»Danke! Oh Gott, ich danke Ihnen!«, rief ihr eine Frau zu. Sie hatte einen schlimmen Bluterguss auf der Wange und ihre Arme fest um den kleinen Jungen geschlungen.
Charlene ignorierte sie.
Einige Minuten später saß sie hinten in einem Krankenwagen, während ein Sanitäter sie untersuchte.
»Mir geht es gut«, beharrte sie. »Er hat mir nichts angetan.« Na ja, er hatte ihr womöglich einen permanenten Hörschaden eingebracht und definitiv einen heftigen psychischen Schaden verursacht, doch es gab nichts, was der Sanitäter für sie tun konnte.
»Ich untersuche Sie nur, um ganz sicherzugehen, Ma’am«, erwiderte der und leuchtete ihr mit einer Stiftlampe in die Augen. Als er mit diesem Teil der Untersuchung fertig war, stand Gertie hinter ihm.
»Glückwunsch«, sagte sie.
»Wozu?«
»Du hast das Kind gerettet.«
»Die Polizei hätte ihn gerettet.«
»Das wissen wir nicht. Der Kerl könnte jetzt auf dem Weg zur Staatsgrenze sein.«
»Der Mann hat sich das Hirn weggepustet. Seine Leiche liegt
keine 20 Meter weit weg von hier, wenn du dich selbst überzeugen möchtest.«
»Ich weiß, was mit ihm geschehen ist.«
»Vielleicht hätte er das nicht getan, wenn wir es einfach gelassen hätten, uns einzumischen. Ich weiß echt nicht, was zur Hölle ich da gemacht habe. Wenn wir nur die Beschreibung seines Wagens weitergegeben hätten, dann hätten die Cops ihn vielleicht gefasst, ohne dass jemand gestorben wäre.«
»Er hat sich das selbst eingebrockt, Charlene. Er hat gedroht, seinen Sohn umzubringen, und dann hat er sich das Leben genommen. Du gibst doch jetzt nicht dir die Schuld dafür. Oder etwa doch?«
»Ich sage doch nur, dass wir nicht wissen, wie das Ganze ausgegangen wäre, wenn wir ihn nicht verfolgt hätten. Vielleicht hätte er sich ergeben. Vielleicht hätten sie ihm ins Bein geschossen.«
»Ja, oder er hätte genau das getan, was er angekündigt hat, nämlich sein Kind umzubringen und danach die Waffe gegen sich selbst richten!« Gertie wirkte völlig fassungslos. »Wir sind hier die Guten. Wenn wir nicht in der Nähe gewesen wären, wäre der Junge vielleicht nie wieder zu seiner Mutter zurückgekehrt. Nein, die Sache hatte kein magisches Happy End, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Was, wenn wir dem Wagen nicht gefolgt wären und dann später gehört hätten, dass der Junge tot in einem Graben gefunden wurde? Wie würdest du dich dann fühlen?«
»Ich habe keine Ahnung, wie ich mich fühlen würde. Ich kann dir nur sagen, wie ich mich jetzt fühle.«
Gertie seufzte. »Na ja, du hast genau vor ihm gestanden, als es passiert ist. Du hast es gesehen und ich nicht. Wenn der Schock erst einmal nachlässt und du rational darüber nachdenken kannst, wirst du stolz auf das sein, was du getan hast. Der kleine Junge ist wegen dir wieder bei seiner Mama.
Das wird dir bald klar werden.«
»Ich will nicht mehr mit dir reden«, erwiderte Charlene.
»Meinst du jetzt nicht oder nie mehr?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wirst du mit der Presse reden? Ich sehe da einige Nachrichten-Vans herumstehen. Die wollen dich sicher interviewen.«
»Auf keinen Fall.«
Gertie nickte verständnisvoll. »Na gut. Ich lasse dich jetzt allein, weil du es so willst, aber wenn du deine Meinung änderst und mit mir reden möchtest, ruf mich an. Ganz egal, um welche Zeit, okay?«
Charlene winkte ab. Gertie ging.
