ICH WEISS NICHT, WIE LANGE ICH dastehe und Hudson beim Schlafen zusehe.
Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen?
Minuten, die sich wie Stunden anfühlen?
Aber die Zeit vergeht und es wird immer klarer, dass Hudson wirklich schläft. Und dass das so auch bleibt.
Das ist eine gute Nachricht – tolle Nachricht, echt – und ich atme zum ersten Mal durch, seit wir hier gelandet sind. Dann nehme ich noch einen Atemzug und verlasse den Bereich, der als Schlafzimmer fungiert.
Ich verhungere immer noch – ich kam vorhin nicht dazu, den Apfel zu essen –, also gehe ich weiter in die Küche. Ich laufe langsam, achte darauf, nicht an etwas zu stoßen oder plötzliche Bewegungen zu machen, die Hudson wecken könnten. Oder schlimmer noch, ihn dazu bringen, in die Luft zu gehen.
Mein Magen knurrt in dem Augenblick, in dem ich den Fuß in die Küche setze, fast, als hätte er auf diesen Moment gewartet, in dem er sich am sichersten fühlt – der Moment, in dem ich mich sicher fühle –, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber Sicherheit ist relativ, wenn man sich den Lebensraum mit einem Soziopathen teilt, also erlaube ich mir nicht, mich zu sehr zu entspannen.
Ich wende ihm weiter den Kopf zu, während ich leise die Schubladen durchsuche, ein paar weitere nützliche Dinge finde wie einen Dosenöffner und ein Handyladegerät, bis ich auf das stoße, was ich wirklich suche. Ein Messer. Und nicht irgendein Messer. Ein extra scharfes Metzgermesser.
Ich überlege mir aus seiner Zielscheibenstation eine Wurfaxt zu holen, aber sie sehen abgezählt aus. Die Chancen stehen ziemlich gut, dass er es bemerkt, wenn eine fehlt, und das ist das Letzte, was ich möchte.
Natürlich weiß ich, dass mir weder eine Axt noch ein Messer viel Schutz – oder überhaupt Schutz – bieten werden, falls Hudson sich auf mich stürzt. Aber ich werde mich ihm auch nicht einfach auf einem Tablett servieren.
Mein Blut – und der Rest von mir ebenso – ist von der verfluchten Speisekarte gestrichen, schönen Dank auch. Lieber sterbe ich im Kampf, als mich einfach ohne Gegenwehr von Jaxons älterem Bruder umbringen zu lassen. Er hat meinem Gefährten schon genug geschadet. Auf gar keinen Fall lasse ich zu, dass er mich Jaxon auch noch nimmt.
Zumindest nicht ohne einen anständigen Kampf.
Ich lasse das Messer neben mir auf der Arbeitsplatte liegen, nehme etwas Brot und mache mir rasch ein Käsesandwich. Ich esse es im Stehen, den Blick auf Hudsons schlafende Gestalt gerichtet. Er rührt sich nicht.
Nachdem ich aufgegessen habe, nehme ich mir eine Dose Dr Pepper aus dem Kühlschrank und gehe zu der Couch, die der Tür am nächsten ist – und am weitesten entfernt vom Bett. Ich lasse mich auf einer Seite nieder und stelle die Dose auf den Tisch, das Messer schiebe ich aber zwischen die beiden Kissen neben mir. Dann strecke ich mich aus und ziehe mein Telefon wieder aus der Tasche.
Ich spiele mit den Apps herum – das Einzige, was noch funktioniert, da ich niemanden anrufen und niemandem schreiben kann – und warte darauf, dass Hudson sein Spiel, was immer das für eins ist, aufgibt und sich in das Raubtier verwandelt, das er ist. Das Raubtier, das er vor mir nicht einmal zu verbergen versucht hat.
Doch es vergeht eine Stunde, ohne dass er sich rührt. Er macht absolut gar nichts. Er liegt so still im Bett, dass ich mehr als einmal genau hinsehen muss, um sicherzugehen, dass er noch atmet. Leider tut er das.
Die Müdigkeit überfällt mich wie eine Springflut, die mich überspült. Sie ertränkt meine Entschlossenheit wach zu bleiben – wachsam zu bleiben – in Wellen der Erschöpfung. Bevor ich einschlafe, klicke ich noch auf ein Bild von Jaxon und mir.
Ich habe es vor drei Tagen in seinem Zimmer aufgenommen. Macy, Gwen und ich hatten unsere Lernsession früher beenden können, als wir gedacht hatten, und statt mit Macy in unser Zimmer zurückzukehren, war ich zum Turm gegangen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.
Er kam gerade aus der Dusche, sah appetitlich aus und roch auch genauso. Sein schwarzes Haar war nass und klebte an seiner Wange, seine nackte Brust war immer noch etwas feucht und sein Lächeln war total ansteckend.
Weshalb ich an seine Brust gedrückt dastehe – mein Rücken an seine Vorderseite –, mit einem Grinsen im Gesicht, das heller strahlt als die Polarlichter, die durch das Fenster hinter uns scheinen. Er hatte versucht mir das Selfie aus zureden und mich stattdessen in das einladende Bett rechts von uns zu über reden, aber ich war standhaft geblieben.
Trotz allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, ist unsere Beziehung noch frisch. Weswegen es sehr wenige Fotos von uns beiden gibt. Dieses hier wollte ich unbedingt und das hatte ich Jaxon auch wissen lassen.
Und jetzt, da ich hier allein auf der Couch sitze, bin ich so froh, dass ich darauf bestanden habe. Denn es gibt mir etwas, auf das ich mich konzentrieren kann in diesem ganzen, gewaltigen, verwirrenden Chaos. Etwas, zu dem ich zurückkehren kann.
Also klammere ich mich an das Telefon – an das Bild von uns –, so fest ich kann.
Und versuche mich daran zu erinnern, wie Jaxon sich anhört, wenn er sagt, dass er mich liebt.