7

»Guten Morgen, Sonnenschein!« Zum zweiten Mal wurde Abigail von einer fremden Stimme geweckt.

»Ich habe Klamotten! Für dich! Und sie sind fantastisch!«

Abigail rieb sich die Augen und blinzelte zu Melanie hoch. »Hi. Wie viel Uhr ist es?«

Ihre Stiefmutter trug einen weißen Rock und ein strahlend pinkfarbenes schulterfreies Top im Fünfzigerjahre-Stil. »Bald Mittag, Schlafmütze!«

Abigail streckte sich und gähnte. Melanie hatte ein Tablett mit Orangensaft, Roggentoast und wässrigen pochierten Eiern auf den Tisch unterm Fenster gestellt. Beim Anblick der rotzeähnlichen Eier musste Abigail leicht würgen. Außerdem hasste sie Roggenbrot. Vielleicht würde sie Melanie irgendwann um ihr Lieblingsessen bitten: weißen Toast mit dem wundersamen schwarzen Brotaufstrich Marmite, den man laut Werbung entweder liebte oder hasste. Auf einmal geriet sie in Panik, als ihr einfiel, dass in den Staaten vielleicht gar kein Marmite zu bekommen war. Aber ihr Vater war ja jemand, der Fäden ziehen konnte. Wahrscheinlich konnte er eine ganze Wagenladung besorgen.

»Voilà! Das ist für heute Abend.« Melanie hielt ein knallrotes Kleid in die Höhe, sehr knapp, mit nur einem Träger. »Wie findest du es?«

»Wow.« Abigail fragte sich, welches Zehntel ihres Körpers dieses Kleid wohl bedecken sollte. »Es ist … Trägt man das über Leggings?«

»Oh, zieh es einfach an.« Melanie nahm Abigail das Glas Orangensaft aus der Hand und stellte es auf den Tisch. »Ich möchte dich darin sehen.«

Als sie kurz darauf vor dem großen Spiegel stand, überlegte Abigail, wie sie es am besten ausdrücken könnte. Ich sehe dämlich aus. Wenn ich mich nach vorne bücke, sieht man das Curry, das ich zum Abendessen gegessen habe. Schließlich entschied sie sich für ein jämmerliches: »Es ist, äh … wow. Ähm … normalerweise trage ich so etwas nicht.«

»Tja, das ist eine Schande«, sagte Melanie. »Du könntest Model sein, weißt du das? Und dies sind definitiv Schuhe!« Sie stellte ein rotes Paar mit zehn Zentimeter hohen Absätzen vor Abigails Füße. »Zieh sie an! Zieh sie an!«

Sie würde nicht drum herumkommen. Abigail würde das Kleid tragen müssen und, schlimmer noch, die Schuhe, auch wenn sie so hoch waren, dass ihr Po fast an die Decke stieß. Über den Zweck von hohen Absätzen hatte sie in einem der »ernsthaften« Bücher aus der Bibliothek gelesen – über die Evolution. Anscheinend waren Absätze so konzipiert, dass sich der weibliche Hintern nach oben wölbte, als wollte er sagen: Guck mal, hier ist mein weibliches Affenteil! Bitte, komm her mit deinem männlichen Affenteil, damit wir nie aussterben. Rette dich selbst. Rette uns Affen. Trag Absätze.

Wenigstens waren ein paar der anderen Klamotten besser: Jeans, T-Shirts, Sneakers. Der Bikini war ein bisschen aufreizend. Aber die Unterwäsche war schlimmer.

Ihre BH-Größe hatte Melanie richtig geschätzt, doch die sexy bestickte schwarze Spitze und die Blumenmuster waren ganz offensichtlich nicht für Sechzehnjährige gedacht. Abigail hatte keine Ahnung, was Melanie sich dabei dachte. Ganz ehrlich bekam sie es ein wenig mit der Angst. (Tust du deine Pflicht für den Erhalt der Affen, Abigail?) Als sie die Komm-nimm-mich-Unterwäsche anfasste, gingen Abigails Gedanken seltsame Wege. Wollte Melanie etwa, dass sie einen Freund fand? Hatte Becky einen Freund? (Ganz offensichtlich war es nicht Stick, und Joe war zu jung; das war eher eine Bruder-Schwester Beziehung.)

