DER EINGANG ZUR HÖHLE IST SO KLEIN, dass ich auf Hände und Knie gehen muss, um hineinzupassen. Ich ignoriere die pikenden Steine an meinen bloßen Handflächen – und die Tatsache, dass die Höhlenöffnung sehr, sehr schmal ist – und hoffe auf das Beste, während ich mich hineinzwänge.
Keine Tiere. Keine Tiere. Bitte, Gott, keine gruseligen Tiere, wenn Hudson nicht einmal hier ist, um seinen Nutzen aus ihnen zu ziehen.
Sobald ich es durch den lächerlich schmalen Eingang geschafft habe, wird die Höhle bedeutend größer. Zumindest fühlt es sich so an, da es wirklich dunkel ist hier drin und ich keine Taschenlampe habe. Sie ist groß genug, dass ich darin stehen kann, ohne mir den Kopf an der Decke zu stoßen, und als ich meine Arme ausstrecke, kann ich in keiner Richtung die Wände berühren.
Außerdem ist es hier drin etwa zehn Grad kühler als draußen und ich wäre eine Närrin, das nicht zu genießen. Natürlich ginge es mir besser, wenn ich die Rückseite der Höhle erkennen könnte, eine Ahnung hätte, womit ich es hier wirklich zu tun habe.
Ich warte ein paar Minuten, bis meine Augen sich daran gewöhnt haben und lausche dabei die ganze Zeit auf jegliches Rascheln, Grollen oder Atmen, das andeuten könnte, dass noch etwas mit mir hier drin ist. Aber nachdem mehrere Minuten vergehen, in denen ich nichts höre als den schnellen Schlag meines Herzens, denke ich, dass es okay ist. Dass da nichts ist außer mir.
Es ist ein wenig enttäuschend, aber ich ziehe es jederzeit einem Kampf gegen ein wildes Tier vor. Oder gegen einen Schwarm Insekten. Oder – diesen weiteren Gedankengang ersticke ich ganz schnell, bevor meine so rege Fantasie durchgeht. Schon wieder.
Zu wissen, dass die Höhle leer ist, reicht völlig, also kundschafte ich sie nicht weiter aus. Ich krieche wieder aus der Höhle heraus, um zurück zu Hudson zu gehen. Ich habe immer noch kein Wasser gefunden – was ich bald tun muss –, aber jeder meiner Instinkte schreit mich an, dass ich ihn so schnell wie möglich aus der Sonne und in die Höhle bringen muss.
Außerdem haben Vampire ja vielleicht eine superbesondere Wasserfindefähigkeit, von der ich nichts weiß. Mir sind schon seltsamere Dinge untergekommen, seit ich das mit den Paranormalen herausgefunden habe.
Erschöpfung schlägt mit jedem Schritt auf mich ein. Ich sage mir, dass es nur der Absturz ist nach dem »In eine Höhle kriechen«-Adrenalinschub, aber das macht es nicht leichter weiterzugehen. Besonders wenn ich mich eigentlich gern neben einem Baum zusammenrollen und schlafen möchte.
Doch das kann ich nicht, noch nicht. Hudson hat uns bis hierher gebracht. Es ist meine Aufgabe, uns diesen letzten kleinen Rest in Sicherheit zu bringen – oder zumindest in relative Sicherheit. Ich werde nicht im entscheidenden Moment versagen, nicht wenn wir so nah dran sind.
Also zwinge ich meine Augen dazu offen zu bleiben, zwinge mich einen Fuß vor den anderen zu setzen, während ich dem Pfad aus Pflastern zurückfolge.
Endlich sehe ich die größte Bandage, die ich am Fuß des ersten Baums befestigt habe, und beschleunige. Je eher ich zu Hudson komme, desto eher können wir zurück zu der Höhle. Und je eher wir zur Höhle kommen, desto eher kann ich schlafen.
Hudson schläft noch und ihn zu wecken ist nicht leicht. Als er jedoch wach ist und ich ihm meinen Plan erklärt habe, ist er voll dabei.
»Sorry, dass ich einfach weg war.« Er rappelt sich auf.