»Sie sind okay«, stellte der Sanitäter fest. »Ihr Blutdruck ist leicht erhöht, aber das ist wohl kaum überraschend. Für Ihre Ohren können wir nichts tun, aber das Klingeln sollte bald aufhören. Etwa so, als wären Sie bei einem sehr lauten Rock-Konzert gewesen.«
»Ja. Beschissen geiles Konzert.«
»Es geht mich nichts an, aber ich stimme Ihrer Freundin zu. Ich war hier, als der Vater rief, dass Sie mit seinem Sohn tauschen würden. Das Arschloch war längst jenseits von Gut und Böse. Was dabei rausgekommen ist, ist nun mal so, aber es ist nicht Ihre Schuld.«
Er half ihr aus dem Krankenwagen. Ein beleibter Polizist kam auf sie zu. Dieser sah nicht so aus, als würde er die Einschätzung der Situation, wie Gertie und der Sanitäter sie sahen, teilen.
Er ließ sie die ganze Geschichte erzählen. Dann verlangte er, dass sie alles gleich noch einmal erzählte.
Und sie sagte ihm die ganze Wahrheit. Sie hatten schließlich nichts Kriminelles getan, nur etwas sehr Dummes, und er würde Gertie sicherlich ebenfalls befragen, also würde jeder Versuch, die Wahrheit zu verdrehen (»Wir waren nur spazieren«), ohnehin scheitern. Der Beamte würde sie vielleicht runterputzen, aber man würde sie wohl kaum wegen Totschlags anklagen, oder?
»Sonst noch irgendetwas, was ich vielleicht wissen sollte?«, fragte der Bulle.
»Nee.«
»Na gut. Ein paar Reporter wollen Ihnen ihre Mikros unter die Nase halten. Sie können mit denen sprechen, wenn Sie wollen, oder wir können Sie an ihnen vorbeischleusen und zu Ihrem Wagen begleiten.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich vorbeischleusen würden.«
»Machen wir.«
»Bin ich in Schwierigkeiten?«, wollte Charlene wissen.
»Glauben Sie, dass ein Gericht Sie verurteilen würde?«
»Ich denke eher nicht.«
»Da denken Sie richtig. Sie und Ihre Freundin müssen mit diesem Selbstjustiz-Unfug aufhören, aber wir haben ein lebendiges Kind und einen toten Entführer. Ich bin sicher, dass die meisten Leute mit diesem Resultat vollkommen einverstanden sind. Wenn die Dinge ein wenig anders gelaufen wären und er seinen Sohn erschossen hätte … na, dann wäre die öffentliche Meinung wohl eher nicht so rosig, was die Person angeht, die sich als Unterhändlerin in einer Geiselnahme versucht hat. Doch so kann ich sagen, nein, niemand wird Sie verhaften und Sie für das verantwortlich machen, was dieser Vollidiot sich angetan hat. Ich schätze, Sie werden eher mit
Lob überhäuft werden. Genießen Sie den Ruhm. Der hält nie lange an, also vergeuden Sie ihn nicht mit Schuldgefühlen. Er war derjenige, der abgedrückt hat.«
»Danke.«
»Kein Problem. Das war es auch mit einer Motivationsrede meinerseits. Wollen Sie immer noch, dass wir Sie an den Reportern vorbeischleusen?«
»Ja, bitte.«
»Dann kommen Sie mit.«
Ken nahm sein Handy aus der Tasche. Fast ein Uhr nachts. Drei verpasste Anrufe von Vivian und etwa zehn SMS.
Er hätte nicht so lange bleiben sollen. Aber er musste morgen nicht arbeiten, und Vivian hätte auch nicht weniger an ihm herumgenörgelt, wenn er ein paar Stunden früher nach Hause gekommen wäre.
Regina war bereits tot, als er ankam. Er hasste es, dass er den Moment ihres Ablebens verpasst hatte. Oft war er versucht, den Prozess zu beschleunigen, nur damit er ihnen beim Sterben zusehen konnte, doch das wäre dann ein Gnadenakt. Die Frauen würden nicht wirklich zu Tode verhungern. Wieso sollte er sich die Mühe machen, ihnen ein langsames, leidvolles, urtümliches Ableben zu ermöglichen, wenn er dieses dann doch vorzeitig beendete?
Wie auch immer, kurz vor ihrem Ende waren sie ohnehin so schwach, dass es oft schwer zu sagen war, wann genau der Tod eintrat. Er war zugegen gewesen, als sein drittes Opfer starb, doch er hatte ihr einen Spiegel unter die Nase halten müssen, um ganz sicher zu sein, dass sie tot war.
