»Okay, verstanden«, erwiderte Charlene. »Weißt du mit Sicherheit, dass er dort einen Wagen stehen hat? Das Parkhaus könnte ja auch mit einem anderen Gebäude verbunden sein oder so.«
Gertie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass er mit dem kleinen Jungen da reingegangen ist. Ich nehme an, er hat ein Auto.«
»Dann warten wir. Wir können warten. Das ist kein Problem. Er fährt hier direkt vor uns raus, wir können sein Fahrzeug beschreiben, hoffentlich auch das Nummernschild lesen und die Info an die Polizei weitergeben. Das ist leicht.«
»Und dann folgen wir ihm«, fügte Gertie hinzu.
»Na gut. Ja. Natürlich. Wir folgen ihnen aus sicherer Entfernung.«
»Es sei denn, du musst den Wagen von der Straße rammen.«
»Ich bin für die unangebrachten Witze zuständig«, mahnte Charlene.
»Das war kein Witz. Falls wir ihn davon abhalten müssen, zu entkommen, musst du seinen Wagen eventuell von der Straße drängen.« Gertie schnallte sich an. »Keine Sorge, das wäre nur die letzte Option. Und die heben auch deinen Versicherungsbeitrag nicht an, wenn du sowas machst, um ein
Kind zu retten.«
»Über meine Versicherung mache ich mir keine Sorgen. Aber übers Sterben.«
»Wir werden nicht draufgehen.«
»Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Scheiße.« Charlene atmete tief durch. »Okay, ich bin jetzt ganz konzentriert. Der Hurensohn wird nicht davonkommen. Aber versprich mir, dass du nicht anfängst, aus dem Fenster zu ballern oder sowas.«
»Mach ich nicht.«
»Schwöre es mir. Ich will nicht, dass du im Eifer des Gefechts das Feuer eröffnest und aus Versehen ein unschuldiges kleines Kind umbringst. Wenn sie uns entkommen, dann entkommen sie uns eben. Keine Schießerei.«
»Ich werde nicht auf das Kind schießen.«
»Mir geht es doch darum, dass du vielleicht versuchst, die Reifen zu zerschießen, aber stattdessen das Kind triffst. Wir folgen ihnen. Aber fang du nicht an zu ballern. Wirf deine Knarre lieber auf den Rücksitz.«
Die Schranke hob sich und ein silberner Wagen kam aus dem Parkhaus. Charlene sah die Ballons auf der Rückbank schweben.
»Das sind sie, das sind sie!«, rief Gertie. Sie hielt sich das Handy ans Ohr. »Es ist ein silbernes Auto. Zweitürig. Ich weiß nicht, welches Modell … nein, warten Sie, er dreht jetzt. Da ist ein Chevrolet-Logo hinten. Kein Nummernschild.« Sie wedelte mit der Hand in Charlenes Richtung. »Fahr los, fahr los!«
Charlene fuhr wieder an und folgte dem silbernen Wagen. Der fuhr mit einem Tempo von 35 Meilen, hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Es würde womöglich doch nicht so schlimm werden.
»Wir fahren nach Osten«, sprach Gertie in ihr Telefon. »Sind gerade an der 12th Street vorbei.«
Der Wagen hielt an einer roten Ampel. Charlene hielt direkt
hinter ihm.
Ahnte der Kerl schon, dass er verfolgt wurde? Was würde er tun, wenn er es bemerkte?
»Wir sind direkt hinter ihm«, sagte Gertie.
Charlene wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Achseln waren nass. Vielleicht sollte Gertie doch lieber die Reifen plattschießen. Der Wagen bewegte sich immerhin gerade nicht.
Nein, nein, nein, nein, nein. Der Typ würde womöglich auf sie losgehen. Oder dem Kind etwas antun. Das war eine erstaunlich dumme Idee, und Charlene war froh, sie nicht laut geäußert zu haben. Gertie hatte bisher nicht nach ihrer Waffe gegriffen, also war ihr die erstaunlich dumme Idee wohl selbst noch nicht gekommen.