In Glasgow hatte Abigail nie einen Jungen kennengelernt, der sie wirklich interessiert hätte. Angebote hatte sie genug gehabt. Zum Beispiel dieser nette Junge, den sie in der Hillhead-Bibliothek getroffen hatte. Sie hatten sich ein paarmal über Golding und Stephen Hawking unterhalten. Irgendwann hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm »einen Kaffee trinken gehen« wolle. Sie hatte »Nein, danke« gesagt und von da an die Mitchell-Bibliothek besucht. Falls sich ihre Arme je berührt hatten, hatte sie es nicht bemerkt. Ihre Haare hatten definitiv nicht gekribbelt. Der Bibliothekstyp bedeutete ihr nichts, er war unwichtig. Wenn je etwas daraus geworden wäre, wäre er in sie gedrungen, hätte Fragen gestellt, hätte versucht, sie dazu zu bringen, ihn zu brauchen. Diesen ganzen Scheiß wollte sie nicht. Im Stillen nahm sie sich vor, sich dieses Mantra in Erinnerung zu rufen »Ich will diesen ganzen Scheiß nicht« –, falls sie Stick je wiedersah. Besser wäre es wohl, wenn es nicht geschah. Richtig. Sie musste zurück in den Roboter-Modus schalten. Roboter brauchten nichts. Kein nächtliches »Bombing« mit Becky mehr. Das stand fest. Die durchsichtigen Spitzenteile waren nur für ihre Augen bestimmt.

Immerhin hatte sie jetzt Kleider. Und was noch wichtiger war: Sie hatte einen Bikini.

»Gibt es Regeln für den Pool?«, fragte sie schließlich.

Melanie lachte. »Ja. Ertrink nicht darin.« Sie verdrehte die Augen. »Natürlich nicht. Dies ist dein Zuhause. Der Pool ist dein Pool. Hörst du?« Sie legte Abigail die Hände auf die Schultern. »Dies ist dein Zuhause.«

Abigail nickte. Mein Zuhause.

Melanie redete weiter: Sie hatte Fahrstunden arrangiert (mit Alberto, »der großartig ist!«, ab nächster Woche). Sie hatte Abigail einen Laptop gekauft und einen Drucker und ihr Informationen über den Chauffeurdienst, öffentliche Verkehrsmittel, diverse Läden und ihre Schule, die in drei Wochen anfing, ausgedruckt. Und sie hatte ihr einen Termin beim Friseur gemacht.

»Oh, macht es dir etwas aus, wenn ich woanders hingehe?«, fragte Abigail und zog die Karte, die Bren ihr gegeben hatte, aus ihrem Rucksack. »Ein Freund von mir ist Friseur.«

Melanies Augen wurden für einen Moment glasig, als wären die Worte nicht bei ihr angekommen. Dann lächelte sie abrupt. »Natürlich! Ich setze dich auf dem Weg zu den Caterern dort ab.«

Bevor sie nach unten ging, klopfte Abigail an Beckys Tür.

Keine Antwort. Ohne nachzudenken öffnete Abigail die Tür einen Spalt, bereute es dann und schloss sie wieder. Sie hatte keine Ahnung, wie man sich verhielt, wenn man mit jemandem vertraut war. Herrje, sie kannte Becky ja nicht einmal. Doch eigentlich stimmte das nicht. Gestern Nacht hatte Becky ihr etwas von sich offenbart. Aber sie konnte es nicht richtig einschätzen. Eine flüchtige Sorge um einen Jungen in einem orangefarbenen Overall? Nein. Es war mehr. Es war verrückt. So wie die Sache mit den kribbelnden Armhaaren. Etwas nicht Greifbares, das keinen Sinn ergab und einen nur verwirrte. Das man am besten ignorierte. Ihr Mantra würde ihr sowohl bei Becky als auch bei Stick nützlich sein.

Ich will diesen ganzen Scheiß nicht.

Als sie durch das weitläufige Haus marschierte, fiel ihr auf, dass die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters wieder geschlossen war. Sie konnte hören, wie eine Schranktür schlug und Papier raschelte. Ob sie wohl je auch nur in Betracht ziehen würde, an diese Tür zu klopfen? Aber auch auf diese Frage wusste sie bereits die Antwort. Wahrscheinlich nicht, bevor sie die Sache mit Becky geklärt hatte.

Abigail war erstaunt, was Bren zustande brachte, obwohl er pausenlos redete.

Offenbar war er ein Genie. Als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie, dass er das Wesen ihrer Persönlichkeit – wachsam und taff – bewahrt und gleichzeitig ihrem kurzen, fedrigen blonden Haar eine völlig neue Eleganz verliehen hatte. In fünfundvierzig kurzen Minuten hatte er das Unmögliche geschafft: ihr echten Stil gegeben.