Olivia lebte noch. Sprach allerdings nicht mehr viel. Das war Ken egal. Es war nicht nötig, dass sie irgendetwas tat, während er sie beobachtete. Er war vollends zufrieden damit, auf dem Stuhl zu sitzen und ihren im Käfig hängenden, meist reglosen, schönen Körper zu beobachten. Zuzusehen, wie aus ihr das Leben langsam entwich, wie bei einer Luftmatratze mit einem winzigen Nadelstich in der Seite, die Luft.
Er stand auf. »Hättest du gern noch etwas Wasser, bevor ich gehe?«, fragte er. »Ich habe eine Menge Arbeit im Garten, also werde ich morgen nicht kommen. Ich würde dich ungern ausgetrocknet vorfinden, wenn ich wiederkomme.«
Olivia nickte.
Er brachte die Leiter zu ihr hinüber, gab ihr Wasser und trug dann Leiter und Stuhl wieder an ihren Platz zurück. Er trug grundsätzlich beides, wenn er den Raum verließ, und schleifte es, wenn er hereinkam. Es gab keinen praktischen Grund, die Sachen in die hintere Ecke zu schleppen, denn natürlich konnte sie niemand erreichen, während er weg war. Er mochte schlicht das furchtbare Geräusch, das sie machten, wenn sie über den Beton kratzten. Es war eine wunderbar unangenehme Methode, die Mädchen wissen zu lassen, dass er bereit war, sie zu beobachten.
Ken sog noch ein letztes Mal die Luft ein. Er schämte sich ein wenig, dass er den Geruch dieses Raumes so sehr genoss. Tod, Kotze, Pisse … selbst ein grausamer Serienmörder sollte diesen Duft als unangenehm empfinden. Doch das tat er nicht. Er würde den Geruch in Flaschen abfüllen und als Eau de Toilette tragen, wenn er könnte. Würde sein Essen damit würzen.
Wenn kein Käfig mehr frei war und er den ersten leeren musste, um Platz für ein weiteres Opfer zu machen, würde er den Boden wahrscheinlich auch einmal mit dem Schlauch abspritzen. Vorerst allerdings blieb alles, was aus den Frauen herausfloss, auf dem Betonboden.
Er winkte Olivia zu, auch wenn er hinter ihr stand und sie ihn nicht sehen konnte. Er winkte auch den Leichen zu und sonnte sich in dem Gedanken, dass ihre Seelen womöglich für immer in ihren vertrockneten, toten Körpern gefangen waren und dass sie sehen konnten, wie er ihnen zuwinkte. Er öffnete die Tür und verließ den Raum.
Ken schloss die Tür und tippte den vierstelligen PIN-Code ein, um sie zu verriegeln.
Er stieg die Treppe hinauf und tippte einen weiteren Code ein, um die obere Tür zu entriegeln. Dann betrat er das Erdgeschoss, schloss und verriegelte die Tür hinter sich.
Es war ein kleines Haus in einer abgeschiedenen Gegend. Man konnte die Nachbarn in der Ferne zwar noch erkennen, hörte sie jedoch nicht, wenn sie nicht gerade eine verdammt laute Party feierten. Natürlich war der Keller völlig schalldicht isoliert. Solange die Türen sowohl zum Käfigraum, als auch am oberen Ende der Treppe verschlossen waren, konnte ein frisches Opfer, das noch bei Kräften war, aus vollem Hals schreien, und jemand, der an der Stelle stand, wo Ken sich jetzt gerade befand, würde keinen Mucks hören. Erstklassige Schalldichtung. Nicht billig.
Der Geruch war leichter einzuschließen. Der Keller war abgedichtet wie eine kaputte Gefriertruhe voller verrottender Kadaver.
Natürlich konnte Ken sich die Miete für ein zweites Haus nicht alleine leisten. Es handelte sich um ein Gemeinschaftsprojekt mit seinem Kumpel Darrell. Ken kümmerte sich um den ganzen Papierkram und sorgte dafür, dass die Anmietung zu keinem von ihnen zurückverfolgt werden konnte, und Darrell zahlte den Großteil der Miete. Ken bekam den Keller. Darrell, der eine Bude brauchte, in der er seine drei Geliebten vögeln konnte, bekam das Erdgeschoss.
