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Der gerechte Schlaf der Untoten

Grace

HUDSON VEGA TRÄGT RETROSHORTS.

Und nicht irgendwelche Retroshorts. Sondern Retroshorts von Versace in Rot, Grün, Blau, Pfirsich und Gold , die sehr knapp sitzen und nicht annähernd so viel bedecken wie andere Unterwäsche.

Nicht dass sie aussehen wie irgendeine mir bekannte Herrenunterwäsche. Nein, diese Retroshorts sind grell wie Hölle und das wissen sie auch. Nein, das feiern sie. Auf der einen Seite ist ein Wappen, auf der anderen eine kunstvolle Krone und dazwischen ist auf einem Feld mit Color Blocking ein Schwert – ein verdammtes schwarz-gold-blaues Schwert – auf dem Schritt.

Ich weiß nicht, ob es der Funken Wahrheit in der Werbung oder Größenwahn ist, und ich habe nicht die Absicht, das jemals herauszufinden. Aber selbst ich muss zugeben, dass Hudson möglicherweise die einzige Person auf dem Planeten ist, die darin gut aussieht.

Nicht, dass ich ihm das je sagen würde – es interessiert mich vor allem nicht im Geringsten, ob er gut oder schlecht aussieht in Unterwäsche.

Statt also die grellste und großkotzigste Unterwäsche anzustarren, die ich je gesehen habe, ganz zu schweigen von dem Vampir, der sie anhat, frage ich: »Wie jetzt? Denkst du, du bekommst automatisch das Bett, weil du der Vampir bist und ich der armselige kleine Mensch?«

»Ich möchte anmerken, dass du das gesagt hast, nicht ich.« Er lächelt mich an auf eine Weise, die dazu gedacht ist mich zu verärgern – arrogant, sorglos und gerade gefährlich genug, dass sich mir die kleinen Härchen im Nacken aufrichten.

Was mir als Warnung hätte ausreichen sollen, aber irgendwie überrascht es mich dennoch, als er sich umdreht und ein Kissen aufschüttelt – und, oh mein Gott, auf seinem Hintern prangt ein echtes Schloss. Oder soll das ein griechischer Tempel sein à la Olymp? Es ist echt schwer zu sagen – und dann wirft er lässig über die Schulter: »Außerdem hatte ich gedacht, du gesellst dich zu mir.«

Okay, vielleicht bin ich naiv, denn damit hatte ich wirklich, wirklich nicht gerechnet. »Ich bin die Gefährtin deines Bruders«, blaffe ich, nachdem der Schock endlich nachlässt. »Auf gar keinen Fall schlafe ich mit dir. Niemals

»Oh, nein, sag so was nicht«, antwortet er trocken. »Wie soll ich diese Enttäuschung nur verkraften?«

»Du bist echt ein Arsch, weißt du das?«, knurre ich.

»Ich glaube, das hatten wir schon mal, ja.« Er streckt sich, um total unbekümmert die Kissen auf der anderen Seite des Betts aufzuschütteln, ganz gleich, was ich sage.

Was mich nicht davon abhält zu reden. Wenn wir hier gemeinsam Gott weiß wie lange festsitzen, dann müssen ein paar Dinge klar sein. Einschließlich: »Ich habe keine Ahnung, was du glaubst, was hier passieren wird, aber ich kann dir versichern, das wird es nicht.«

Er dreht sich um, sieht mich an und verschwunden ist der sarkastische Arsch, mit dem ich es die ganze Zeit zu tun hatte. An seiner Stelle steht ein sehr, sehr müde aussehender Typ.

»Schlafen, Grace. Ich möchte schlafen.« Und damit steigt er ins Bett und zieht die Decke über sich, um sich dann umzudrehen, sodass sein Rücken der Bettmitte zugewandt ist.

Nur eine weitere Möglichkeit für ihn, mir zu zeigen, wie wenig – und mit »wenig« meine ich überhaupt nicht – bedroht er sich von mir fühlt. Verlegenheit überkommt mich, noch bevor er sagt: »Du kannst gern die andere Seite nehmen. Ich verspreche, ich schlag nicht die Fänge in dich, während du schläfst.«

»Ich mach mir keine Sorgen wegen deiner Fänge«, gebe ich zurück. Dann verwandelt sich das Gefühl der Verlegenheit in völlige Blamage, während diese Worte zwischen uns hängen.

Oh mein Gott. Ernsthaft? Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe.

Meine Wangen brennen, mein Magen dreht sich um, noch bevor er murmelt: »Ja, gut, darum brauchst du dir auch keine Gedanken zu machen.« Zum ersten Mal klingt er so müde, wie er aussieht. »Gute Nacht, Grace.«

Ich antworte nicht, aber das erwartet er auch ganz eindeutig nicht. Denn er schläft sofort ein.

Der Teil meines Hirns, der mich vorhin angeschrien hat, dass ich abhauen soll, ist wieder voll da. Falls ich eine Chance habe, von ihm wegzukommen, so beharrt er, dann jetzt. Während Hudson erschöpft ist und nicht wachsam und zu große Schmerzen hat, um sich darum zu kümmern, ob ich abhaue oder nicht.

Aber der Drache ist noch da draußen. Ich kann das Schlagen seiner Flügel hören, während er das Dach umkreist, kann seine urweltlichen Schreie tief in meiner Seele spüren.

Was heißt, dass ich zwischen zwei Spitzenprädatoren gefangen bin.

Wer auch immer sagte, dass Menschen an der Spitze der Nahrungskette stehen, war allem Anschein nach ein schwachsinniger Optimist.