WÄRE ICH NICHT ERSTARRT, WÜRDE ICH vor Schreck ziemlich sicher einfach umkippen.
Denn ja, ich habe darum gebetet, dass sie eine echte Gargoyle ist, aber das heißt ja nicht, dass ich mich nicht trotzdem erschrecke, weil sie wirklich mit mir spricht.
»Ich habe mich schon gefragt, weshalb du so lange brauchst«, sagt sie und klingt eine Million Mal selbstbewusster, als ich mich fühle.
»Hallo?«, frage ich zögerlich, um sicherzugehen, dass ich nicht manifestiere, was ich hören möchte.
»Artelya«, sagt sie.
»Ähm … schön dich kennenzulernen, Artelya.« Sie klingt so tough, dass ich noch mehr ausflippe. Ich räuspere mich. »Es tut mir leid, ich kann nur nicht glauben, dass ich mit einer anderen Gargoyle rede.«
»Ich habe Hörner und bin aus Stein, also lasse ich heute wohl Träume wahr werden.«
»Oh, klar. Ich glaube …«
»Entspann dich.« Sie lacht. »Ich mache nur Witze, Grace.«
»Du kennst meinen Namen?«
»Natürlich«, sagt sie. »Ich höre dich, seit du in Adarie bist. Ich habe denen, die in all den Jahren an mir vorbeilaufen, keine große Beachtung geschenkt, da wir sozusagen in Stasis verfallen, wenn wir zu lange verschanzt sind …«
Ich unterbreche sie. »Verschanzt?«
»Ja. Unsere feste Steingestalt …« Sie verstummt, tritt vor und plötzlich scheint der Nebel um uns herum zu verschwinden. Sie ist groß und muskulös, mit dunklen Locken und dunkler Haut. Sie trägt einen gewaltigen Schild und ein Schwert und ja, diese Frau sieht aus, als könne sie allein alle Drachen erschlagen. »Hat dich niemand ausgebildet?«
»Nope«, antworte ich. »Du bist die erste Gargoyle, der ich je begegnet bin.«
»Die erste Gargoyle?« Sie klingt entsetzt. »Wovon redest du da? Es gibt Zehntausende von uns. Wie kannst du da noch keine gefunden haben? Sicher, ich bin seit einer Weile nicht in meiner Welt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dich einfach dir selbst überlassen würden. So sind Gargoyles nicht.«
»Ich glaube nicht, dass sie von mir wussten«, beeile ich mich zu erklären. »Ich habe das auch erst in Noromar herausgefunden.«
»Das ist unmöglich. Gargoyles kommunizieren …« Sie schüttelt den Kopf, als müsse sie ihn frei bekommen. »Ich verstehe das nicht. Wie kann sich alles so sehr verändert haben, während ich hier war?«
Ich sehe mich um und begreife, dass wir nicht mehr in Adarie sind. Wir stehen auf einer Klippe über einem tosenden, graugrünen Meer. Der Himmel über uns ist strahlend blau mit riesigen, fluffigen Wolken und das Gras, auf dem wir stehen, ist von absolut überwältigendem Grün.
Ich will sie fragen, wo wir sind, aber dafür ist keine Zeit. Es gibt zu viel zu tun.
Statt also zu fragen, wo dieser vielleicht schönste Ort ist, den ich je gesehen habe, beantworte ich einfach ihre Frage. »Ich glaube, es liegt vielleicht daran, dass du wirklich richtig lange hier warst.«
»Wie lange?«, fragt sie drängend, ihre dunklen Augen glühen mit einem inneren Feuer, das sich durch mich hindurchbrennt. »Welches Jahr haben wir?«
Bei meiner Antwort wird sie blass.
»Bist du sicher? Ist es wirklich so lange?«
Sie wendet sich ab und blickt über das Feld, wo ein großer Drache – und mit »groß« meine ich, dass sie die letzte, die wir umgebracht haben, aussehen lässt wie die kleine Schwester – an den Boden gekettet und glücklicherweise ruhig ist. Ihr gewaltiger grüner Kopf liegt auf einem langen, stachligen Schwanz, der sich um ihren schwertransportergroßen Körper schlingt. Ihre mächtigen Atemzüge durch geweitete Nüstern beugen das Gras bei jedem Ausatmen.
Bevor ich antworten kann, seufzt Artelya, schließt die Augen, als konzentriere sie sich sehr auf etwas, dann murmelt sie endlich: »Gut, verdammt. Ich dachte, wenn ich mich mit dem Drachen verschanze, würde ich vielleicht ewig mit ihr festsitzen, aber das hatte ich nicht erwartet.«
»Ewig ist eine lange Zeit.«
»Ja, ist es.« Sie seufzt wieder, dann wendet sie sich mir mit einem abschätzenden Ausdruck in den Augen zu. »Aber du bist nicht gekommen, um mit mir über alte Geschichten zu reden, oder?«
»Tatsächlich doch. Wir haben ein großes Problem und ich habe gehofft, dass du und der Zeitdrache uns helfen könnt.«
»Dieser Zeitdrache?« Artelya lacht und nickt zu dem Biest. »Asuga ist nicht gerade das, was ich hilfsbereit nennen würde.«
»Sie heißt Asuga?«, wiederhole ich. »Das ist hübsch.«
»Ja, ist es. Zu blöd, dass ›hübsch‹ ihre … Persönlichkeit nicht ganz erfasst, sagen wir es so?«
»Ja, ich habe schon mitbekommen, dass Zeitdrachen nicht gerade die Nettesten sind.«
Sie schnaubt, dann legt sie sich das Schwert über die Schulter. »Das ist eine höfliche Art, um auszudrücken, dass es Arschlöcher sind, oder?«
Ich lache, weil sie so gar nicht ist, wie ich erwartet hatte. Trotzdem mag ich sie sehr.
