Gate verbunden war. Es war riesig. So hoch über dem Boden. Unwillkürlich suchte sie den Korpus des Flugzeugs nach Fehlern ab. Aber wie sollte sie überhaupt einen Fehler erkennen? Sie hatte nur eine Episode von Mayday – Alarm im Cockpit gesehen, und darin war das Flugzeug aufgrund von seltsamen Insekten abgestürzt, die in irgendeinem wichtigen Gerät genistet hatten.

»Der Abflug von Flug 3845 nach Los Angeles verzögert sich«, verkündete die Flugbegleiterin am Gate-Schalter über Lautsprecher. »Die neue Abflugzeit ist zehn Uhr fünfundfünfzig.«

Es gab einen kollektiven Seufzer.

Mist. Noch länger warten. Unruhig rutschte Abigail hin und her. Sie fühlte sich wie ein Drogenschmuggler. Eine falsche Bewegung oder ein Schweißtropfen, und die Spürhunde und die Polizei kamen; jeden Moment konnte jemand herausfinden, dass sie nicht Alina Beklea war, und sie zurück ins No-Life-Wohnheim bringen.

Sie versuchte, in ihrem Buch mit den lustigen Physikaufgaben zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Sie versuchte ein wenig zu schlafen – doch sie war zu nervös. Schließlich sah sie auf die Uhr und stellte fest, dass es nur noch neununddreißig Minuten bis zum Abflug waren. Jetzt mussten sie jeden Moment ins Flugzeug einsteigen.

Zwei Männer in Anzügen näherten sich dem Gate 43 und schienen sie anzusehen. Vielleicht auch nicht. Sie brachte es nicht über sich, zurückzugucken. Sie musste irgendetwas tun, um normal zu wirken.

Circa sechs Meter den Flur hinunter befand sich ein Internet-Point. So ruhig sie konnte, ging sie darauf zu, ohne zu den Männern in den Anzügen hinzusehen. Es kostete zwar ein Pfund die Minute, aber es war gut angelegtes Geld.

Bei Google gab sie ein: »Grahame Johnstone.«

Nachdem sie über einen Grahame Johnstone auf UK LinkedIn, einen Teenager auf Bebo, einen Geschäftsführer einer schottischen Dachdeckerfirma und einen Klempner aus Cornwall hinweggescrollt hatte, schränkte Abigail ihre Suche hastig durch den Zusatz »Los Angeles« ein.

Hmm, vielleicht war er der Polaroid-Künstler, über den es so viel gab. Wie interessant, wenn er ein Künstler wäre. Vielleicht war er so ein Kommune-Typ. Cool. Alle Posts waren über denselben Mann, aber als sie nach Bildern suchte, stellte sie fest, dass er es nicht sein konnte. Der Fotograf war erst um die dreißig. Da ihr nur noch wenig Zeit blieb, gab Abigail »Becky Johnstone« zu dem Namen ihres Vaters und dem Ort ein. Nichts, daher änderte sie Becky zu Rebecca.

Der Artikel blitzte nur ein paar Sekunden auf dem Bildschirm auf, aber doch lang genug, dass Abigail lesen konnte, dass ihr Vater, Ex-Marineoffizier Grahame Johnstone – verheiratet mit der Schauspielerin Melanie Gallagher –, der Geschäftsführer einer Herstellerfirma von Präbiotika in Los Angeles war. Und auch lang genug, um zu finden, wonach Abigail gesucht hatte: Tochter Rebecca Johnstone, Alter: 18. Die Worte sprangen ihr wie in 3D entgegen. Rebecca Johnstone: Die Tochter eines Ex-Marineoffiziers. Rebecca Johnstone: Nur zwei Jahre älter als sie.

Meine Schwester.

Es gab sie wirklich. Und Abigail hatte einen Brief und fünfundzwanzigtausend Pfund für sie.

Das Boarding begann. Die Passagiere der ersten Klasse stiegen zuerst ein. Abigail hatte einen Fensterplatz: 9A. Sie fragte sich, ob dieser Klumpen Metall wirklich fliegen würde. Wie war das möglich? Neben ihr saß ein affektierter Amerikaner um die zwanzig. Er hatte dunkelblondes Haar, ein wenig zu gestylt-verwuschelt, braune Augen und ein ungezwungenes Lächeln. »Warst du schon mal in L. A.?«, fragte er, vielleicht weil er ihre Unruhe bemerkt hatte.