Die Ampel wurde grün, und der Wagen fuhr über die Kreuzung. Charlene folgte ihm.
»Lass ihm ein bisschen Vorsprung«, schlug Gertie vor. »Wir wollen ja nicht, dass er weiß, dass wir ihn verfolgen.«
»Wie weit ist die Polizei noch entfernt?«
Gertie stellte dieselbe Frage der Person, mit der sie am Telefon sprach. Einen Augenblick später sah sie Charlene an. »Sie sind auf dem Weg. Sollte nicht mehr lange dauern.«
Eine Sirene erklang in der Ferne.
Gertie lächelte. »Gar nicht mehr lange.«
Der silberne Wagen beschleunigte, raste davon und fuhr über Gelb.
»Scheiße!«, schimpfte Charlene.
»Er haut ab!«
»Das sehe ich auch!«
»Hinterher!«
Charlene trat das Gaspedal durch. Die Ampel war jetzt rot, und sie zog die Schultern ein, als sie über die Kreuzung raste. Sie rechnete fest damit, dass ein anderer Wagen sie seitlich
treffen würde. Zu ihrem Glück war der große LKW, der sie zusammenfalten könnte, noch einen halben Block entfernt.
»Lass ihn nicht entwischen«, drängte Gertie.
»Ich werde ihn nicht rammen.«
»Ich habe nicht gesagt, du sollst ihn rammen. Ich sage nur, du sollst ihn nicht entwischen lassen.«
»Scheiße.«
Die Sirenen kamen näher. Spezialisten würden jeden Moment übernehmen, dann konnte Charlene irgendwo anhalten, um sich zu übergeben und eine Weile zitternd dazusitzen.
Der silberne Wagen fuhr bei der nächsten Ampel über Rot. Charlene hinterher.
Dann fuhr er rechts ran und stieg voll in die Eisen. Die Reifen quietschten, Qualm stieg in die Luft. Der Mann stürzte aus dem Auto und hastete zur Beifahrerseite hinüber.
»Langsamer, fahr langsam!«, rief Gertie. »Vielleicht rennt er nur vor den Sirenen davon, nicht vor uns. Wir sind einfach nur irgendein Auto.«
Charlene trat auf die Bremse, allerdings nicht kräftig genug, um auch ihre Reifen zum Quietschen zu bringen. Ihre Hände schwitzten so stark, dass sie fast vom Lenkrad abgerutscht wären.
Der Mann riss die Beifahrertür auf. Er streckte die Hände aus, hob den kleinen Jungen heraus und rannte davon. Die Türen ließ er offenstehen. Er drehte sich auch nicht zu Charlenes Wagen um. Als sie hinter dem verlassenen Wagen anhielt, rannte er gerade in eine Gasse hinein.
Die Sirenen klangen jetzt ganz nah. Die Bullen würden den Kerl auf jeden Fall kriegen.
Ohne sich abzusprechen, öffneten Charlene und Gertie gleichzeitig ihre Türen, stiegen schnell aus und rannten ihm hinterher.
Der Mann stolperte und stürzte. Der kleine Junge schrie auf, als sein Vater auf ihm landete. Panisch kam der Mann wieder auf die Beine, packte die Hand seines Sohnes und zog ihn auf die Füße. Er fuhr herum und sah Charlene und Gertie am Eingang zur Gasse stehen.
»Verdammt, er ist mein Sohn!«, heulte er in ihre Richtung.
Charlene machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, dass Sie ihn lieben. Lassen Sie ihn einfach gehen, okay? Die Cops sind fast da. Es ist vorbei.«
Der Mann langte mit der Hand hinter seinen Rücken.
Der hat eine Knarre, der hat eine Knarre, der hat eine Knarre,
dachte Charlene.