Erst zwanzig Jahre alt, und er war schon der Mitinhaber eines Salons in Beverly Hills. Das war bestimmt auch mit Risiken verbunden, dachte Abigail. Aber der Laden blitzte und blinkte, es herrschte lärmende Geschäftigkeit und das Telefon klingelte ununterbrochen. Im VIP-Bereich wurde gerade an zwei Filmstars gearbeitet. (»Ich könnte dir sagen, wer es ist, aber dann müsste ich leider deinen Kopf gegen das Becken aus italienischem Marmor schlagen, bis du verblutest.«) Und natürlich schien jeder hier ihn zu lieben.

»Wann kommst du mich bei mir zu Hause besuchen?«, fragte er. »Kein vages Wir müssen mal zusammen mittagessen! Bevor du gehst, machen wir einen festen Termin aus.« Er wohnte direkt an den Kanälen in Venice, hatte er ihr gesagt. Von den Fenstern an der Rückseite konnte man das Wasser überblicken, und ein paar hundert Meter weiter war eine hübsche kleine Brücke. »Und ich habe ein Boot! Du bleibst über Nacht! Wie wäre es Freitag in einer Woche?« Er schrieb das Datum auf eine Karte zusammen mit seiner Adresse und seiner Telefonnummer. »Bring Alkohol und eine Zahnbürste mit.«

Als sie zurück in das helle Sonnenlicht von L. A. torkelte, mit ihrer noch ungewohnten neuen Frisur, konnte sie nicht aufhören, dümmlich zu grinsen.

Es war eigenartig – sie kannte Bren kaum –, aber sie wusste, dass sie sein Angebot annehmen würde. Noch ein Außenseiter, vermutete sie. Aber nein, das wurde ihm nicht gerecht; von dem Moment an, als sie sich am Flughafen getrennt hatten, hatte sie gewusst, dass sie Freunde waren. Ohne ein »Shining«. Aber auch ohne Hintergedanken. Es lag ihm etwas an ihr. Das war es. Ohne dieses komische Gefühl, das sie bei Becky hatte. Oder Melanie. Oder Grahame. Oder selbst bei Stick, Herrgott noch mal. Einfach entspannt. Aufgehoben.

Später am Abend ertappte Grahame, in einen Kilt gekleidet, Abigail, wie sie sich vor Beckys Tür herumdrückte. »Sie sitzt wahrscheinlich wieder vor ihrem Computer«, sagte er. »Lass sie besser in Ruhe. Gesell dich zu uns.«

Als sie an diesem Ort namens »Heim« gewesen war, war das Ereignis namens »Party« etwas Schlimmes und Deprimierendes gewesen. Weihnachtsparty! (Billiges Lametta, zehn Jahre alter Plastikbaum, sich selbst verletzende Kinder, die gedankenlose und unpersönliche Geschenke aus dem Supermarkt aufreißen.) Geburtstagsparty! (Eine gekaufte Torte für ein weinerliches Missbrauchsopfer.) Abschiedsparty! (Unmoderne Discomusik aus einem billigen altmodischem CD-Spieler, zu der niemand tanzen will. Warum tanzen, wenn man weiß, dass man das Nirgendwo verlässt, um nirgendwohin zu gehen?)

Aber diese Party – für sie, musste sie sich immer wieder in Erinnerung rufen – war so, wie sie sein sollte, es war eine Party, die jemanden glücklich machen sollte. Über die Hälfte der erwachsenen Männer hatten Kilts an, alle sicher in demselben sündhaft teuren und angeberischen Laden in L. A. geliehen, und die Frauen übertrumpften sich gegenseitig mit ihren glamourösen Kleidern, in denen sie wirkten wie auf dem roten Teppich einer Filmpremiere. Die Kellner trugen Tabletts mit blauen Cocktails, »in der Farbe der schottischen Flagge!«. (Das kam selbstverständlich von Melanie – Abigail war es gar nicht aufgefallen.) Die Kellnerinnen servierten fein arrangierten vegetarischen Haggis und geräucherten Lachs auf Haferküchlein. Keltische Musik wehte durch den Garten und über den Swimmingpool. Die Menschen lächelten und redeten und lachten, darunter nur sehr wenige junge Leute. Die anderen waren Freunde, Familie und Kollegen von Grahame und Melanie.

Niemals würde sich Abigail all diese Namen merken können. Sie fragte sich, was sie zu ihnen sagen sollte, es waren alles Fremde.

Und sie bekam immer das Gleiche zu hören.

Du siehst aus wie dein Vater.

