125

Küss meinen vorzüglichen Hintern

Grace

»UNSERE RECHNUNG BEGLEICHEN?«, WIEDERHOLE ICH. Ich weiß, was er meint – habe immer gewusst, dass wir ihm etwas schulden –, aber ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt dafür? Während wir blutverschmiert, erschöpft, verängstigt und so traurig sind, dass wir gerade noch einen Fuß vor den anderen setzen können?

Ich verstehe ja, dass Nyaz vielleicht denkt, dass wir die nächsten paar Stunden bis zum Sonnenaufgang möglicherweise nicht überleben – Gott weiß, darum mache ich mir auch Sorgen. Aber trotzdem. Hätte er nicht wenigstens warten können bis wir zumindest geduscht haben?

Das will ich gerade sagen, aber da legt Hudson eine Hand auf meinen Arm und drängt mich mit seinem Blick zur Zurückhaltung. Ich nicke kaum merklich, zum Teil weil ich so müde bin, dass selbst das geringste bisschen Energie aufzubringen zu viel ist, und zum Teil, weil ich mir trotzdem das Recht vorbehalte Nyaz zu sagen, dass er ein paar Stunden ruhig sein soll, ganz egal was Hudson denkt.

Mein Gefährte sieht aus, als könnte ihn die sanfte Brise eines zugeworfenen Kusses von den Füßen fegen, und ich will ihn wirklich dringend auf unser Zimmer bringen. Zugleich aber sieht es nicht aus, als könnten wir Nyaz vertrösten.

Gut. Schön. Dann höre ich mir an, was er zu sagen hat, aber falls es zu lange dauert, bringe ich Hudson unverzüglich hier raus.

Mit einem weiteren fragenden Blick in Hudsons Richtung – bei dem er mir beruhigend mit der Hand über den Rücken streicht – betrete ich das Hinterzimmer von Nyaz.

»Setzt euch, bitte«, sagt er, nachdem er die Tür hinter uns geschlossen hat. Er deutet auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch stehen, dann holt er aus einem kleinen Kühlschrank in der Zimmerecke drei Wasser heraus.

Er reicht Hudson und mir je eins, dann tritt er zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch.

»Danke.« Ich öffne die Wasserflasche und trinke die Hälfte in einem Zug. Drachen zu bekämpfen – und bösartige Bürgermeister – macht durstig.

Hudson tut es mir gleich, nur dass er seine Flasche ganz leert. Dann sieht er Nyaz an. »Was brauchst du?«

Nyaz senkt den Kopf auf eine »Okay, dann kommen wir gleich zur Sache«-Geste. Und sagt: »Ihr wart auf dem Stadtplatz heute Abend nicht so allein, wie ihr dachtet.«

»Wir haben uns mal sicher allein gefühlt«, antworte ich. Denn das habe ich. Da waren nur Hudson, ich und die Troubadoure, die da versuchten die ganze Stadt zu retten. Smokey ist gestorben, Orebon ist gestorben und niemand kam, um uns zu helfen.

Tief in mir weiß ich, dass sich zu verstecken das Beste war, was die Bewohner hatten tun können, während das Chaos und die Zerstörung tobten. Doch ein kleiner Teil von mir fragt sich bitter, warum fünf Leute und eine Umbra – keiner davon aus dieser Stadt – auf sich allein gestellt waren, wo es doch um den Schutz dieser Stadt ging?

»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert Nyaz. »Und das tut mir leid. Aber es geht das Gerücht um, dass der Bürgermeister die Macht eurer beiden Zeitdrachen in sich aufnehmen konnte und Pläne hat, diese Energie zu nutzen, um beim ersten Licht die Grenze zu überschreiten.«

Ich starre ihn an. »Das alles hast du hinter deinem Schreibtisch mitbekommen?«

»Ich bekomme alles mit, was ich mitbekommen muss«, antwortet er.

»Was haben also die Gerüchte über den Bürgermeister mit uns zu tun?«, fragt Hudson.

»Es ist eine schwere Zeit hier in Adarie …«

»So ist das eben mit Drachenangriffen.« Das klingt sarkastischer, als ich wollte, aber ich entschuldige mich nicht. Ich bin frustriert und erschöpft und ich verstehe nicht, warum Nyaz mit uns darüber spricht. Wir waren dabei – wir brauchen keine Zusammenfassung.

Sein Blick ruht auf mir. »So ist es. Aber so ist es auch mit einem Zeitzauberer, der vorhat in seine Welt zurückzukehren und die Zeit zurückzusetzen. Es gibt Leute hier, die nicht wollen, dass ihm das gelingt – mehr Leute, als ihr euch vielleicht vorstellen könnt.«

»Warum ist dir das überhaupt wichtig?«, fragt Hudson. »Es ist unsere Welt und unsere Zeitebene, die total am Arsch sind, falls er es schafft.«

Meine schlimmsten Ängste laut ausgesprochen zu hören lässt mich erschaudern. Hudson nimmt meine Hand, streicht mit den Fingern über meine Knöchel, so wie er das immer tut, wenn er mich beruhigen möchte.

»Genau darüber möchte ich mit euch reden.« Nyaz legt die Fingerspitzen vor sich auf dem Schreibtisch aneinander, sieht uns an. »Es ist mir ziemlich egal, was in eurer Welt passiert. Aber falls Souil Erfolg hat – falls er es dorthin zurückschafft –, wird er nicht nur eure Zeitebene zurücksetzen, sondern auch den Fluch, der alle hier in Noromar einschließt.«

»Ein Fluch?« Ich blicke mit großen Augen zu Hudson, ob er weiß, wovon Nyaz da redet, aber er sieht so verwirrt aus wie ich. Vielleicht sogar noch mehr, was Sinn ergibt, bedenkt man, dass die paranormale Welt von Anfang an zu seinem Leben gehörte. Ich kenne so was vielleicht nicht, aber er? Wie können er und seine Familie nichts von einem verfluchten Schattenreich wissen?