Er hatte tatsächlich eine Knarre. Der Mann zog seinen Sohn nah an sich heran und drückte ihm die Waffe an den Kopf.
Charlene unterdrückte einen Aufschrei.
»Ich werde es tun!«, warnte der Mann sie. »Ich bringe uns beide um, bevor ich zulasse, dass sie ihn mir wieder wegnehmen!«
Charlene hatte absolut keinen Schimmer, was sie jetzt tun sollte. Sie war nicht ausgebildet, solche Verhandlungen zu führen. Sie könnte die Sache völlig vermasseln, wenn sie jetzt das Falsche sagte. Sie wollte gern glauben, dass der Kerl nur bluffte, dass er nie in Betracht ziehen würde, seinen eigenen Sohn und dann sich selbst umzubringen, und dass es reichte, wenn sie und Gertie hier stehen blieben, bis die Bullen übernahmen. Aber der Mann sah verdammt nochmal nicht aus, als würde er bluffen. Er sah aus, als wäre er absolut dazu bereit, abzudrücken.
Der Junge weinte.
»Sie machen ihm Angst«, stellte Charlene fest. War es dumm gewesen, das zu sagen? Sie war sich nicht sicher.
Sie warf Gertie einen Blick zu und hoffte verzweifelt, dass diese nicht auch ihre Waffe ziehen würde. Gertie stand reglos
da und beobachtete den Mann voller Entsetzen. Falls sie vorhatte, auf ihn zu schießen, ließ sie es sich absolut nicht anmerken, dass sie es vorhatte.
»Das ist doch totaler Scheiß«, sagte Charlene zu dem Mann. »Ganz egal, wie schlimm die Dinge in Ihrem Leben stehen, und ich sehe Ihnen an, dass es echt schlimm steht, auf diese Art lässt sich das nicht lösen. Das verstehen Sie doch, oder?«
Klang sie jetzt überheblich? Sie wollte dem Mann nicht das Gefühl geben, dass sie herablassend mit ihm sprach. Wenn er seinem Sohn das Hirn wegpustete, wäre das dann ihre Schuld? Was zur Hölle sollte sie ihm bloß sagen?
»Er geht nicht zu ihr zurück«, sagte der Mann. Tränen strömten ihm jetzt übers Gesicht.
Er redete immerhin noch. Das war gut. Sie musste ihn dazu bringen, weiter mit ihr zu reden, bis die Cops einen Scharfschützen oder etwas in der Art vor Ort hatten.
»Ich werde nicht so tun, als hätte ich irgendein Mitspracherecht«, erklärte Charlene. Was für eine dumme Aussage. Natürlich hatte sie nichts mitzureden. Wieso sollte er auch annehmen, sie hätte etwas zu sagen. »Wir waren wegen etwas anderem hier unterwegs. Wir sind nur zufällige Beobachterinnen, die in die Sache hineingeraten sind. Aber ich kann Ihnen sagen, von außen sieht das alles ziemlich verfahren aus. Kommen Sie, legen Sie die Waffe weg. Sie müssen ihn ja nicht gehen lassen, aber nehmen Sie wenigstens die Waffe runter.«
»Es gibt keinen Ausweg«, erwiderte der Mann. »Wenn die Bullen auftauchen, nehmen sie mir meinen Sohn weg, und ich gehe in den Knast. Und jetzt erklären Sie mir, wieso das kein Katastrophenszenario für mich ist!«
Sollte sie ihn vielleicht fragen, wie er hieß? Wäre das nicht die Vorgehensweise einer professionellen Unterhändlerin? Zu versuchen, eine persönliche Verbindung herzustellen?
Gertie kratzte sich am Arm. Vielleicht juckte es sie dort, oder aber sie hatte vor, ihre Waffe zu ziehen. Charlene neigte den Kopf ganz leicht in Gerties Richtung und versuchte ein Kopfschütteln anzudeuten, nur soweit, um ihr unterschwellig zu vermitteln, die Waffe stecken zu lassen.