Pardon, was hast du gesagt?

Das muss ja eine große Veränderung für dich sein.

Ich verstehe diesen Akzent gar nicht! Aber er ist köstlich!

Wie wunderbar, dass du endlich deine Familie gefunden hast.

Wie bitte, was hast du gesagt?

Marlborough! Das wird dir gefallen.

Das habe ich nicht verstanden. Du klingst wirklich wie Billy Connolly!

Sag mal etwas auf Schottisch – ich will den Akzent hören …!

Genau wie Billy Connolly! Zu komisch!

Niemand erwähnte ihre Mutter. Entweder wusste niemand von ihr, oder man fand es unanständig, über sie zu reden. Während sie wie ein Objekt hin und her gereicht wurde, blieb Abigail nur, wieder in den Roboter-Modus zu schalten. Es musste einen Grund geben, warum ihre Mutter ihrem Vater misstraut hatte. Aber vielleicht war es auch nur Abneigung. Fünfzigtausend, das war keine kleine Summe, doch diese Party allein kostete vermutlich halb so viel. Vielleicht hatte Sophie die Tatsache zu schaffen gemacht, dass Grahame jederzeit, ohne zu zögern, Abigail hätte zu sich holen können. Aber wenn das so war, warum hatte Sophie dann Abigails Existenz vor ihm geheim gehalten? Warum, zum Teufel, hatte sie sie bei Nieve gelassen? Und Abigail war nicht etwa böse auf Nieve; sie liebte Nieve. Sie liebte Nieve mehr, als sie je Sophie Thom lieben würde. Aber war es so einfach? War ihre Mutter fehlgeleitet gewesen, so wie Becky und ihre Freunde? War Abigails Schicksal nur Teil irgendeines dummen Protestes gegen Reiche?

Melanie, die eine unermüdliche und liebenswürdige Gastgeberin war, zog Abigail hierhin und dorthin, und sie spielte ihre Rolle so gut sie konnte. Es war alles so unwirklich, so perfekt. Doch im Inneren wünschte Abigail sich nur zweierlei: dass dies aufhörte und dass sie Becky fand.

Ihr Vater tauchte wieder auf.

»Das ist Matthew«, sagte er und zog einen schlaksigen Jungen neben sich. »Er und deine Schwester sind Freunde.«

Abigail blinzelte. Der Typ sah umwerfend aus, war über ein Meter achtzig groß, hatte dunkles, welliges Haar, das sich seinem Haargel widersetzte (von Fudge – sie konnte es riechen) und ihm in die Augen fiel

Mein Gott.

Matthew war Stick? Stick war Matthew? Dieser Typ?

Ihr Puls beschleunigte sich. Ihre rechte Hand war feucht, stellte sie verlegen fest, als sie seine schüttelte. Die Welpenaugen flackerten. Er lächelte höflich.

Sie senkte den Blick. Er trug eine schicke Hose und ein frisches weißes Hemd, an dem ein paar Knöpfe offen standen. Sie ertappte sich dabei, wie sie das, was sie von seiner Brust sehen konnte, anstarrte. Gebräunt. Keine Haare. Sie ließ den Blick zu den Schultern wandern, die sie in der Nacht zuvor nicht wahrgenommen hatte. Breit und gerade. Starr ihn nicht so an, das gehört sich nicht! Sie wusste nicht, wo sie hingucken sollte.

»Obwohl Becky ihn Stick nennt, wegen seiner Größe«, fügte ihr Vater hinzu.

»Das stimmt«, sagte Matthew ruhig. Er fuhr fort, Abigail anzustarren, als wenn sie eine Fremde wäre, und entzog ihr seine Hand. »Schon als ich zwölf war, war ich so. Da sah ich noch mehr aus wie ein Besenstiel.« Sein Blick wurde hart, als wollte er ihr befehlen: Sag nichts, kein Wort.

»Schön, dich kennenzulernen«, krächzte sie.

Die Worte steckten fest. Die Zeit hielt an. Alles um sie herum verblasste, alles außer seinen Augen.

»Na, seitdem hast du aber zugelegt!«, rief Grahame aus und riss sie aus ihrer Trance. »Und das ist Matthews Vater, mein ältester und bester Freund, Mr. Howard.«

Abigail zwang sich, die Hand der kleineren, ernsteren, erwachsenen Version von Stick zu schütteln. Die Hand seines Vaters war sogar noch feuchter als ihre.

