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One Direction ist nicht nur eine Band

Hudson

GRACE SIEHT MICH SO SELTSAM AN und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Andererseits weiß ich auch nicht, was ich von der ganzen Sache hier halten soll. Von Tiola, ihren Eltern, den Umbras. In meinem Unterschlupf hatte ich wenigstens eine ganz gute Ahnung, was vor sich ging. Jetzt, hier draußen, habe ich keinen verflixten Schimmer.

Irgendwas an diesem Ort rüttelt irgendwo weit hinten in meinem Hinterkopf eine Erinnerung wach, aber ich kann noch nicht ganz sagen, an was. Ich weiß nicht einmal, ob es eine echte Erinnerung ist oder eine Information, die Richard mir einst gab.

Der Mann liebte es die obskursten Wissensfetzen weiterzugeben; je weniger bekannt etwas war, desto lieber vermittelte er es weiter. Ist dieser seltsame lila Ort so etwas oder ist er etwas ganz anderes? Etwas, worüber ich beinahe nichts weiß, weil er wichtiger ist, als ich mir je vorgestellt habe?

»Abendessen ist fertig.« Maroly führt uns weiter hinein ins Haus. »Den Flur hinunter ist ein Bad, dort könnt ihr euch sauber machen.«

»Hudson ist ein Vampir, Mama«, sagt Tiola mit gewichtig klingender Stimme zu ihr. »Das heißt, er kann unsere Nahrung nicht essen.«

»Ein Vampir?« Arnst blickt mich mit anderen Augen an. »Wir haben natürlich Geschichten über Vampire gehört, aber ich habe in dieser Gegend nie wirklich einen getroffen. Willkommen.«

Es ist nicht die Reaktion, die ich gewohnt bin, aber andererseits stehen die Chancen gut, dass sich hier noch nie jemand über Vampire als Feinde sorgen musste, so begeistert wie Tiola von rotem Blut war. Tatsächlich ist es irgendwie erfrischend, dass jemand mich mal nicht für eine Bedrohung hält. »Danke«, sage ich und meine es so.

Maroly wendet sich mit fragendem Blick an Grace. »Bist du auch eine …«

»Oh nein! Definitiv nicht!«, erwidert Grace so nachdrücklich, dass es schon ein wenig beleidigend ist. »Ich bin einfach ein normaler Mensch.«

Das stimmt nicht. Je länger wir hier gefangen sind, desto überzeugter bin ich, dass da mehr ist als die Menschlichkeit, die sie so entschlossen für sich beansprucht. Nicht dass es im Moment wichtig wäre, da ich noch nicht weiß, was es ist. Und ich werde ihr nicht widersprechen. Zumindest nicht vor diesen freundlichen Leuten, die uns ihr Zuhause geöffnet haben.

Ein rascher Blick auf Marolys und Arnsts Gesichter sagt mir jedoch, dass ich nicht der Einzige bin mit Zweifeln an dem, was genau Grace ist. Doch es sieht aus, als würden auch sie nichts sagen.

»Na schön, du musst am Verhungern sein«, sagt Maroly zu Grace. »Komm. Ich habe jede Menge gekocht.«

Wie gerufen knurrt ihr Magen los. Ihre Wangen nehmen den vertrauten pinken Farbton an, aber ich verstehe nicht, warum ihr das peinlich ist. Hunger ist normal, besonders da sie den ganzen Tag nichts gegessen hat. Dazu das ganze Gehen und Rennen und Kämpfen, das wir hinter uns haben, und ich bin überrascht, dass sie noch nicht bereit ist am ersten essbaren Ding zu nagen, das ihr vor die Nase kommt.

Ich bin es nämlich.

Da Grace hier meine einzige Option ist, schiebe ich diesen Gedanken jedoch weit weg. Auf keinen Fall trinke ich jetzt von ihr. Nicht jetzt, da sie mich endlich einmal ein paar Stunden nicht angesehen hat, als wäre ich eine Kreuzung aus einem Welpenkiller und Monster.