»Ich bin noch nie irgendwo gewesen.«

»Du wirst Schottland vermissen.« Der Mann wirkte nostalgisch, als er an ihr vorbei aus dem Fenster starrte.

Sie lachte. »Das glaube ich nicht.«

Abigail lockerte den Griff um die breite Plastikarmlehne erst, als das Flugzeug horizontal zu fliegen schien. Auch aus der Luft sah Glasgow deprimierend aus. Gelbe Lichter, ein träger, dunkler, alles andere als majestätischer Fluss und eine schwere Wolkenhaube, die tiefer und tiefer drückte. Und dann war die Stadt weg, einfach so. Abigail war in den Wolken. Und darüber. Auf dem Weg zu diesem neuen Leben, wie immer es aussehen würde. Die nächste Stunde dachte sie über das nach, was unter ihr lag. Überflog sie gerade Dunoon, wo sie aufgewachsen war? Ohne es zu merken, begann sie ein Lied zu summen, das Billy Connolly und die Humblebums geschrieben hatten, nachdem die amerikanische Marine die Stadt verlassen hatte:

Has three pubs

Two cafes

And a fag machine

And hills you can walk on

While the rain is running doon

… And a nightlife that stops in the afternoon

Why don’t they come back to Dunoon?

Es gibt drei Pubs

zwei Cafés

und einen Kippenautomaten.

Und Hügel, auf denen man spazieren kann

im strömenden Regen

… und ein Nachtleben, das nachmittags beendet ist.

Warum kommen sie nicht zurück nach Dunoon?

Dann war er also ein Ex-Marineoffizier, ihr Vater. Wahrscheinlich war er am Holy Loch in Dunoon stationiert gewesen, wo die US-Atom-U-Boote dreißig Jahre lang ihre Basis gehabt hatten. Vielleicht hatte ihre Mutter zu dieser Zeit zu der Kommune gehört. War es gar eine Romeo-und-Julia-Romanze gewesen? Verboten, unmöglich? Hmm, romantisch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten die Amerikaner Dunoon verlassen und damit auch den Niedergang der Stadt eingeläutet, die mit dem Abzug der U-Boote auch ihre Energie und ihre Existenzgrundlage verlor. Dort war Abigail aufgewachsen: In einem Ballon ohne Luft, in einer toten Küstenstadt, in dem einzigen Ort auf Erden, der noch regnerischer war und noch weniger zu bieten hatte als Glasgow.

Warum hatte ihr Vater nie von ihr erfahren? Hatte er ihre Mutter verlassen, bevor sie wusste, dass sie schwanger war? Hatte sie je versucht, es ihm zu sagen? Warum hatte er die zwei Jahre alte Becky mitgenommen?

Vielleicht würde Abigail morgen ihrem Vater all diese Fragen stellen. Vielleicht wäre sie dann aber auch so glücklich, dass es ihr egal war. Vielleicht wäre sie dankbar, nichts über ihre Vergangenheit zu wissen.

Sie zog den Fernsehbildschirm vor ihr herunter. Laut der Karte überflogen sie gerade den Ozean, sehr viel Ozean, eine digitale blaue Masse. Dunoon war verschwunden. Glasgow war verschwunden. Schottland war verschwunden. Ha, alles weg. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Meine Mutter hat mich da rausgeholt, dachte sie. Danke, Sophie Thom. Danke, Mum.

»Lässt du jemanden zurück?«, fragte der affektierte Typ.

»Ja«, hörte Abigail sich selbst antworten. Sie machte sich nicht die Mühe hinzuzufügen, dass dieser Jemand tot war und dass sie sich nicht einmal gekannt hatten. Die Erkenntnis, dass sie ihre Mutter nie kennenlernen würde, traf sie unerwartet. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer davon geträumt, dass ihre Mutter da draußen war, irgendwo. Dass ihre Mum existierte, auch wenn sie eine gemeine Hexe war, weil sie ihre kleine Tochter verlassen hatte. Dieser Traum hatte sie manchmal wütend gemacht, manchmal traurig, manchmal hoffnungsvoll. Jetzt war er ausgeträumt.

»Was ist dein Lieblingsgetränk?«, fragte der Typ. Er streckte die Hand hoch und drückte das Licht, um die Flugbegleiterin zu rufen. »Wir trinken auf die, die wir lieben.«

»Ananassaft.«

»Willst du nicht lieber einen Gin Tonic? Ich trinke nicht gern allein.«

Es hatte auch Vorteile, eine zweiunddreißig Jahre alte Rumänin namens Alina zu sein, begriff Abigail.

