NUR HUDSON KANN DREISSIG KILOMETER IN ein nervenaufreibendes Acht-Stunden-Abenteuer verwandeln.
Ich verstehe, dass er den Zickzack eingeschlagen hat, um sicherzugehen, dass wir nicht verfolgt oder aufgespürt werden können, aber trotzdem – ich könnte jetzt glatt in Ohnmacht fallen.
Hudson erklimmt den letzten Berg und vor uns taucht ein weites Tal auf, komplett mit einer belebten Kleinstadt in der Talsohle. Gott sei Dank. Adarie.
Er muss es auch sehen, denn er hält an und setzt mich ab. Ich wanke ein wenig und er zögert nicht mich zu stützen. Ich blicke auf seine Hand, die auf meiner Schulter liegt, und seufze. Plötzlich möchte ich an ihn herantreten, meine Arme um seine Taille legen und mich auf seine Stärke und Wärme stützen. Auf seine Berührung.
Die ganze Zeit habe ich unsere alte Intimität vermisst. Zur Hölle, ich habe Hudson vermisst. Er hat nach unserer Diskussion über Jaxon ausgecheckt und obwohl er wieder mit mir redet, ist diese Freundschaft – diese Nähe – zwischen uns verloren gegangen.
Hätte ich noch Zweifel daran, dass er mich nicht absichtlich ausschließt, wären sie in dem Augenblick ausgeräumt, in dem er meine Aufmerksamkeit auf seiner Hand auf meiner Schulter spürt und sich von mir löst, mehrere Schritte Abstand zwischen uns bringt und so tut, als würde er die Umgebung mustern.
Wie beinahe alles andere in Noromar ist die Stadt lila. Lila Straßen, lila Häuser, lila Gras, lila Menschen.
Und während die Farm – und die Berge, über die wir gerade gestiegen sind – mich darüber ins Bild gesetzt haben, was ich zu erwarten habe, ist es immer noch schwer zu glauben, dass so viel Lila existiert. Besonders, da unsere Kleider alle Farben haben, außer Lila. Es ist, als wäre hier so viel Lila, dass die Menschen mit ihrer Kleiderwahl dagegen rebellieren müssen. Das kann ich verstehen.
Ich merke mir, dass ich jemanden fragen will, wie sie ihre Kleider in anderen Farben einfärben, wo doch auch alle Pflanzen lila zu sein scheinen. Neugier bringt mich dazu, mich wieder an Hudson zu wenden und zu fragen, ob er eine Ahnung hat, aber etwas in der Neigung seiner Augenbrauen lässt mir die Worte in der Kehle ersterben.
»Sie mögen hier wohl wirklich keine Fremden«, sagt er.
Mein Blick folgt seinem und dann werden meine Augen groß.
Da ist eine riesige – und mit »riesig« meine ich verflucht gewaltig – Mauer, die die gesamte Stadt umgibt, mindestens sechs Meter hoch und fast anderthalb Meter dick. Ich weiß nicht, wie mir das nicht sofort auffallen konnte.
Vielleicht weil du zu sehr damit beschäftigt warst, über Hudson nachzudenken, denke ich dann.
Ich hebe das Kinn und blinzle gegen die blendende Sonne an, dann huscht mein Blick über die Mauerränder. Schließlich finde ich, was ich gesucht habe, und deute auf eine ferne Straße, die ich gerade so erkennen kann und die zu einem gewaltigen lila Flügeltor führt. »Vielleicht können wir einfach ›Sesam öffne dich‹ sagen«, witzle ich.
Hudson wendet sich mir mit einem »Was zur Hölle?«-Blick zu und ich zucke zusammen, beiße mir auf die Lippe. Urgh. Manchmal vergesse ich, dass er alle Gutenachtgeschichten verpasst hat, mit denen die meisten Kinder aufwachsen.
»Unwichtig.« Ich beeile mich das Thema zu wechseln. »Was, wenn wir …«
»Warum machst du das?«, unterbricht Hudson mich.
Ich blinzle zu ihm auf. »Was?«
»Annehmen, dass ich dein Mitleid brauche oder will?« Seine Lippen werden schmal.
