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In Liebe Smokey

Hudson

NACHDEM ICH MICH DIE LETZTEN FÜNF MINUTEN verzweifelt festgeklammert habe, brauche ich ein paar Sekunden, um mein Hirn vom Loslassen zu überzeugen. Als mir das endlich gelingt, hieve ich mich hoch und reiße Lumi den Dolch aus der Scheide.

Ich blick hinab, der Drache nähert sich den Zelten. Es heißt jetzt oder nie, also tue ich, was getan werden muss, und stoße mit dem Dolch eine klaffende Wunde in die Klauen des Drachen.

»Festhalten!«, rufe ich und bin dankbar, dass Lumi mich um die Taille packt, damit ich beide Hände frei habe.

Der Drache schreit vor Schmerz auf und genau in diesem Moment beginnt unser Sturz. Statt aber auszuflippen und davonzufliegen, wie ich es erwartet hatte, rastet sie vollkommen aus und stößt einen Feuerschwall aus, der sich durch jedes einzelne Zelt auf dem Platz brennt. Einschließlich dem, auf dem zu landen ich gehofft hatte. Klar.

»Neuer Plan«, rufe ich Lumi im Fallen zu.

»Es gibt einen Plan?«, schreit er zurück. Über den tosenden Wind kann ich kaum hören.

»Nicht wirklich«, gestehe ich. Lumi hält sich weiter fest und ich drehe mich, so gut es geht, in der Luft. Mein Ziel ist es, zuerst aufzukommen, damit er mich als Kissen benutzen kann. Das ist kein toller Plan und ich weiß, ich werde eine Menge gebrochener Knochen davontragen, aber ich kann ihn nicht einfach sterben lassen.

Nicht der Sturz, sondern der Aufprall, rufe ich mir wieder in Erinnerung, obwohl ich das immer noch für Quatsch halte. Und mache mich bereit zu …

Da plötzlich fliegt Grace mit gefühlten zweihundert Sachen gegen uns. Wir wirbeln durch die Luft, aber sie holt uns sofort ein und schlingt die Arme um mich.

»Mitfluggelegenheit gefällig?«, fragt sie.

»Gesegnet seist du, Grace«, sagt Lumi, der ganz grün im Gesicht ist.

Einen kurzen Augenblick fürchte ich, dass er auf mich kotzt, aber irgendwie gelingt es ihm sich zusammenzureißen, bis wir am Boden sind. Sobald seine Füße das Gras berühren, taumelt er davon und kotzt hinter die nächste Bank.

Nicht dass ich ihm das verdenken kann – es war verflucht eng.

Ist es immer noch, da der Drache in einen Wuttaumel verfallen ist, wie ich noch nie einen gesehen habe. Sie brennt alles nieder, was ihr in die Quere kommt, und ich fürchte, dass am Morgen keine Stadt mehr steht, wenn wir nicht schnell etwas unternehmen.

Das einzig Gute – und gut ist in diesem Fall relativ –, das aus diesem neuesten Wutanfall entsteht, ist, dass sie Grace und mich beim Herumwirbeln erblickt. Und nachdem sie uns gefunden hat, fokussiert sie uns wie eine Wärmesuchrakete und stürzt auf uns zu.

»Flieg!«, schreie ich Grace an, denn das ist unsere beste Chance, sie aus der Stadt zu lotsen und weg von all denen, die hier leben.

»Schon dabei!«, schreit sie zurück und das ist sie, sie wirft sich innerhalb eines Wimpernschlag hinauf in die Luft. Wir müssen den Drachen glauben lassen, dass sie uns fangen kann, denn sie muss an uns dranbleiben und sich kein anderes, leichteres Ziel suchen. Wie den armen Lumi zum Beispiel, der sich jetzt unter der Parkbank zusammenkauert.

Entschlossen dafür zu sorgen, dass der Drache Lumi nicht bemerkt, lege ich noch etwas an Tempo zu. Der Drache reagiert, indem sie einen Flammenstoß nach mir schickt. Es gelingt mir auszuweichen, aber es war unangenehm eng.

Ich entdecke Grace über mir, ihre braunen Augen sind gefährlich schmal. »Ich habe eine Idee«, sagt sie.

»Welche?« Sie vollführt einen ziemlich beeindruckenden Salto in der Luft, dreht sich um und fliegt nah genug an den Drachen heran, um ihre Nase zu berühren, dann dreht sie erneut und fliegt auf die Stadttore zu.

Was den Drachen völlig sauer macht – genau das, was Grace beabsichtigt hat.

Das fliegende Untier dreht durch und macht Tempo, um sie zu schnappen. Grace fliegt auch schneller. Und dann liefern sie sich eine Hochgeschwindigkeitsverfolgungsjagd und ich habe panische Angst, dass sie für Grace übel enden wird.

Dieses Gefühl wird von der Tatsache verstärkt, dass der Drache Grace langsam einholt und dabei einen Feuerstoß nach dem nächsten speit. Grace – deren Flugkünste sich in den letzten Wochen wirklich verbessert haben – dreht sich, duckt sich weg und weicht den Flammen aus.

Zumindest bis ein Flammenstoß die Spitze ihres Flügels erfasst und alles durcheinanderbringt.

Grace schreit und stürzt gen Erde, der Drache ihr dicht auf den Fersen. Sie versucht hochzuziehen, aber der Drache hat entweder wirklich Glück oder wusste genau, wohin sie zielen muss, denn ihr Flügel hat seine Aerodynamik verloren.

Jetzt trudelt sie – direkt auf den Boden zu.

Ich phade, habe schreckliche Angst, dass ich es nicht rechtzeitig schaffe. Besonders, da der Sturz nicht ihr größtes Problem ist. Der Drache holt sie jetzt, da sie die Kontrolle verloren hat, ein und je näher die Kreatur ihr kommt, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass sie Grace ein für alle Mal verbrennen will.

Das werde ich nicht zulassen.

Ich phade mit einem einzigen Gedanken in meinem Kopf auf sie zu – Grace aus der Schusslinie des Drachen bringen. Und als der Drache erneut Feuer speit, so nah an Grace, dass es sie zu Asche verbrennen wird, bleibt mir keine Wahl. Ich springe in die Luft, um es abzufangen, werfe mich zwischen Grace und das Feuer.

Ich drehe mich mitten in der Luft, packe Grace, damit sie nicht zu Boden stürzt, und wappne mich für das Drachenfeuer. Sie ist so nah, dass ich weiß, dass ich es nicht schaffen kann, so nah, dass ich nur beten kann, dass ich Grace abschirmen kann – und es zum Boden schaffe, sie rette, bevor der Drache mich umbringt.

Ich bin jedoch nicht der Einzige mit dieser Idee, denn ich bin noch mitten in der Drehung – als in allerletzter Sekunde Smokey durch die Nacht herangeschossen kommt.

Mir bleibt noch der Bruchteil einer Sekunde, um zu schreien, dass sie zurückbleiben soll, dass sie sich raushalten soll, aber es ist zu spät.

Sie wirft sich zwischen das Drachenfeuer und mich.

Und sie bekommt es voll ab.