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Das nette Mädchen kann auch richtig sauer

Hudson

MEIN KOPF BRINGT MICH UM.

Vampire neigen eigentlich nicht zu seltsamen körperlichen Gebrechen – ein wesentlicher Bestandteil dieser ganzen Unsterblichkeitssache –, aber seit wir in Noromar gelandet sind, mit diesem verfluchten Dauersonnenlicht, hat sich das für mich eindeutig verändert.

Unnötig zu sagen, dass ich nicht gerade begeistert bin. Sogar Smokey ist nicht begeistert, denn sie ist vor zehn Minuten aus dem Fenster gehüpft, um Blumen zu pflücken und mit ein paar Kindern auf dem Platz zu spielen, statt hier in der Dunkelheit mit mir zu hocken.

Ich habe geduscht, nachdem ich von der Bibliothek nach Hause kam, aber es hat nicht geholfen. Und auch nicht, ein Nickerchen zu machen, während ich auf Grace warte.

Sie hat mir eine Nachricht bei Nyaz hinterlassen und gesagt, dass sie lange arbeiten muss. Sie sagte aber nicht, wie lange, also habe ich hier im Grunde in der Dunkelheit herumgelegen – dank der Verdunklungsvorhänge – und versucht die verdammten Kopfschmerzen dazu zu zwingen, sich zu verpissen, bevor sie nach Hause kommt.

Bisher sind sie aber nur schlimmer geworden.

Was für eine Überraschung. Nichts scheint hier so zu funktionieren, wie es soll, in diesem Schattenreich. Einschließlich meiner Beziehung mit Grace.

Von dem Augenblick an, in dem wir den Unterschlupf verließen, veränderten sich die Dinge, entwickelten sich und ich dachte, sie liefen in die richtige Richtung. Doch nach dem Brunch musste ich mir eingestehen, dass ich immer noch nur ihre zweite Wahl war. Und ich möchte nicht mehr die zweite Wahl sein, egal von wem.

Selbst wenn sie anbietet mich wie einen Baum zu besteigen – obwohl es mich fast umgebracht hat, das nicht zuzulassen.

Also sind wir hier. Nicht wo ich sein will, aber dennoch an einem guten Platz. Sicher ein besserer Ort, als ich es je erwartet hätte, während wir festsaßen. Ich kann jeden Tag mit meiner besten Freundin verbringen, die ebenfalls gerne Zeit mit mir verbringt. Wie wunderbar ist das denn?

Ich schlucke den Kloß herunter und denke darüber nach, dass sich all das heute Abend ändern wird.

Heute hat sie ihre Fäden entdeckt … und der einzige, über den sie sich zu freuen schien, war der Gargoylefaden. Beim Verlassen der Bibliothek war sehr offensichtlich, dass sie sich über mich ärgerte, und man muss kein Genie sein, um zu wissen, worüber. Dieser verfluchte blaue Faden.

Frustriert drehe ich mich im Bett herum. Dann bereue ich es sofort, denn es reizt meinen schon schmerzenden Kopf nur noch mehr. Ich habe aber keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn ich kann Schritte am Ende des Flurs hören. Sekunden später weht Zimtduft ins Zimmer.

Grace ist zu Hause.

Und ich bin nicht vorbereitet.

Ich hüpfe aus dem Bett, glätte die Decke und ignoriere, dass sich alles um mich dreht. Das sind nur Kopfschmerzen. Die gehen bald wieder weg.

Die Tür geht auf und Grace kommt herein, gerade als ich die Vorhänge zurückreiße.

Sie ist wieder in Menschengestalt und so wie ihr Haar aus dem Knoten quillt, mit dem sie es zu bändigen versucht, hatte sie einen richtig üblen Nachmittag. Was erklären würde, warum sie zwei Stunden später dran ist als sonst.

»Mieser Tag?«, frage ich. Sie schließt die Tür und lehnt sich erschöpft dagegen.

»So was in der Art.« Dann verengen sich ihre Augen. »Kannst du echt nie ein Shirt hier drin tragen?«

»Äh … tut mir leid. Ich wusste nicht, dass dich das stört.« Ohne den Blick von ihr abzuwenden, nehme ich mir mein Shirt und streife es über. Dann versuche ich es noch mal. »Wie war dein Tag?«

Statt zu antworten, fragt sie: »Wie war dein Tag?«

Es klingt zwar nicht nach einer Fangfrage, fühlt sich aber so an. Doch was soll ich sagen, außer: »Ziemlich gut«, denn das war er, abgesehen davon, dass mein Kopf die meiste Zeit explodieren will und ich denke, dass Grace mein Herz gleich in eine Million Stücke zerquetscht. Zumindest wird dieser Schmerz mich dann von meinem Kopf ablenken.