»Wir sind Freunde seit dem Kindergarten, Dennis und ich«, sagte Grahame jovial. »Genau wie unsere Kinder. Dennis ist der Vizegouverneur von Kalifornien.«

»Oh! Ich habe Sie im Radio gehört«, sagte sie automatisch, vor allem, um sich von Stick abzulenken. Fehler. Wie hätte sie ihn im Radio hören können? Als er interviewt wurde, war sie noch nicht einmal in den Staaten gewesen. Und sie konnte nicht erklären, was wirklich passiert war, dass Becky ihr das Interview als Beweisstück A für seine Schlechtigkeit vorgespielt hatte.

Sticks Vater schien es nicht aufzufallen. Er lächelte mit der gespielten Bescheidenheit des Politikers. »Wie denkst du darüber?«

»Über Arbeitslosigkeit und Armut? Ich fand, Sie hatten recht. Es muss etwas getan werden.« Abigails Herz hämmerte. Wenn sie so nervös war, war es immer besser, bei der Wahrheit zu bleiben, das wusste sie.

»Kluges Mädchen«, sagte er. »Mein Sohn scheint anderer Meinung zu sein.«

Alle Augen waren jetzt auf Stick gerichtet. Der kniff. »Ich gehe mal Becky suchen.«

»Ich komme mit!« Abigail wusste, dass sie ein wenig zu enthusiastisch klang.

»Schön, Sie kennengelernt zu haben, Howard – ich meine, Mr. Howard.«

Mr. Howard nickte. Sie folgte Stick, konnte aber nicht widerstehen und warf vorher noch einen Blick zurück zu den beiden Männern. Sie waren bereits wieder in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft.

In diesen Schuhen zu laufen war ein Albtraum. Abigail stöckelte umher und kam sich lächerlich vor. Wie sollten Beine auch ihre Arbeit tun können, wenn unter jedem Fuß ein zehn Zentimeter langer Stachel aus rotem Leder war? Scheiße, das erinnerte sie daran, dass ihr Hintern nach oben zeigte wie der eines geilen Menschenaffen. Sie verbannte die Bilder von sich paarenden Affen aus ihrem Kopf und tat ihr Bestes, nicht den Hintern vor ihr anzustarren. Doch das war nicht einfach, denn der war sehr hübsch geformt. Mist, jetzt war sie der Affenmann.

Sie konzentrierte sich auf die mit Teppichboden ausgelegten Stufen. Unglaublich, wie sie ihn anschmachtete. Ja, Stick sah aus wie ein Model und war reich. Aber er war ein Vandale und verliebt in ihre Schwester. Aus dem Ärger auf sie selbst wurde Wut auf ihn. Und jetzt war er ihr schon zehn Schritte voraus, halb den Flur hinunter zu Beckys Zimmer. Sie würde sich nicht von solchen Dummheiten verunsichern lassen. Ihr doch egal.

»Hey, warte!«, rief sie. Sie stolperte, verlor einen Schuh, hinkte aber weiter.

Er blieb stehen und drehte sich um. »Ja?«

»Warum lässt du Becky nicht in Ruhe?«, fragte Abigail. »Du bringst sie noch in Schwierigkeiten.«

Diese Augen. Herrgott noch mal, wenn die nicht wären, wäre er genauso wie dieser Junge, Joe. Stick machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wir stecken alle in Schwierigkeiten.«

Sie schnaubte. Tja, kein Wunder, dass er in Becky verliebt war. Die Schwachköpfe sprachen beide am liebsten in Rätseln. Er klopfte an die Tür, an einer weiteren Unterhaltung war er offenbar nicht interessiert.

Becky öffnete sofort. »Hey, ihr beiden, wie ist die Party? Habt ihr euch ein bisschen kennengelernt?« Sie deutete mit einem Kopfrucken auf Stick. »So in Schale sieht er ganz annehmbar aus, findest du nicht?«

»Anscheinend habe ich einen schlechten Einfluss auf dich, Becky.«

»Och. Das stimmt « Becky küsste Stick auf den Mund. »Und ich auf dich.« Sie gab ihm einen zärtlichen Klaps auf die Wange, doch beide Seiten seines Gesichts wurden rot.

Abigails Magen hob sich. Was war da zwischen diesen beiden? Es ärgerte sie, dass ihre Schwester diese Lippen küssen durfte und sie nicht. Und es ärgerte sie, dass es sie ärgerte.