Einige Augenblicke später stieß sie mit ihrem neuen Freund Bren an (»Kurzform für Brendan, aber wenn du mich so nennst, bring ich dich um. Nachname McDowell.«) und nippte an einem eiskalten zitronenscheibengeschmückten Gin Tonic.

»Was hast du denn mit deinem Haar angestellt, Mädchen?«, fragte Bren nach ein paar Schlucken.

»Lange Geschichte.«

Bevor sie sich’s versah, gestand Abigail ihm alles. Die nackte Wahrheit: tote Mutter, Vater und Schwester, die sie nie kennengelernt hatte, das Geld, Billy und Camelia – die ganze traurige Geschichte. Abigail öffnete sich eigentlich nie, vor allem nicht Jungs gegenüber. Aber Bren war so gar nicht bedrohlich. Er hing an ihren Lippen. Außerdem sieht er nicht schlecht aus, dachte sie mit einem Seufzer, so wie viele schwule Männer: gut angezogen, hübsch, aufgeschlossen, perfekt und unerreichbar. Außerdem: Würde sie ihn je wiedersehen? Wahrscheinlich nicht.

Glücklicherweise war auch Bren sehr gesprächig, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Nach der zweiten Runde Drinks sank Abigail zurück in die Kissen und ließ ihn reden. Zunächst darüber, wie seine Mutter durch Kanada gereist war und sich verliebt hatte. Ein Liebesflüchtling! Seine Eltern waren beide Polizeibeamte, »aber das würdest du nie denken, wenn du sie siehst«, sagte er. Sein Vater war ein »hoch angesehener und äußerst kreativer Ermittler bei der Mordkommission gewesen, der geholfen hatte, einige der bekanntesten Fälle des Landes zu lösen«. (Das sagte er mit einem Hauch von Spott.) Seine Mutter arbeitete in der Abteilung für häusliche Gewalt und Vergewaltigung. Sie waren früh in Rente gegangen und reisten nun in einem Wohnwagen durch die Welt, in einem Winnebago. »Heute: Kalifornien. Nächster Halt: Europa«, nuschelte Bren. »Sie sind besessen von Verschwörungstheorien. Wenn du sie je kennenlernst, frag sie ja nicht nach dem elften September.«

Bren liebte Schottland, alles daran, vor allem das Teegebäck von Tunnock’s. Er kam so oft er konnte zurück, um seine Verwandten in Partickhill zu besuchen. Kürzlich war er von Toronto nach L. A. gezogen, um eine Karriere beim Film zu machen. »Nicht als Schauspieler, bevor du das fragst. Haare und Make-up!« Bisher hatte er es nur zum Miteigentümer eines Friseursalons gebracht. Aber er würde nicht aufgeben, oh nein.

Mitten im Reden schlief er ein.

Präbiotika, das klingt interessant, dachte Abigail, sobald er schnarchte. Ihr Vater war der Geschäftsführer einer Herstellerfirma von Präbiotika. Geschäftsführer! Das hieß, er interessierte sich für Wissenschaft. Wie der Vater, so die Tochter. Er musste reich sein. Macht haben. Anzüge tragen. Hunderten von Leuten sagen, was sie zu tun hatten. In einem großen Haus wohnen, mit einem Pool. Mehr als einen Wagen haben. Seiner Tochter und seiner Frau teure Geschenke kaufen. Am Telefon über Präbiotika reden, mit denselben Leuten, die ihm halfen, die Welt mit Präbiotika besser zu machen. Es war Abigails neues Lieblingswort. Sie beschloss, ihren Nachbarn anzustupsen.

»Weißt du, was Präbiotika sind?«

»Hä?« Bren gähnte, zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich das Kinn. »Ja, das weiß ich … Präbiotika, davon habe ich gehört.«

Abigail verkniff sich ein Lächeln. Am liebsten hätte sie ihn unterbrochen. Offenbar fand Bren es äußerst unhöflich zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte. Das mussten die Glasgower Gene sein. Wenn man einen x-beliebigen Glasgower nach dem Weg zum Bahnhof fragt, würde er einen überall hinschicken, nur um nicht zugeben zu müssen, dass er es nicht wusste.