»Das klingt wunderbar«, antwortet Grace mit einem so strahlenden Lächeln, mit dem sie mich noch nie bedacht hat. Natürlich würde ich dann wohl auch vor Schock umkippen.

Grace geht den Flur hinab, um sich sauber zu machen, und dann mache ich das ebenfalls. Ein Teil von mir möchte in die Dusche stürzen, da ich ja sowieso nicht essen werde. Ich habe aber mehrere Fragen, die Maroly und Arnst mir beantworten müssen, und jetzt scheint die beste Zeit dafür.

Also begnüge ich mich damit, mein Shirt auszuziehen und den Schmutz und Staub von dem langen Tag, den wir uns durch den Dreck geschleppt haben, von Händen, Gesicht und Oberkörper zu waschen. Nachdem ich mich schnell mit dem frischen Handtuch abgetrocknet habe, das Maroly mir gegeben hat, gehe ich zurück ins Esszimmer, wo alle bereits um den großen, runden Tisch versammelt sind.

Zwischen Grace und Tiola ist ein freier Stuhl, auf den ich mit einem Lächeln für das kleine Mädchen rutsche. Sie erwidert es, wobei ihre scharfen Zähne im Licht glänzen, das der Kronleuchter über uns herabwirft und das von leuchtenden Kristallen zu kommen scheint.

»Also.« Maroly gießt Eiswasser in das Glas vor mir. »Erzählt uns, wo ihr beiden herkommt. Hier gibt es nichts im Umkreis von Kilometern und es sieht nicht aus, als hättet ihr einen Wagen oder ein anderes Reittier.« Sie lächelt aufmunternd, enthüllt dabei Zähne, die irgendwie sogar noch schärfer aussehen als die ihrer Tochter.

»Das wissen wir eigentlich nicht«, antwortet Grace und tut sich etwas, das wie gebratenes Gemüse aussieht, auf den Teller. Lila gebratenes Gemüse. »Wir sind weggelaufen vor einem Drachen …«

»Ein Drache?« Tiola hüpft auf ihrem Stuhl herum. »Ein echter Drache? So einen habe ich noch nie gesehen!«

»Das war definitiv ein echter Drache«, sagt Grace. »Er hat Feuer gespien und alles.«

Arnst sieht weniger skeptisch als schockiert drein. »Du meinst, ein Drache hat euch nach Noromar gejagt ? Das ergibt keinen Sinn. Wir haben hier keine Drachen.«

»Nichts hiervon ergibt Sinn.« Ich trinke einen Schluck Wasser, dankbar, dass es hier das Gleiche zu sein scheint, während alles andere anders ist. Dann kommt bei mir an, was er gesagt hat. »Warte mal. Hast du gesagt, wir sind in Noromar

Die Erinnerungen, die meinen Hinterkopf gekitzelt haben, erwachen voll zum Leben, weil mir die Geschichten, die Richard mir erzählt hat, wieder in allen Farben einfallen. Oder sollte ich wohl eher sagen, in allen Lilatönen.

»Ja.« Maroly häuft Salat auf ihren Teller und reicht ihn dann ihrer Tochter. »Ihr seid in etwas, das ihr das Schattenreich nennt – für uns Noromar. Die Gerüchte besagen, es gebe eine Verbindung zwischen unseren beiden Welten, die sich einmal alle tausend Jahre öffnet, aber das ist nicht passiert, seit wir leben. Wir hielten es immer für einen Mythos. Ihr wisst schon, etwas, wovon man träumt, das aber nicht echt ist. Ich habe keine Ahnung, wie ihr hergekommen seid. Oder wie …« Sie verstummt, tauscht einen Blick mit Arnst.

Mir ist trotzdem klar, was sie sagen wollte. Wenn sich der Durchgang geöffnet hat, um uns hindurchzulassen – oder es uns irgendwie gelungen ist hindurchzuschlüpfen –, der Blitz schlägt nie zweimal in dieselbe Stelle ein. Was bedeutet …

»Wir können nie mehr zurück?« Die Stimme von Grace bricht, aber ihr Flüstern hallt trotzdem durch den Raum wie ein Schrei.