Becky hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, sich nett anzuziehen; sie trug eine Seidenhose und ein schulterfreies Top. Trotz des geringen Aufwandes war sie so viel schöner als jeder andere auf dieser Party und ganz sicher sehr viel hübscher als Abigail. Mit ihr konkurrieren zu wollen war sinnlos, begriff Abigail. Sie würde nie gewinnen. Und warum sollte sie das auch wollen? Sie wollte nicht gewinnen. Was denn auch?

»Tut mir leid, dass ich dich gestern Abend ins kalte Wasser geworfen habe«, sagte Becky, ohne Stick zu beachten.

»Schon in Ordnung«, antwortete Abigail, die immer noch über den Kuss nachdachte.

»Nein, das ist es nicht. Aber ich werde es nicht wieder tun. Und jetzt los, erfüllen wir unsere Familienpflicht, ja?«

Becky legte ihnen beiden den Arm um die Schultern und geleitete sie die Treppen hinunter. Unterwegs beugte Stick sich herunter und nahm den Schuh, den Abigail verloren hatte, auf, um ihn ihr zu geben.

Als wenn ich Aschenputtel wäre, dachte sie unwillkürlich. Zu schade, dass auch das nicht wahr war.

Als sie in den Garten kamen, klopfte Grahame gerade mit dem Löffel gegen sein Glas. Abigail fragte einen Kellner, ob sie Ananassaft haben könnte. Die Antwort lautete Nein. Stattdessen füllte er ihr Glas mit Champagner. Sie hatte noch nie Champagner getrunken. Sie nippte daran, neugierig, warum so viel Tamtam darum gemacht wurde, und verzog das Gesicht. Igitt. Stick schwenkte ab in die Menschenmenge. Becky führte Abigail hinüber zu ihrem Vater.

»Wie ihr alle wisst, sind wir hier, um die Ankunft meiner Tochter zu feiern«, verkündete Grahame. Seine Augen waren feucht. Seine Stimme klang belegt. »Wenn man so etwas sagt, ist der Neuankömmling normalerweise in eine Decke gewickelt und trägt Windeln. Nun, wie ihr sehen könnt, kann dieses Exemplar hier schon auf die Toilette gehen.«

Die Menge brach in Gelächter aus.

Abigail wurde rot. Jetzt stellte garantiert jeder Einzelne sie sich hier auf der Toilette vor, einige vielleicht auch in Windeln oder sogar, als logische Fortführung des Gedankens, in Unterwäsche. Sie blickte hinunter auf das lächerlich kurze Kleid. Vielleicht konnte man ihre Unterwäsche sehen. Vielleicht konnte Stick sie sehen. Sie zupfte am Träger ihres BHs und strich dann über ihr Kleid, um sich zu vergewissern, dass der Saum ihres neuen Spitzenslips (der ihr mittlerweile fest zwischen den Pobacken klemmte) sich innerhalb der Grenzen des roten Materials befand. Stick sah zu, wie sie herumzappelte. Wahrscheinlich dachte er gerade an die Windel. An eine volle Windel. Arrgh!

»Bis vor drei Tagen wusste ich nicht einmal, dass sie existiert«, fuhr Grahame fort. »Wie einige von euch bereits wissen, war ihre Mutter sehr krank. Es ist traurig, aber sie hat die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens in Pflegeeinrichtungen verbracht. Von diesem wundervollen Geschenk hier hat sie mir nie erzählt « Tränen traten in seine Augen.

Abigail lächelte nervös. Sie brachte einfach keine Krokodilstränen zustande, nicht einmal in Notsituationen wie bei der Einwanderungskontrolle. Und auch jetzt nicht, vor allem, wenn sie sich, verkorkst, wie sie war, die ganze Zeit Sorgen um ihre Unterwäsche machte. Becky musste es bemerkt haben, denn sie nahm die zitternde Hand von Abigails BH-Träger und drückte sie zwischen sie beide herunter, um sie dort festzuhalten.

»Noch weiß ich nicht sehr viel von ihr, doch ich weiß genug. So ist das mit Familie. Ich kann sagen, dass Abigail trotz des schwierigen Lebens, das sie bisher gehabt hat, ein vernünftiges, wundervolles Mädchen ist.«

Vernünftig und wundervoll. Nicht unbedingt die Adjektive, die Abigail benutzt hätte, aber wie er gesagt hatte, wusste er nicht alles über sie.

Ein paar Leute klatschten.

»Ich habe großes Glück, dass sie meine Tochter ist.« Er wischte sich über die Augen.

Becky ließ ihre Hand los. Fast hätte Abigail geschrien: »Becky ist auch deine Tochter«, doch sie hielt sich zurück.