Ken hatte ihm nur gesagt, dass er den Keller für
»Drogenkram« brauchte. Darrell fragte nie nach, liebte es jedoch, ihm in allen Einzelheiten von seinen Abgründen zu erzählen. Er beschrieb seinen Sex in allen drastischen Einzelheiten, und Ken hakte an ihm angemessen erscheinenden Stellen mit ebenfalls angemessen notgeilem Gesichtsausdruck nach. Dabei interessierte es ihn nicht wirklich, dass Darrell Lydia endlich dazu überredet hatte, ihn den Hintereingang benutzen zu lassen, oder dass Sarah darauf stand, wenn er ihre Nippel zwirbelte. Richtig fest.
Sie sprachen sich zeitlich ab, damit sichergestellt war, dass Darrells Tussis nicht ausflippten, weil noch jemand im Haus war. Darrells persönlicher Zeitplan war auch so schon kompliziert genug, weil Lydia und Sarah zwar voneinander wussten und auch kein Problem damit hatten – allerdings nicht cool genug für einen Dreier waren, verdammt –, Jackie allerdings würde nicht nur ausrasten, wenn sie von Lydia und Sarah erführe, sondern auch komplett austicken, wenn sie herausfände, dass Darrell überhaupt nicht geschieden war. »Sie würde mir die Eier abreißen und mich damit füttern«, erklärte Darrell mit leisem Lachen.
Ken fuhr nach Hause und hoffte, Vivian würde schon schlafen, wenn er dort ankam.
Sie schlief aber nicht.
»Wo zur Hölle bist du gewesen?«, wollte sie wissen.
»Ich liebe dich auch«, sagte er und gab ihr einen Kuss. Er achtete darauf, dass sie eine Ladung seines Whiskey-Atems abbekam, bevor sich ihre Lippen berührten.
»Ich habe dir eine Frage gestellt.«
»Darf ich denn keine Freunde haben? Du hast Freundinnen. Jared hat Freunde. Aber ich nicht. Oh nein, keine Freunde für Kenneth! Nee, der würde sich bloß vor seiner Erwachsenen-Verantwortung drücken, wenn wir ihn einmal ausgehen und sich amüsieren ließen.«
»Ich bleibe nie die halbe Nacht mit meinen Freundinnen weg.«
»Nicht die halbe Nacht. Es ist erst halb zwei. Wann sind wir denn so alt geworden, dass wir frühzeitig im Bett sein müssen?«
Vivian ignorierte die hypothetische Frage. »Und ich rufe dich an oder schicke dir eine SMS, damit du weißt, wo ich bin. Wie schwer kann es denn sein, eine SMS zu schreiben?«
»Ich habe große Daumen.«
»Sei kein Klugscheißer.«
»Na schön. Es tut mir leid, dass ich so lange weg war. Ich hatte ein paar Drinks und wollte erst wieder nüchtern werden, bevor ich nach Hause fahre.«
Vivian ballte die Fäuste und lockerte sie wieder. »Bitte hör auf, mich anzulügen. Ich weiß, wo du warst und was du gemacht hast.«
»Ist das so?«
»Wirst du mir sagen, wer sie ist, oder soll ich warten, bis ich ihr Foto in den Nachrichten sehe?«
»Ich habe niemanden umgebracht«, erwiderte Ken, der seine Stimme senkte, damit Jared ihn nicht hören konnte.