»Ist das eine Frage?« Ihre Stimme ist leise, trotzdem hallen ihre Worte durch das Zimmer.

»Ich weiß nicht«, entgegne ich ebenso leise. »Ist es?«

Sie antwortet nicht, starrt mich nur mehrere Herzschläge lang an. Gerade als ich die Stille brechen und sie bitten will mich von meinem Elend zu erlösen, geht sie weg. Geht ins Bad und schließt die Tür. Sekunden später geht die Dusche an.

Botschaft angekommen. Sie ist ganz eindeutig sauer wegen des blauen Fadens.

Ich fluche lange und leise und fahre mir dabei mit der Hand durchs Haar. Dann sitze ich auf dem Bettrand und versuche mich damit zu beruhigen, dass ich immer wusste, dass es so laufen könnte. Ich hatte gehofft, sie würde mit der Zeit etwas für mich empfinden. Etwas, auf dem man aufbauen könnte. Da habe ich mich wohl geirrt.

Trotz des flauen Gefühls wegen ihrer offensichtlichen Wut rufe ich bei Nyaz an und bitte ihn einen gegrillten Tago-Käse und ein wenig Obst für Grace raufzuschicken.

Die Minuten verstreichen, während ich ungeduldig darauf warte, dass Grace aus der Dusche kommt, aber sie hat wohl beschlossen sich Zeit zu lassen. Ich kann nur annehmen, dass sie das tut, weil psychologische Kriegsführung funktioniert. Das hat Cyrus mich vor langer Zeit gelehrt.

Kurz denke ich darüber nach, meinen Hintern hier rauszuschleifen. Einfach zu gehen und sie ihrer Laune zu überlassen. Es wäre besser für uns beide, wenn wir ruhig sind während dieses sich zusammenbrauenden Streits worüber auch immer. Ist ja nicht so, als hätte ich das geplant. Außerdem braucht es zwei dafür.

Während ich also hier sitze und auf den Ausbruch warte, in den Grace sich hineinsteigert, werde ich langsam selbst ein wenig wütend.

Gerade als Grace endlich aus dem Bad auftaucht, klopft einer der Kellner mit ihrem gegrillten Käse an die Tür.

»Ich habe dir Abendessen bestellt«, sage ich und stelle den Teller auf den Tisch am Fenster. »Ich dachte, du bist vielleicht hungrig.«

»Was ist mit dir?«, fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Bist du hungrig?«

Da ist es also. Ich widerstehe kaum dem Drang, mir frustriert mit der Hand über das Gesicht zu reiben.

»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß. Beim Gedanken daran zu trinken, wird mir übel. »Bin ich nicht.«

»Bist du nicht?« Sie zieht eine Braue hoch. »Das glaube ich dir nicht.«

Die Worte – und ihre Miene – triggern mich und alle meine Abwehrmechanismen, die ich in meinem langen Leben angesammelt habe, fahren hoch. »Wie bitte?« Meine Stimme klingt kalt genug, um dem Januar in Alaska Konkurrenz zu machen, aber das ist mir scheißegal. »Was meinst du mit, du glaubst mir nicht?«

Und Grace offensichtlich auch, denn sie hebt nur das Kinn und sagt: »Du hast mich schon verstanden.«

»Das habe ich, ja.« Was zur Hölle soll ich denn sonst sagen? Sie ist auf einen Streit aus und plötzlich habe ich keine Energie mehr zuzusehen, wie das, was wir haben, in Rauch aufgeht. Nicht während ich bereits am Boden liege.

Statt ihr also zu antworten, steige ich einfach wieder ins Bett und drehe mich um.

»Ernsthaft?« Ihre Stimme nähert sich einer ganz neuen Oktave. »Du gehst ins Bett, statt mit mir zu reden?«

»Ich weiß nicht«, blaffe ich über die Schulter und sehe, wie sich ihre Augen weiten, weil sie begreift, dass ich unter dieser aufgesetzten Ruhe genauso sauer bin wie sie. »Sag mir, was ich sagen soll, Grace, dann sage ich es.«

»Ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst«, antwortet sie und kommt auf mich zu. »Ich will, dass du aufhörst mich anzulügen.«

»Ich habe dich nie angelogen, Grace.« Ich presse jedes Wort hervor.