»Ich glaube, das ist so was wie «, fuhr Bren fort. »Es gibt doch das Zeitalter der Neandertaler, richtig? Und das Post-Neandertaler-Zeitalter und dann das Prä-Neandertaler-Zeitalter?«

»Hmm.«

»Na ja, das ist das Gleiche, glaube ich. Es ist das Zeitalter vor dem biotischen.«

Abigail lachte. »Das ist Quatsch!«

»Ich rede Quatsch? Wen kümmert das? Erzähl mir was Neues, Mädchen!« Er kuschelte sich wieder in sein Kissen, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen.

»Ich werd’s versuchen.«

Sie grinste ebenfalls. Sie würde ihn wiedersehen. In ihrem neuen Leben, wie immer das aussah, würde sie schon einen Freund in Los Angeles haben.

Sie erwachte, als das Anschnallzeichen aufblinkte. Sie flogen tiefer. Ortszeit war 7:35 Uhr. Hastig rieb sich Abigail die Augen und starrte aus dem Fenster. Von oben sah Kalifornien nicht viel anders aus als Glasgow. Aber wenigstens gab es hier keine Wolken.

Als sie hinter Bren in der Schlange vor dem Schalter der Einwanderungsbehörde wartete, wurde sie immer nervöser.

»Entspann dich«, sagte Bren. »Bleib locker. Mach dir nicht so viele Sorgen! Oder zeig es wenigstens nicht.«

Nach einigen Fragen war Brens Pass gestempelt. »Hast du meine Karte?«, fragte er, bevor er zur Gepäckausgabe ging.

»Ja, habe ich.« Sie fischte sie aus der Hosentasche und hielt sie in die Höhe.

»Ruf mich an.«

»Mach ich.«

»Die Haare bekomme ich wieder hin!«

Sein glasiger Blick begegnete ihrem. Er blinzelte nicht. Er sah nicht weg. Abigail schluckte und lächelte zurück. Ihre Haare waren ihr egal. Er wusste zu viel von ihr.

Vor dem Pass-Schalter gab Abigail ihr Bestes, um auszusehen wie eine normale zweiunddreißig Jahre alte Rumänin namens Alina Beklea. Doch innerlich fühlte sie sich wie immer, seitdem Nieve gestorben war: machtlos. Sie hatte gedacht, sie hätte es geschafft. Sie hatte gedacht, mit dem Flughafen in Glasgow wäre die größte Hürde genommen. Sie hatte sich auf dem Flug entspannt, hatte getrunken und sich irgendeinem Typen anvertraut, ohne zu kapieren, dass sie es noch gar nicht in ihr neues Leben geschafft hatte.

Der Passbeamte sah das Foto an.

Dann sah er sie an.

Sie kannte den Blick. Er war verächtlich. Er hielt sie für Abschaum. Wenn es kein Problem gäbe, würde er sie nicht so ansehen. Doch offensichtlich gab es eins.

Er sah sie an, dann das Foto, dann sie – wieder und wieder.

»Mögen Sie Kate Middleton nicht?«, fragte er mit einem Nicken auf das »Scheiß auf die Monarchie«-Shirt.

»Oh, na ja … ich kenne sie nicht.« Abigail machte einen rumänischen Akzent nach. »Ich war für eine Weile zu Besuch in England.«

»Sie haben kein Visum.«

»Nein, ich wusste nicht « Es war, als hätte sie die Fähigkeit zu atmen verloren. Visum? Die Frau am American-Airlines-Schalter hatte nicht danach gefragt. »Kann ich eines bekommen?«

Der böse Blick, mit dem er ihr antwortete, gab ihr zu verstehen, dass dies die denkbar dümmste Frage war, die sie hatte stellen können.

Er rief einen Kollegen heran. Beide starrten den Pass an. Dann musterten sie sie beide mit dem gleichen verächtlichen Blick.

»Kommen Sie bitte mit uns, Miss Beklea.«

Im Befragungsraum, Angesicht zu Angesicht mit einem griesgrämigen Mann in der blauen Uniform der Einwanderungsbehörde, ging Abigail im Kopf ihre Optionen durch. Sie könnte flüchten. Die Tür stand offen. Vor dem Zimmer war ein leerer Flur, genauso beengend und neonbeleuchtet. Wenn sie nach links rannte, kam sie zu dem Pass-Schalter, wo sie eben gewesen war. Wohin es rechtsherum ging, wusste sie nicht. Als sie sich im Raum umsah und in den Bereich des Flurs spähte, den sie einsehen konnte, entdeckte sie Kameras, überall an der Decke. Nein, flüchten kam nicht infrage.