»Blödsinn.«
»Ich habe niemanden umgebracht! Ich war nicht zum Jagen draußen! Ich habe dir versprochen, dass ich dir Bescheid sagen würde, wann immer ich losgehe, und dieses Versprechen würde ich nie brechen.«
»Du bist zu oft da draußen unterwegs. Die werden dich noch schnappen.«
Ken schlug sich frustriert die Hand vor die Stirn. »Was habe ich gerade gesagt? Wieso hörst du mir nicht zu? Ich habe heute Nacht niemanden erwürgt.« Er hob die Arme. »Siehst du irgendwelche neuen Kratzer? Irgendwelche Anzeichen, dass sich jemand gewehrt hat? Irgendetwas? Willst du meine Fingernägel kontrollieren, ob Erde darunter ist? Willst du die
Schaufel im Kofferraum überprüfen? Ich schwöre bei Gott, Vivian, ich sage dir die Wahrheit. Du weißt von jeder einzelnen. Wie du schon sagtest, die Bilder tauchen jedes Mal in den Nachrichten auf.«
»Vielleicht hast du Leute umgebracht, die eigentlich nicht deinem Typ entsprechen. Woher soll ich wissen, dass du keine kleinen Mädchen umbringst?«
»Hörst du dich eigentlich selbst reden? Gehen die Worte, die da aus deinem Mund kommen, überhaupt zuerst durch dein Hirn? Ich kann doch nicht herumlaufen und jeden zweiten Abend ein anderes Mädchen strangulieren. Glaubst du nicht, dass die mich schnappen würden, wenn ich derart viele Gräber ausheben würde? Wenn ich wirklich so viele Frauen abgeschlachtet habe, wieso läuft das dann nicht rund um die Uhr in den Nachrichten? Wie kommt es, dass die Nachrichten nur von denjenigen berichten, von denen du ohnehin weißt?«
»Vielleicht hast du ja dein Jagdgebiet erweitert.«
»Klar, das ist es. Das ergibt auch so richtig viel Sinn. Wie zur Hölle sollte ich mir überhaupt ein kleines Mädchen schnappen? Denkst du, ich gehe das Risiko ein, ein fremdes Kind anzusprechen, das dann womöglich davonläuft und seinen Eltern davon erzählt?« Er legte die Hände auf Vivians Schultern und sah ihr direkt in die Augen. »Vivian, Liebling, die acht Frauen, von denen ich dir erzählt habe, sind die einzigen. Ich würde nie auf die Jagd gehen, ohne dir davon zu erzählen. Ich weiß, wie schlimm es für dich und Jared wäre, wenn sie mich kriegen sollten, und deshalb würde ich dir das niemals antun.«
»Wo warst du dann heute Nacht?«
»Ich war in einer Bar! Ich trinke zu viel, okay? Du hast einen Alkoholiker geheiratet. Ich habe zu viel gesoffen und war rücksichtslos und unvernünftig. Was muss ich tun, um dich davon zu überzeugen, dass ich nicht jagen war? Sag es mir und ich tue es!«
»Nimm mich mit zu der Bar und lass den Barmann bestätigen, was du mir gerade gesagt hast.«
»Die Bar ist geschlossen. Deswegen bin ich doch auch gegangen. Wir gehen morgen hin, okay? Direkt, wenn sie wieder aufmacht.« Ken wusste, dass Vivian sich diese Mühe nicht machen würde, wenn sie erst einmal eine Nacht drüber geschlafen hätte. Trotzdem würde er aufhören müssen, so viel Zeit im Keller zu verbringen, zumindest für eine Woche oder so, um ihr Zeit zu geben, sich wieder zu beruhigen.
Vivian trat einen Schritt zurück. »Hast du Hunger?«
»Ja. Ich mach mir schnell etwas.«
»Hatte diese sogenannte Bar, in der du warst, auch einen Fernseher?«
»Sogar drei. Wieso?«
»Liefen auf einem der drei Fernseher die Nachrichten?«
»Sag mir doch einfach, worauf du hinauswillst, Viv.«
»Ich will darauf hinaus, dass die Nachrichten heute Abend wirklich interessant waren.«
Ken war auf einmal richtiggehend übel. »Was meinst du mit interessant?«
»Mach dir nicht gleich ins Hemd. Die Polizei wird uns nicht die Tür eintreten. Geh und mach dir ein paar Nachos oder sowas, dann zeige ich es dir.«
»Zeig es mir jetzt.«
Er folgte ihr ins Esszimmer, wo Vivians Laptop auf dem Tisch stand. Sie setzte sich, klickte einige Male und drehte dann den Laptop so, dass er den Bildschirm sehen konnte.
»Heute Abend starb Lee Montgomery, ein Mann aus Hornbeam Ridge, an einer Schusswunde, die er sich selbst beibrachte, nachdem er seinen sechsjährigen Sohn entführt hatte«, erklärte die Nachrichtensprecherin, die viel zu stark geschminkt war. »Montgomery ließ den Jungen gehen, als er die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannte, nahm sich
jedoch selbst das Leben, bevor die Beamten ihn festnehmen konnten. Zwei Frauen sahen Montgomery mit seinem Sohn auf der Straße und wählten den Notruf wegen seines verdächtigen Verhaltens. Die Frauen folgten ihm, bis Montgomery aus seinem Fahrzeug flüchtete und drohte, seinen Sohn und sich selbst zu töten. Eine der Frauen, Charlene Fox, versuchte Montgomery davon abzubringen, seinem Sohn etwas anzutun, und ging sogar soweit, sich selbst an dessen Stelle als Geisel anzubieten.«
Nach einem Schnitt wurde ein Mädchen eingeblendet, die in die Kamera sprach. Sie trug eine schlechte Perücke aus langem, braunem Haar. Ken beugte sich vor. Der Name ›Gertie Richardson‹ erschien am unteren Bildschirmrand.