Ich lehne mich zurück und stemme die Hände in die Hüften. »Was zur Hölle soll das heißen?« Ich empfinde eine Menge Dinge für Hudson Vega und Wut rückt gerade ganz oben auf die Liste, aber das Letzte, was ich für ihn empfinde, ist Mitleid .
»Du weißt genau, was das heißt, Grace«, blafft er. »Jedes Mal, wenn du denkst, du könntest etwas gesagt haben, was mich möglicherweise daran erinnert, dass ich den verfluchten kürzeren Strohhalm im Leben gezogen habe, werden deine Augen ganz weich, als würdest du gleich anfangen zu weinen. Hör verflixt noch mal damit auf, ja?«
Sein Akzent ist so schwer, dass ich nicht anders kann. Ich lächle. Das erste Lächeln, das ich seit gestern fühle.
Was Hudsons Wut nur noch anzufachen scheint, den gemurmelten Flüchen, die ihm von der Zunge rollen, nach zu urteilen. Ich merke, dass er voll in Rage gerät, sich für einen epischen Streit vorbereitet über meine angeblichen Mitleidsblicke, und ich nehme das Angebot beinahe an. Mit Hudson zu streiten wäre definitiv erträglicher als seine Höflichkeit.
Ich will gerade aber nicht streiten.
Ich will tanzen. Ich will herumwirbeln und zum Himmel schreien, weil Hudson Vega immer noch wichtig ist, was ich von ihm halte. Es ist ihm sogar sehr wichtig, wenn das ausgesprochen britisch klingende Verflixt ein Hinweis war.
Bevor er also wieder anfängt mich deswegen anzuschreien, was ich seiner Meinung nach wegen seiner beschissenen Kindheit fühle oder auch nicht, mache ich, was ich befürchtet hatte, er mich vielleicht nie mehr würde tun lassen.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, bis ich meinen zitternden Körper fest an seine harten Kanten pressen kann. Er wird vollkommen ruhig. Ich bin ziemlich sicher, dass er sogar aufhört zu atmen.
Aber das ist okay. Es macht mir nichts, dieses Mal zu ihm zu kommen. Ich habe ihm immerhin auch wehgetan.
Also hole ich tief Luft, lasse meine Kurven die winzigen Lücken und Nischen zwischen uns ausfüllen, lasse meine Weichheit an dem felsigen Gelände seines Schmerzes vorbeifließen.
Dabei atmet er endlich wieder ein. Und mehr braucht es nicht, damit ich endlich tun kann, was ich die ganze Zeit über schon tun wollte. Ich packe ihn, schlinge die Arme um seine Taille, bis meine Fingerspitzen sich berühren. Und drücke zu, bis seine Distanz von vorhin nur noch eine unangenehme Erinnerung ist.
Trotzdem warte ich noch darauf, dass er flieht, dass seine Ungebärdigkeit wieder den Kopf hebt.
Es passiert nichts.
Nachdem ein Atemzug in den nächsten und den nächsten geflossen ist, legt auch er endlich die Arme um mich. Es ist nicht viel, nicht einmal annähernd das, was die leise Stimme in mir sagt, was ich vielleicht eines Tags von ihm wollen könnte. Aber gerade hier und jetzt ist es genug. Mehr noch, es ist genau das, was wir brauchen.
Selbst Smokey muss spüren, dass wir das hier brauchen, denn sie bleibt untypischerweise ruhig.
Wir können nicht hier stehen bleiben und einander halten – auf einer Bergflanke und mit einer Armee im Nacken –, aber ich möchte es gern. Dann versteifen sich Hudsons Schultern und ich lehne mich zurück und will mich beschweren, dass ich noch nicht bereit bin. Ich möchte ihn nur noch etwas länger halten.
Doch unsere Blicke begegnen einander und er schüttelt kurz den Kopf, ich soll nichts sagen. Er entlässt mich nicht aus seiner Umarmung, neigt nur den Kopf, als lausche er auf etwas in der Ferne. Und dann höre auch ich, was er gehört hat, und mein Herz rast los.
Schritte.
Fuck .