»Ist okay. Ich finde nur, wir brauchen wirklich Schatten. Nicht hier draußen im Freien rumhängen und darauf warten entdeckt zu werden, klingt mir auch wie eine kluge Idee.«
Er reicht mir den Rucksack, dann will er sich hinhocken, damit ich auf seinen Rücken steigen kann, aber ich schüttle den Kopf. »Auf keinen Fall. Du bist erschöpft. Ich gehe.«
»Wie lange hast du bis zu der Höhle gebraucht?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Etwa zehn Minuten«, antworte ich zögerlich, denn ich weiß, worauf er hinauswill.
»Wir sind in nicht mal fünf dort, wenn ich uns phade.«
»Ja, aber …« Ich mache eine Geste, möchte nicht laut aussprechen, was so offensichtlich ist. Dass er komplett ausgelaugt ist und ich nicht sicher bin, ob er noch fünf Sekunden phaden könnte, ganz zu schweigen von fünf Minuten.
»Ich mach das schon, Grace.« Wie zum Beweis hebt er mich brautmäßig hoch, statt weiter zu streiten. »Welche Richtung?«
Ich habe mittlerweile genug Zeit mit Hudson verbracht, um zu wissen, wann Widerrede nichts bringt, und das ist definitiv einer dieser Momente. Also schiebe ich all meine Bedenken beiseite, reiße mich zusammen und lasse ihn dieses männliche Männerding machen und uns zur Höhle bringen.
Es dauert drei Minuten, nicht fünf, selbst mit Anhalten und Pflasterpfad-Entfernen, und ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich das nicht sehr zu schätzen wüsste. So hat Hudson allerdings nicht einmal mehr genug Energie, um mich damit aufzuziehen. Was gut ist, denn ich habe definitiv nicht die Energie für eine angemessene Erwiderung.
Also taumeln wir wie Zombies in die Höhle. Hudson braucht vielleicht zwei Minuten, um sie zu erkunden und als annehmbar zu erachten, bevor er zusammenbricht. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre ich vielleicht beleidigt gewesen, dass er mir nicht vertraut, aber ich gebe zu, dass die Vampirsicht der menschlichen in der Dunkelheit überlegen ist. Und da ich nicht mitten in der Nacht gruselige Insekten – oder andere Überraschungen – entdecken möchte, geht es mir viel besser, als er sie auch überprüft hat.
Allerdings nicht gut genug, damit ich mich einfach auf den Höhlenboden legen kann. Ich hole die kleinen Decken aus dem Rucksack und breite sie aus. Dann dränge ich Hudson darauf. Er ist wach, aber er sieht nicht gut aus.
Blass, ausgezehrt, erschöpft. Selbst seine Atmung ist flacher als sonst. Ich weiß, dass Vampire unsterblich sind, aber das heißt nicht, dass sie nicht trotzdem sterben können. Und Hudson sieht definitiv aus wie an der Schwelle zum Tode. Womit ich so gar nicht einverstanden bin.
Ursprünglich hatte ich geplant bis morgen zu warten, um diese Unterhaltung mit ihm zu führen, aber so, wie er gerade aussieht, bin ich nicht so sicher, dass Abwarten eine gute Option ist. Oder überhaupt eine Option.
»Hudson«, setze ich an, aber er unterbricht mich.
»Mir geht es gut, Grace.«
Es ist eine so offenkundig absurde Aussage, dass ich mir nicht mal die Mühe mache, mit ihm darüber zu streiten. Vor allem da er die Worte nuschelt. Stattdessen tue ich das Einzige, was Ergebnisse erzielen kann. Das Einzige, was ihm zeigt, dass ich völlig damit einverstanden bin. Das Einzige, was er vielleicht glauben kann.
Denn so schwer es für mich auch zu begreifen ist, jetzt, da wir in dieser Höhle sind und nicht mehr draußen in der Sonne, will Hudson einzig aus dem Grund nicht von mir trinken, weil er glaubt, dass ich nicht wirklich will, dass er mein Angebot annimmt. Dass ich mich dazu gezwungen fühle, weil er sterben könnte – obwohl, wenn das der Fall wäre … Was zu Hölle, Hudson Vega?
Egal. Dieser Junge muss wissen, dass ich mich kenne. Wenn er dann immer noch nicht von mir trinken will, obwohl ich meine Einwilligung bekräftige, dann ist das wenigstens sein Pech.
Also ziehe ich das Taschenmesser aus dem Rucksack.
Öffne es.
Mache einen winzigen Schnitt in meinen Zeigefinger – gerade groß genug, dass ein paar Blutstropfen herausquellen.
Und dann warte ich.