»Na, dieser Drache ist der schlimmste von ihnen – vor allem, nachdem sie die ganze Zeit mit mir angekettet war. Sie hat gegen ihre Natur ankämpfen müssen und ich muss leider sagen, dass sie etwas tollwütig geworden ist. Selbst wenn sie hilfsbereit wäre, ist sie im Moment nichts als Instinkt und Hunger. Deshalb muss sie angekettet bleiben.«
Wir starren beide zu dem großen Biest und ich kann nicht verhindern, dass Betroffenheit in meiner Brust flattert. Sie hat ebenso wenig darum gebeten, hier zu sein, wie wir.
»Also«, sagt Artelya, gerade als ein kalter Wind aufkommt. »Du hast ein Problem, zu dessen Lösung nur ein Zeitdrache beitragen kann?«
»Ja.« Ich seufze. »Aber ich wünschte wirklich, es wäre anders.«
Sie hebt eine Braue. »Da du hier bist – und mit ›hier‹ meine ich Noromar –, lehne ich mich mal aus dem Fenster und frage, ob das Problem etwas mit einem Mann namens Souil zu tun hat?«
Ich stöhne auf und dann platze ich einfach mit der Geschichte heraus. Ich erzähle von Souils Zeit als Bürgermeister, wie er Adarie in einen Zufluchtsort verwandelt hat, um Besucher anzulocken in der Hoffnung, weitere Zeitdrachen zu finden, deren Energie er ihnen entziehen kann, dass er bei Sonnenaufgang die Grenze überschreiten will und die Zeitachse der letzten tausend Jahre zerstören wird. Alles.
Nachdem ich geendet habe, hole ich tief Luft und warte auf ihre Reaktion. Es dauert nicht lange.
»Jeez. Man sollte meinen, dass er nach so vielen Jahren etwas gelernt hätte.« Artelya verzieht missvergnügt das Gesicht.
»Oh, er hat vieles gelernt«, antworte ich. »Aber nichts Gutes.«
»Das glaube ich.«
»Du stimmst mir aber zu, richtig? Er darf nicht über die Grenze zurück auf unsere Seite. Wenn er das tut …«
»Wenn er das tut, bricht die Hölle aus«, beendet sie den Satz. »Ja, ich stimme dir da voll und ganz zu, das dürfen wir nicht zulassen.«
»Gott sei Dank.« Zum ersten Mal, seit ich zugesehen habe, wie Souil diesen Drachen absorbiert hat, habe ich das Gefühl, als hätten wir vielleicht etwas Hoffnung.
»Leider kann ich nicht zulassen, dass Asuga den Zauberer mit Drachenfeuer tötet.«
»Aber wieso?«, keuche ich.
»Weil alles, was von Drachenfeuer berührt wird, aus der Zeit kauterisiert wird.«
»Das sagte er mal, aber ich weiß nicht genau, was das heißen soll, außer dass das Arschloch stirbt – womit ich völlig einverstanden bin«, sage ich.
Artelya schüttelt den Kopf, geht näher an den Drachen heran. Ich folge ihr. »Es bedeutet, es wäre, als wäre er nie in Adarie gewesen. Diese Stadt hat nicht existiert, bevor Souil und ich ankamen. Tatsächlich wuchs sie um mich herum. Ich glaube, Souil erbaute sie für den Fall, dass ich den Drachen je freiließe, damit er in der Nähe wäre. Wenn Drachenfeuer ihn verschlingt … wird Adarie verschwinden und alle Bewohner werden andere Leben führen – falls sie überhaupt geboren werden.«
Meine Augen werden groß, weil ich an all die Freundschaften denke, die wir in Adarie geschlossen haben, alle Stadtbewohner, die ihr Zuhause dort aufgebaut haben. Dann kommt mir ein Gedanke. »Aber du wirst immer noch hier sein. Wirst du nicht ausreichen die Zeitebene zu erhalten, wenn die Stadt auch um dich herum erbaut wurde?«
Ich halte die Luft an, meine Brust wird eng beim Gedanken daran, dass so viele Leben zerstört würden. Wir können ihre Zeitebenen nicht aufs Spiel setzen, nur um meine zu retten.
»Ich glaube, du begreifst nicht, was geschieht, wenn ich Asuga freilasse«, sagt Artelya und was immer sie als Nächstes sagen wird – wird mir ganz sicher nicht gefallen.
»So übel?«, frage ich.
Sie schlägt mir kräftig auf den Rücken. Das ist nicht ganz der Trost, den ich erwartet hatte, aber ich nehme ihn – besonders von ihr. Denn sie scheint mir wie der Typ Frau, der keinen falschen Trost spendet.
Und dann sagt sie: »Der Drachenatem ist schon über mir. In dem Augenblick, in dem ich sie befreie – werde ich auch durch das Drachenfeuer sterben.«