Gertie senkte die Hand. Entweder hatte das Jucken aufgehört, oder sie hatte die Botschaft verstanden.
Charlene wandte sich wieder dem Mann zu. Er hatte völlig recht, dass der Knast die bestmögliche Option für ihn darstellte. Ihm etwas anderes erzählen zu wollen wäre eine dreiste Lüge. Es sei denn …
»Lassen Sie den Jungen los und rennen Sie weg«, schlug sie vor. »Sie können entkommen, wenn sie wegen ihm nicht langsam laufen müssen.«
Der Mann stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Ich kann doch nicht ohne Weiteres vor den Bullen wegrennen! Die kommen mit Hubschraubern und sowas! Meine einzige Hoffnung bestand darin, aus der Stadt zu verschwinden, bevor sie Straßensperren errichten, und der Plan ist voll in die Hose gegangen!«
»Na schön. Dann gehen Sie also bestenfalls ins Gefängnis. Das ist immer noch besser, als Ihren Sohn zu ermorden und sich dann selbst umzubringen.«
»Besser für wen?«
»Für Sie und Ihren Sohn! Herr im Himmel, wieso können Sie das denn nicht einsehen?« Sie hoffte, dass ihre Stimmlage ihn nicht ausflippen ließ.
Der Mann erwiderte etwas, doch er sagte es ganz leise, und Charlene konnte es über den Lärm der Sirenen und das Schluchzen des Kindes nicht verstehen. Plötzlich verstummten die Sirenen, und sie sah die blau und rot aufblitzenden Lichter, die von den Ziegelwänden in der Gasse zurückgeworfen wurden.
»Sagen Sie denen, die sollen wegbleiben!«, brüllte der Mann. »Ich erschieße ihn! Wenn ich auch nur den Schatten eines Bullen sehe, drücke ich ab!«
Gertie drehte sich um und wedelte mit den Armen. »Bleiben Sie zurück!«, rief sie laut. »Bitte, kommen Sie nicht näher!«
»Ich meine es ernst! Glauben Sie nicht, ich würde das nicht tun!« Speichel spritzte von den Lippen des Mannes. Er drückte dem Jungen die Waffe so fest gegen den Kopf, dass es aussah, als könne er dem Kleinen versehentlich das Genick brechen.
»Er meint es ernst!«, rief Gertie den Polizisten zu.
»Keinem von Ihnen beiden muss etwas geschehen«, sagte Charlene. »Lassen Sie ihn gehen. Stellen Sie sich den Beamten. Lassen Sie nicht zu, dass die Sache ein endgültiges, schlimmes Ende nimmt.«
Er hatte den Jungen noch nicht erschossen. Das bedeutete, dass er ihn auch nicht erschießen wollte. Aber wenn die Bullen Gerties Warnung missachteten, würde er es wahrscheinlich tun.
»Sie wird ihn nicht bekommen«, sagte der Mann.
Charlene hörte einen Aufruhr vor der Gasse. Sie wusste nicht, wie die Behörden in einem solchen Fall vorgingen, doch sie glaubte dem Mann, dass er abdrücken würde, sobald er einen Polizisten zu Gesicht bekam. Hatten die Cops das auch verstanden? Die Geschäftigkeit direkt außerhalb ihres Blickfeldes machte sie verdammt nervös.
»Kann meine Freundin mit denen reden?«, bat Charlene den Mann. »Um ihnen klarzumachen, wie ernst es Ihnen ist?«
Der Mann nickte. »Sie ist keine Geisel.«
Charlene wandte sich an Gertie. »Lass nicht zu, dass die hierherkommen.«
Gertie eilte aus der Gasse.
»Die werden Sie nicht mit einem Überraschungsangriff erledigen«, versprach Charlene. »Sie sollten Ihren Sohn jetzt
gehen lassen.«
»Nein.«
»Wie heißt er?«
»Geht Sie einen Scheißdreck an.« Ihm lief Schnodder aus der Nase und über die Lippen, doch er hatte keine Hand frei, um ihn wegzuwischen.