»Also erhebt alle euer Glas auf meine Tochter Abigail!«

»Auf Abigail!«, riefen alle daraufhin, alle außer Becky.

»Und darauf, dass man unter deinen Rock guck’n kann!« Grahame Johnstone versuchte einen Scherz in schottischem Singsang. Es gab ein paar nervöse Lacher. Er stürzte seinen Champagner in einem Zug hinunter.

Gott sei Dank, es war vorbei. Als die Menge applaudierte, hatte Becky sich schon unauffällig zurückgezogen. Bevor Abigail ihr nachlaufen konnte, erschien Melanie, um sie weiter herumzuzeigen.

Abigail beantwortete alle Fragen, so gut sie konnte. Die Hälfte der Zeit musste sie sich wegen ihres dämlichen Akzents wiederholen. Doch die ganze Zeit konnte sie nur an eines denken: Stick und Becky, die eng beieinander auf einer Bank in einer dunklen Ecke des Gartens saßen. Zum ersten Mal in ihrem Leben glaubte Abigail, dass sie vielleicht ein bisschen verrückt wurde. Sie dachte zurück an die nächtlichen Partys am Holy Loch, wenn die Erwachsenen stark angetrunken gewesen waren. Es wurde angestoßen, die Gitarren wurden rausgeholt, und dann begann eine hitzige politische Debatte, oft gefolgt von einer unterhaltsamen Auseinandersetzung. Jeder liebte jeden, bis auf ein Paar, das irgendwann loszog, um lauthals auf der Hauptstraße zu streiten. Erst nach Stunden gingen die Leute zu Bett.

Hier war das anders. Dreiundzwanzig Uhr und die Party war vorbei. Die Leute mussten nach Hause fahren.

Einhundert Küsschen rechts und links später war das Haus leer – bis auf Mr. Howard und Stick, der mit Becky nach oben verschwunden war.

»Matthew!«, brüllte Mr. Howard, der an der Tür stand. »Zeit zu gehen!«

Ein paar Sekunden später hüpfte Stick die Treppe herunter. Er sah befriedigt aus, erhitzt, zerzaust. Hatten er und Becky …? Egal.

»Danke, Mr. Johnstone. Und schön, dich kennengelernt zu haben, Abigail.«

Abigail streckte die Hand aus, um Sticks zu schütteln. Er beugte sich zu einem Wangenkuss vor. Schnell korrigierte sie ihren Fehler und zog ihre Hand im selben Moment zurück, als er die Wangenkuss-Option zurückzog und die Hand ausstreckte.

Er lachte. »Nicken wir uns einfach zu, in Ordnung?« Sein Ton war trocken, frech. »Es war schön, dich zu sehen, äh, kennenzulernen.« Bevor er sich umdrehte, um seinem Vater hinauszufolgen, zwinkerte er ihr zu.

Mmm.

Mit immer noch rumorendem Magen sah Abigail zu, wie die Leute vom Partyservice in Windeseile das Haus wieder auf Vordermann brachten. Um Mitternacht hätte sie nie vermutet, dass hier überhaupt eine Party stattgefunden hatte.

»Du hast dich toll geschlagen«, verkündete Grahame, als der Letzte von ihnen gegangen war. »Eine echte kleine Johnstone. Ich bin so stolz und glücklich.«

Abigail rieb sich die Augen, zu erschöpft, um das Kompliment infrage zu stellen. Bisher hatte sie noch nie jemand eine echte, kleine Was-auch-immer genannt. »Danke, Grahame … Dad. Und dir auch, Melanie. Es war sehr schön. Kann ich noch etwas tun?«

»Du kannst schlafen gehen!« Melanie gähnte – ein geschauspielertes Gähnen, mit dem dazu passenden Recken und Strecken. »Das werde ich jetzt nämlich tun.« Damit ging sie nach oben ins Schlafzimmer.

Grahame war schon auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer. »Nacht!«, rief er und schloss die Tür hinter sich.

Abigail rannte nach oben und klopfte an Beckys Tür.

»Ich bin’s!«, flüsterte sie. »Kannst du in mein Zimmer kommen?«

»Okay«, hörte sie Beckys gedämpfte Stimme. »Gib mir nur eine Minute.«

Abigail schloss sich in ihrem Zimmer ein und öffnete den Nike-Rucksack. Auf einmal war sie hellwach. Sie packte die schmutzigen Bücher aus der Mitchell Bibliothek aus und stellte sie in ein Regal in der Ecke, wühlte unter der Plastiktüte mit ihrer Akte Nr. 50837 und zog schließlich das Foto ihrer Mutter, den Brief und das Geld heraus, um alles auf dem Bett auszubreiten.