Sie könnte weinen. Die Mädchen im Wohnheim weinten immer, wenn sie etwas wollten. Abigail versuchte, sich eine mädchenhafte Träne abzuringen. Ohne Erfolg.

Sie könnte lügen. Bei der Alina-Geschichte bleiben. Um ein Visum bitten. Nein, betteln. Oder

Bestechung? Nein, das nicht. Lügen holten einen immer ein. Und sie bezweifelte, dass Geld, egal wie viel, die Flughafenkontrolleure milde stimmen konnte. Außerdem waren von ihren 25 000 £ nur noch 1570 £ übrig. Die anderen 25 000 gehörten ihrer Schwester, die würde sie nicht anrühren.

Abigail biss die Zähne aufeinander, wütend auf sich selbst. Sie hätte nicht Hals über Kopf das Land verlassen sollen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Sie hätte sich die Adresse ihres Vaters beschaffen, ihn kontaktieren und ihm ihr Problem mit dem Pass erklären sollen. Sie hätte warten sollen. Jetzt gab es nur noch eine Option: diesem Arschgesicht die Wahrheit zu sagen.

»Mein Vater ist Grahame Johnstone«, begann sie. »Ich «

»Wir schicken Sie gleich wieder zurück«, unterbrach er sie ohne eine Spur von Mitgefühl. »Warten Sie hier, bis wir alles geregelt haben.«

Unglaublich. So knapp. Ein neues Leben, gleich draußen vor diesem Zimmer! Nur ein paar Hundert Meter entfernt. Und die US-Einwanderungsbehörde schickte sie zurück nach Glasgow. Aber sie wusste, warum. Nicht weil sie eine Lügnerin war. Weil sie nicht sorgfältig genug gewesen war. Die neue Routine war noch nicht eingespielt; sie war nicht gänzlich in diesem kalten Roboter-Modus, der nötig war, um einen Einwanderungsbeamten eines internationalen Flughafens zu täuschen. Möglich wäre es gewesen. Mit ein bisschen genauerer Planung, ein bisschen mehr Vorbereitung. Stattdessen hatte sie sich erlaubt, aufgeregt und abgelenkt zu sein. Sie hatte Camelia zur Flucht verholfen. Sie war zur Bestattung ihrer Mutter gegangen. Sie hatte sich mit einem Schwulen im Flugzeug betrunken. Wie dumm sie gewesen war, sich ein glückliches, sonniges neues Zuhause auszumalen!

Du bist dumm, Abigail. Du bist dumm, dumm, dumm.

Vielleicht sollte sie einfach in die Solid Bar gehen und das tun, was Billy von ihr wollte. Vielleicht wäre die Taubheit, die das Heroin brachte, besser, als immer wieder enttäuscht zu werden

Sie wusste nicht, wie lange sie schon auf diesem kalten Plastikstuhl in dem Befragungsraum gesessen hatte – vielleicht eine Stunde –, als ein anderer Mann durch die Tür gestürmt kam.

Er war groß, hielt sich aufrecht und trug einen Anzug. Seine Schuhe glänzten so sehr, dass es ihr in den Augen wehtat. Kein Zweifel, er war wichtig. »Also Sie sind Grahame Johnstones Tochter?«, bellte er.

»Ja?«

»Stehen Sie auf. Folgen Sie mir.« Die Stimme war befehlsgewohnt, von der Art, bei der man weiß, nun muss man zuhören und gehorchen.

Abigail nahm ihren Rucksack und folgte ihm. Sie konnte sich auf nichts anderes als auf ihre Füße konzentrieren – einen Fuß vor den anderen –, direkt hinter diesen glänzenden schwarzen Schuhen. Sie gingen durch eine Tür.

Der Mann blieb stehen. »Hier ist sie«, sagte er. Auf einmal war sein Ton weicher.

Als Abigail es wagte aufzusehen, fand sie sich in einem anderen Büro wieder, das dem sehr ähnlich war, das sie gerade verlassen hatte. Vielleicht war es auch dasselbe. Möglich war es. Dieselbe Größe, derselbe Tisch, dieselben drei Stühle. Der einzige Unterschied war, dass hier keine Beamten der Einwanderungsbehörde waren, nur ein Mann mittleren Alters in Golfkluft.

»Hallo, Abigail.« Der Golfer streckte ihr die Hand hin. »Ich bin dein Vater.«