»Es geht nicht darum, was du sagst«, entgegnet sie. »Es geht darum, was du nicht sagst, aber hättest sagen sollen.«

Schön. Dann machen wir das jetzt wohl. Ich springe aus dem Bett. Ich werde mich nicht im Liegen streiten. »Müssen wir das wirklich jetzt ausfechten? Ich habe verflixt üble Kopfschmerzen und …«

»Da! Da ist es ja!«, kräht sie und zeigt auf mich, als hätte sie den Streit gerade gewonnen.

»Da ist was ?« Ich schüttle den Kopf. »Warum bin ich ein Lügner und an allem schuld, nur weil ich nicht gesagt habe, was du selbst hättest sehen sollen

Sie zuckt zurück, als hätte ich sie geschlagen, und ich strecke beinahe die Hand aus, um sie zu trösten. Doch da steigt sie wieder in den Ring und führt den nächsten Schlag: »Wieso ist es meine Schuld, wenn ich nicht weiß, wie gut du verbergen kannst, wie schwach du wirst, wenn du nicht trinkst?«

Fuck . Ich hatte ernsthaft nicht gedacht, dass sie sich darüber streiten will. Hätte ich das gewusst, wäre ich aus dem Fenster gestiegen. Doch sie kommt heran und ich weiche zurück, bis ich in der Ecke stehe.

Fast überwältigt mich Erleichterung, weil sie nicht wegen des blauen Fadens wütend ist, aber dann kommt mir ein noch schlimmerer Gedanke und ich kann nicht anders – es macht mich einfach stinksauer. Kann sie den Faden gesehen haben und er ist ihr egal? Geht es ihr nur darum, ob ich trinke ?

»Was denn?«, explodiere ich. »Ist es echt so ein Schock, dass es mir nicht fabelhaft geht in diesem verflixten Sonnenlicht, während ich den ganzen Tag arbeite und dann die ganze Nacht die Verteidigung verstärke? Wir können nichts daran ändern, bis der Drache zurückkommt, also was zur Hölle soll es bringen, wenn ich dir jedes Mal etwas vorjammere, weil ich verfluchte Kopfschmerzen habe?«

»Du brauchst mir nicht jedes Mal Bescheid zu sagen, wenn du Kopfschmerzen hast«, erwidert sie. »Obwohl ich ehrlich nicht weiß, warum du das nicht tun solltest. Es geht darum, dass du leidest und mir das nicht erzählst. Du willst einfach so tun, als wäre alles super, obwohl es das gar nicht ist.«

»Wir haben gerade genug Scheiße am Start – warum muss ich uns da mit noch mehr Zeug runterziehen? Ich möchte dich nicht belasten mit …«

»Du denkst, dass ich nicht belastet werden will «, gibt sie zurück. »Das ist keineswegs das Gleiche.«

»Es ist nichts falsch daran dir nicht noch mehr aufzubürden. Du hast schon so viel, womit du klarkommen …«

»Weißt du, da ist etwas falsch daran«, unterbricht mich Grace. »Wir sind Partner. Oder zumindest dachte ich das.«

Ich weiß nicht viel, aber ich weiß, dass diese Aussage eine Grace-große Falle, ausgelegt mit Neonleuchten, ist, und mein Kopf und mein Herz schmerzen zu sehr, um sie nicht auszulösen. »Was meinst du mit ›dachtest du‹?«

Sie schnauft und stemmt die Hände in die Hüften. »Na endlich. Lass uns endlich über diesen Elefanten in diesem Schlafzimmer reden.«

Ich breite die Arme aus. »Na dann, Grace. Sag mir doch, was hier deiner Meinung nach läuft.«

»Nichts. Nichts läuft hier!« Ihre Augenbrauen ziehen sich anklagend herab. »Und das ist das Problem!«

»Grace, mein Kopf bringt mich um.« Ich fahre mir mit einer Hand durchs Haar und wiederhole meine Forderung von vorhin. »Sag mir einfach, was du von mir hören willst, und ich sage es.«

»Ich möchte wissen, warum du dir lieber diese Schmerzen antust« – ihre Hand wedelt vor meinem Körper auf und ab –, »als von mir zu trinken.« Sie beißt sich auf die Lippe und sofort treten ihr Tränen in die Augen, aber sie hebt das Kinn und hält meinem Blick stand.

»Das habe ich nie gesagt.« Ich hasse es, dass meine Stimme plötzlich zittert.

»Das ist genau der Punkt. Du brauchst es nicht zu sagen. Alles, was du tust, schreit mir das laut und deutlich entgegen.« Sie wischt sich die Augen, dann fügt sie hinzu: »Und da mache ich nicht mehr mit.«