»Ja«, seufzt Nyaz. »Vor vielen Jahren versuchte die Schattenkönigin eine Gottheit zu stürzen …«

»Welche Gottheit?«, unterbricht Hudson ihn.

»Ich weiß nicht. Eine rachsüchtige?« Nyaz zuckt ein wenig mit den Schultern. »Sie versagte und die Gottheit verbannte sie und all ihre Leute in die Schatten.«

»Warum in die Schatten?«, fragt Hudson, der – so wie ich – immer noch versucht das alles zu verstehen.

»Schatten stammen von daher, wo Phantome immer ihre Macht gezogen haben, und es waren diese Mächte, mit der sie diese Gottheit hatten stürzen wollen. Also war die Bestrafung – die der Gottheit wohl passend vorkam, denke ich –, ein Schattenreich zu erschaffen und die Königin hier einzusperren, wo die Mächte, auf die sie immer so stolz gewesen war, dazu dienten sie gefangen zu halten, statt sie zu befreien.«

»Das ist … teuflisch«, sage ich.

Hudson schnaubt. »Dann bist du wohl noch nie einer Gottheit begegnet.«

»Persönlich?«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Äh, nein.«

»Teuflisch zu sein ist so ziemlich ihr Ding.«

»Genau.« Nyaz nickt. »Aber ernsthaft. Ihr beide lebt seit Monaten hier. Habt ihr euch nie gefragt, warum hier alles lila ist und ein wenig anders aussieht, trotzdem aber eurer Welt in Funktion und Form in so vielen Arten sehr ähnlich ist? Das liegt daran, dass die Leute, die in Noromar leben, aus eurer Welt sind. Wir leben jetzt nur in den Schatten dieser Welt, statt in der richtigen Welt.«

»Du meinst, ihr alle seid dazu verdammt, in den Schatten unserer Welt zu leben, ohne je zurückkehren zu können?« Mir wird ein wenig schlecht.

»Das ist die Sache«, sagt Nyaz. »Die meisten von uns wollen nicht zurück. Wir leben seit tausend Jahren hier und wir sind glücklich. Wir haben Familien, Arbeit, eine Gemeinschaft, die wir lieben. Als unsere Vorfahren hier ankamen, hätten sie alles getan, um nach Hause zu können. Doch wir verwandelten das, was ein Gefängnis sein sollte, in ein Paradies. Wir haben Noromar erschaffen – Adarie insbesondere –, haben es zu etwas gemacht, das besser ist als das Paradies. Wir haben es zu unserem Zuhause gemacht. Und jetzt, da die Chance besteht, dass wir zum Gehen gezwungen sein könnten, wollen wir das nicht.«

»Könnt ihr nicht einfach bleiben?«, frage ich. »Euch weigern irgendwohin zu gehen und einfach hier in den Schatten bleiben, einfach eure Leben weiterleben?«

»Das wollen wir. Aber manche erinnern sich an Geschichten aus der alten Welt. Sie sind es müde, so zu leben, wie wir hier leben. Sind es müde, lila Gemüse zu essen, das aus lila Erde wächst, müde, unter einem lila Himmel zu leben.« Er schweigt kurz. »Müde, nur viermal im Jahr einen Sonnenuntergang zu sehen – nur alle drei Monate Dunkelheit zu erleben. Sie wollen nach Hause. Dazu kommt, dass unser Lieblingsfeiertag und zwei Festivals hintereinander von Zeitdrachen attackiert und ruiniert wurden, ist es da ein Wunder, dass manche bereit sind hier endlich abzuhauen? Doch wie passen wir jetzt in die andere Welt? Es ist tausend Jahre her, seit wir dort zuletzt waren. Es ist nicht mehr unser Zuhause. Das hier ist unser Zuhause. Aber da der Bürgermeister jetzt die nötige Macht besitzt, um zwischen den Welten zu wechseln und den Fluch zurückzusetzen, stecken wir alle in echten Schwierigkeiten. Denn er wird nicht nur jede Einzelne und jeden Einzelnen riskieren, die oder der im Schattenreich lebt, er wird auch Noromar selbst aufs Spiel setzen. Das dürfen wir nicht zulassen – das darf nicht passieren mit dem einzigen echten Zuhause, das wir seit einem Jahrtausend kennen.«

Seine Stimme ist lauter geworden als sein normaler, nie bewegter »Ich gehe mit allem locker um«-Tonfall, ist jetzt drängend. Doch überraschenderweise geht mit dieser Dringlichkeit keine Angst einher. Nur eine fieberhafte Entschlossenheit, bei der ich mental einen großen Schritt zurückweiche. Denn mir gefällt nicht, wie er mich anstarrt und was dieser Blick bedeuten könnte.

Hudson muss das auch denken, denn er rutscht mit dem Stuhl ein bisschen näher zu mir. Und hält dem Blick von Nyaz mit seinem eisig blauen stand. Und dann fragt er: »Was willst du uns sagen?«

Nyaz flüstert: »Wir haben eine Geheimwaffe.«

Hudsons Miene wird sofort ausdruckslos. »Mit Geheimwaffe beziehst du dich sicher in keiner Weise auf Grace.«

»Doch.« Zum ersten Mal sieht Nyaz unbehaglich drein. »Grace ist eine Gargoyle. Sie kann den Bürgermeister in Stein verwandeln, ihn für immer hier festsetzen.«