Becky platzte herein, sie trug einen Bikini. »Lust auf ein Mitternachtsbad?«

»Setz dich zuerst kurz.« Abigail tätschelte die Matratze. »Ich muss dir etwas zeigen.«

Becky hatte das Foto als Erstes entdeckt. »Ist sie das?« Fast andächtig nahm sie es vom Bett und ließ sich mit verschränkten Beinen neben Abigail nieder.

»Jepp. In Glasgow, vor vielen Jahren.«

Becky zog die Daunendecke über sich. »Man kann sie gar nicht richtig erkennen«, flüsterte sie.

»Ich habe es vergrößert. Ich fürchte, ich habe nur das eine. Hast du Fotos von ihr?«

»Machst du Witze? Er hat sie ausradiert. Ich wusste immer, dass sie existiert, aber sie war tabu. Er hat mir nur gesagt, dass sie irre war, mehr nicht. Dass sie Stimmen hörte und dachte, alle hätten es auf sie abgesehen. Dass sie ihn angegriffen und Dinge in Brand gesteckt hat. Er hat jahrelang nicht über sie gesprochen, bis vor drei Tagen, als er mir von dir erzählte. Selbst da hat er gesagt, dass er nicht über diese Verrückte reden wolle.« Becky kniff die Augen zusammen, um das Foto genauer zu betrachten. »Sie ist hübsch, glaube ich.«

»Außerdem hat sie uns Geld hinterlassen«, fuhr Abigail fort. »Für jede fünfundzwanzigtausend Pfund.«

»Warte. Was?«

»Du hast fünfundzwanzigtausend Pfund, von unserer Mutter.« Abigail schob den Brief und das Geldbündel ihrer Schwester zu.

Beckys Augen weiteten sich.

»Und einen Brief. Soll ich dich alleine lassen, wenn du ihn liest?«

Ihre Schwester legte die Stirn in Falten. Sie kaute an einem Nagel.

»Becky, ich «

»Nein, bleib«, sagte sie bestimmt. »Ich möchte, dass du dabei bist, wenn ich das lese. Wenn du nicht hier aufgetaucht wärst, hätte ich überhaupt nichts davon erfahren.«

Mit zitternden Händen öffnete Becky den Umschlag. Abigail hatte den Brief ihrer Mutter seit dem Tag, als sie ihn erhalten hatte, nicht wieder gelesen, aber sie erinnerte sich fast Wort für Wort an seinen Inhalt. Sie versuchte, Becky nicht anzusehen – sondern das Fenster, das Badezimmer, die Wände –, doch immer wieder wanderte ihr Blick unwillkürlich zu den Augen ihrer Schwester, die von Zeile zu Zeile glitten. Für einige Sekunden zeigte Becky keinerlei Regung. Dann wurden ihre Wimpern feucht. Wahrscheinlich las sie gerade den Teil, wo ihre Mutter schrieb, dass sie sich an ihr schönes Gesicht erinnerte.

Verlegen ließ Abigail den Kopf hängen.

Endlich stieß Becky einen lauten Seufzer aus und faltete vorsichtig den Brief zusammen. Dann kaute sie wieder auf dem Daumennagel und flüsterte: »Sie wusste es.«

»Was meinst du? Sie wusste, dass Grahame reich war « Beschämt hielt Abigail mitten im Satz inne. Ihr mochte das Geld wichtig sein, aber Becky vermutlich nicht.

Becky hatte sich wieder gefasst. Sie lächelte. Ihre Lippen zuckten. Sie hatte Mühe, den Brief zurück in den Umschlag zu schieben. Auf einmal schien sie nervös zu sein und es eilig zu haben. »Nein. Nicht das. Ich wollte sagen, ich wünschte, sie hätte es gewusst. Was aus uns beiden geworden ist. Aus dir und mir.«

Abigail nickte. »Alles in Ordnung?«

»Alles prima.« Becky stand auf. Offensichtlich schossen tausend Gedanken hinter diesen verzweifelten Augen hin und her. Sie nahm die unscharfe Fotokopie. »Kann ich das mitnehmen? Tut mir leid, aber ich glaube, ich muss doch allein sein.«

Kann ich verstehen. Abigail nickte wieder.

Wie in Trance nahm Becky das Geld, den Brief und das Foto und ging zur Tür.

»Wenn du bereit bist, ich bin hier«, rief Abigail ihr leise nach. »Klopf einfach.«

Aber Becky war schon gegangen.