Vielleicht war es an der Zeit für eine fette Lüge. »Mein Vater ist Anwalt«, sagte Charlene. »Und zwar ein ganz fantastischer. Wenn Sie ihn gehen lassen und sich widerstandslos der Polizei ergeben, dann verspreche ich Ihnen, dass Sie den bestmöglichen Deal bekommen, kostenlos. Er ist gut. Er wird das Problem nicht aus der Welt schaffen können, aber er kann es minimieren.«
»Echt?«
»Ja.«
Einen kurzen Moment lang glaubte Charlene, sie hätte dem Mann seinen Mord-Selbstmord-Plan tatsächlich ausgeredet, doch der schüttelte jetzt den Kopf. »Die Gerichtsverhandlungen habe ich doch längst hinter mir. Sie haben ihn mir schon vor dieser Sache hier weggenommen. Und wenn Ihr Vater Atticus Finch wäre, er könnte das trotzdem nicht wieder gerade biegen.«
Atticus Finch hatte den Fall verloren, für den er berühmt war, doch das war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, auf diesen Fehler in der literarischen Argumentation des Mannes hinzuweisen.
Charlene fragte sich, was die Cops inzwischen machten. Positionierten die einen Scharfschützen? Warteten sie ungeduldig darauf, dass sie ihn überredete, nicht abzudrücken? Wie zur Hölle war sie bloß in diese Situation geraten? Sie war Kellnerin in einem Restaurant!
Sie hatte keinen Schimmer, welche Taktik sie als Nächstes versuchen sollte. Umgekehrte Psychologie? Ihm einen
sexuellen Gefallen anbieten? Einfach weggehen und es den Leuten, die sich damit auskannten, überlassen, eine Lösung zu finden? Versuchen, ihn zu entwaffnen?
Vielleicht war diese letzte Idee gar nicht so schlecht. Sie würde selbstverständlich nicht auf ihn losgehen und ihn zu Boden ringen, aber wenn sie sich langsam und vorsichtig nähern könnte …
»Darf ich zu Ihnen rüberkommen?«, bat sie.
»Warum?«
»Weil ich Ihnen gern in die Augen sehen würde, während wir reden, und die Cops werden wohl nicht auf Sie schießen, wenn ich direkt vor Ihnen stehe.«
»Ja, machen Sie das«, stimmte er zu. »Aber bleiben Sie stehen, wenn ich es Ihnen sage.«
Charlene ging langsam auf ihn zu, zeigte ihm dabei ihre Hände, damit er sah, dass sie keine Waffe trug und ihm nichts tun wollte. Sie hatte nicht die Absicht, irgendwelche schnellen Bewegungen zu machen, also war theoretisch das Schlimmste, was passieren konnte, dass sie aus nächster Nähe mit ansehen müsste, wie er seinem Sohn in den Kopf schoss. Das wäre ziemlich schlimm, doch wenn sie näher an ihn herankam, konnte sie ihn vielleicht auch überreden, ihr die Waffe zu geben.
»Das ist nah genug«, befand er, als sie nur noch einen guten Meter von ihm entfernt war.
Sie blieb stehen.
»Darf ich eine vermessene Feststellung machen?«, fragte sie.
»Von mir aus.«
»Die Tatsache, dass Sie mich Ihnen so nahekommen ließen, bedeutet, dass Sie eine friedliche Lösung für diese Situation wollen. Wieso sollten Sie sich die Mühe machen, meiner Bitte zu entsprechen, wenn Sie der Meinung wären, dass es keinen
anderen Ausweg gibt? Und da wir nun also festgestellt haben, dass Sie eigentlich niemanden umbringen möchten, auch nicht sich selbst, wieso nehmen Sie nicht endlich die Waffe herunter?«
»Ich werde ihn nie wiedersehen.«
»Nehmen wir mal an, das wäre so, auch wenn ich nicht glaube, dass es so kommen muss. Wäre das ein Grund, ihn umzubringen? Sie hätten doch trotzdem verloren.«
»Und seine Mutter hätte ebenfalls verloren. Ich lasse nicht zu, dass sie glaubt, sie hätte gewonnen. Ich lasse nicht zu, dass sie mich auslacht.«
»Was auch immer Sie für Probleme mit seiner Mutter haben, dafür kann er nichts. Er ist Ihr Sohn, um Himmels Willen! Ich muss ihn nur ansehen und weiß, dass er ein kluger Junge ist. Warum wollen Sie sein Leben beenden? Wer weiß, was aus ihm einmal werden könnte? Wer weiß, was er alles erreichen, was er der Welt geben könnte? Sie rauben ihm dadurch nicht nur sein Leben, Sie enthalten auch mir seine Zukunft vor, mit allem, was er Gutes tun könnte.«
Wurde das jetzt zu schmalzig? Sie hatte das Gefühl, dass sie gefährlich nahe am Kitsch vorbeigeschrammt war, wenn sie die Grenze nicht schon längst überschritten hatte. Sie wollte nicht, dass der Mann sagte: »Oh, bitte verschonen Sie mich damit!« und zu schießen begann.
»Ich will ihn nicht umbringen«, sagte der Mann und klang dabei gänzlich gebrochen. Sie hätte ihn nicht verstanden, wenn sie nicht noch nähergekommen wäre.
»Gut! Dann tun Sie es auch nicht!«
Seine Hand zitterte ein wenig. Das konnte bedeuten, dass er in Betracht zog, die Waffe herunterzunehmen. Es konnte aber auch bedeuten, dass er sich bereitmachte, abzudrücken.
»Wie heißen Sie?«, fragte Charlene.
»Lee.«
»Hi, Lee. Wie wäre es, wenn Sie mir die Waffe geben? Das würde mir echt den Tag retten. Wir haben doch schon festgestellt, dass Sie das hier nicht wirklich tun wollen, also wozu es unnötig in die Länge ziehen? Jede weitere Sekunde macht es schwieriger, eine Lösung zu finden.«
»Wenn ich ihn gehen lasse, nehmen Sie dann seinen Platz ein?«
»Wie bitte?«
»Ich werde ihn gehen lassen, wenn Sie meine Geisel werden, damit ich hier rauskomme.«
Scheiße, nein,
dachte Charlene. Auf gar keinen Fall. Keine Chance. Ich will, dass der Junge überlebt, aber ich werde mich nicht für ihn opfern. Das ist doch Irrsinn.
»Das kann ich nicht machen«, sagte Charlene und fühlte sich wie ein feiges, egoistisches Ungeheuer.
»Ich werde Ihnen nichts tun. Die werden bloß denken, ich könnte Ihnen etwas antun. Ich werde Sie gehenlassen, sobald wir denen entwischt sind.«
»Das … das funktioniert so nicht für mich.«
Der kleine Junge sah sie an, und obwohl Charlene Kinder ehrlich gesagt nicht besonders mochte, brach ihr sein Gesichtsausdruck das Herz. Wie viele Psychologen waren nötig, das Hirn dieses Kindes wieder in Ordnung zu bringen, wenn das hier vorbei war? Die Gesellschaft konnte von Glück reden, wenn er später keine Frauen direkt von der Straße wegfing wie der andere Psycho.
»Also gut«, sagte Lee.
Charlene wusste nicht genau, ob er damit meinte: Also gut, dann schätze ich, dass ich ihn jetzt töten muss,
aber plötzlich entschied sie, dass sie dieses Risiko nicht eingehen konnte. »Okay«, gab sie sich geschlagen. »Ich mache es. Ich tausche mit ihm den Platz. Scheiße.«
»Kommen Sie näher.«
Einen Moment lang konnte Charlene ihre Beine nicht dazu bewegen, ihr zu gehorchen. Diese waren offensichtlich klüger als sie. Aber dann zwang sie sich, zu Lee und dem Jungen hinüber zu gehen. Sie verfluchte ihre Dummheit, die sie in diesen Schlamassel gebracht hatte. Und ja, sie verfluchte auch diese Schlampe Gertie, die sie hier mit hineingezogen hatte. Gott, das würde verdammt beschissen enden, oder?
Lees Blick ging an ihr vorbei. »Hey!«, brüllte er. »Hey! Einer von euch Bullen! Zeig dich!«
»Lassen Sie den Jungen gehen«,
sagte jemand durch ein Megafon. »Niemand muss heute verletzt werden.«
»Könnt ihr mich hören?«
»Wir können Sie hören.«
»Das reicht mir schon. Ich will nur, dass ihr wisst, nur fürs Protokoll, dass diese Frau hier sich angeboten hat, anstelle meines Sohnes meine Geisel zu sein! Das war ziemlich selbstlos, und ich will, dass ihr diesen Scheiß anerkennt!«
»Verstanden.«
Lee senkte die Waffe. Er kniete sich hin und küsste seinen Sohn auf die Wange. »Lauf«, sagte er und stieß ihn sanft an. »Na los. Lauf zu Mommy.«
Der Junge rannte an Charlene vorbei.
»Die Idee mit der Geisel klang gut, aber ich glaube nicht, dass ich damit durchkommen werde. Als jemand, der ständig auf der Flucht ist, will ich nicht leben, und ich würde auch nicht wollen, dass irgendein bescheuerter Bulle sie aus Versehen abknallt.«
»Das weiß ich zu schätzen.«
Jetzt hatte Lee eine Hand frei, mit der er sich über das Gesicht wischte. »Sie sollten ein paar Schritte zurückgehen«, sagte er.
»Was werden Sie jetzt tun?«
»Ich meine es ernst. Sie sollten zurücktreten.« Er hob
erneut die Waffe.
»Nein, bitte tun Sie das nicht.«
Er lächelte. »Achten Sie wenigstens darauf, dass Ihr Mund nicht offensteht.«
Die Stimme aus dem Megafon erscholl erneut. »Tun Sie das nicht!«
Lee drehte die Waffe und richtete sie auf sein Gesicht. Dann drückte er ab.
Hätte er ein paar Sekunden mehr Zeit gehabt, hätte er sich den Lauf vielleicht in den Mund gesteckt oder an die Schläfe gedrückt. Offenbar jedoch wollte er es unbedingt selbst durchziehen, bevor die Polizei eine Chance hatte, ihn abzuknallen, denn er erschoss sich aus wenigen Zentimetern Entfernung. Die Kugel traf direkt unter seinem Auge und trat aus seinem Hinterkopf wieder aus. Roter Nebel sprühte heraus.
Während das Blut über Lees Gesicht strömte, stand Charlene wie gelähmt vor ihm.
Die Waffe fiel ihm aus der Hand. Sie schlug auf dem Boden auf, doch Charlene konnte es wegen des lauten Klingelns in ihren Ohren nicht hören.
Lee sackte auf die Knie, dann kippte er nach vorn.
Charlene war sich der Hektik hinter ihr vage bewusst, konnte jedoch den Blick nicht von den roten Rinnsalen abwenden, die von seinem Kopf flossen.
Jemand legte einen Arm um sie. Sie schrie und schüttelte ihn wieder ab, obwohl sie wusste, dass niemand versuchte, sie zu entführen. Sie dachte erst, es wäre Gertie, doch tatsächlich war es eine Polizeibeamtin. Als weitere Menschen herangeeilt kamen, krümmte sich Charlene, würgte und hustete, aber es kam nichts heraus. Dabei schlug sie wild mit den Fäusten um sich, damit niemand sie berührte.