»Ja, wir hatten eine Riesenangst, dass er seinen Sohn umbringen würde«, erklärte sie. »Aber meine Freundin hat auf ihn eingeredet, bis er ihn gehen ließ. Sie denkt nicht, dass sie eine Heldin ist, doch ich finde, genau das ist sie. Wir waren unterwegs, um meine Cousine zu retten, aber am Ende hat sie jemand anderen gerettet. Eine total verrückte Nacht.«
Dann wurde wieder die Nachrichtensprecherin eingeblendet, diesmal zusammen mit ihrem männlichen Co-Moderator. »Die Polizei teilte weiterhin mit, dass die jungen Frauen vorhatten, als Köder für den Täter, der für das Verschwinden von insgesamt acht vermissten Frauen in den vergangenen Monaten verantwortlich ist, zu fungieren.«
Ihr Kollege lachte in sich hinein. »Das klingt, als sollte der Täter sich Sorgen machen.«
»Der Junge ist wieder mit seiner Mutter vereint, die mittelschwere Verletzungen durch die Hand ihres Ehemannes davongetragen hatte. Und nun geben wir weiter zu Stan mit dem Wetterradar.«
Das Nachrichten-Video endete.
»Spiel das nochmal ab«, bat Ken.
Vivian tat, wie ihr geheißen.
»Was soll das überhaupt bedeuten, als Köder fungieren?«, fragte er.
»Ich schätze, das bedeutet, dass sie dir in den Arsch treten wollten.«
»Was glauben die denn, dass ich unvorsichtig bin? Dass ich blöd bin? Also wie jetzt, diese Schlampe ist einfach mit einer billigen Perücke auf dem Kopf herumspaziert und hat darauf gewartet, dass ich sie anspringe?«
»Solche Perücken sind nicht billig.«
Ken wollte seiner Frau sagen, sie solle den Mund halten, verkniff sich das jedoch. »Mir gefällt es nicht, dass der Nachrichtentyp mich ausgelacht hat. Wer zum Teufel glaubt er, dass er ist? Hält der mich für eine Witzfigur? Wie laut der wohl noch lacht, wenn ich seine Tochter umbringe?«
»Wenn du dich auf die Familie dieses Kerls einschießt, dann kriegen sie dich auf jeden Fall.«
»Ich werde das auch nicht wirklich machen. Aber ich würde es nur zu gerne tun. Ich würde ihn zwingen, live zu berichten, während er zusieht, wie ich sie ersticke. Vielleicht, nachdem ich mir die zwei Schlampen vorgeknöpft habe. Die wollen Köder sein? Ich mache sie zu Ködern. Spiel es nochmal ab.«
Vivian schüttelte den Kopf und klappte den Laptop zu. »Ich habe dir das doch nicht gezeigt, damit du sauer wirst und Rache schwörst. Ich habe das gemacht, damit dir klar wird, dass du vorsichtig sein musst. Vielleicht sind die beiden nicht die einzigen, die versuchen, dich reinzulegen. Du schwörst, dass du vorsichtig bist, wenn du deine Opfer auswählst, aber von jetzt an wirst du noch vorsichtiger sein müssen. Vielleicht solltest du einfach für eine Weile aufhören. Nicht für immer, aber für eine Weile. Für ein Jahr oder so.«
»Vielleicht«, stimmte Ken zu.
Er hatte keineswegs vor, aufzuhören. Er würde sich nicht
dumm anstellen, doch er konnte diese Mädchen auch nicht in dem Glauben lassen, sie wären ach so mutig und heldenhaft. Glaubte die mit der Perücke wirklich, sie konnte seine Schreckensherrschaft beenden, indem sie mit diesem Ding auf dem Kopf durch die Straßen spazierte? Ernsthaft?
Ken würde sich zu nichts hinreißen lassen, keine unnötigen Risiken eingehen. Er würde nicht zulassen, dass die enorme Wut, die er verspürte, ihm ein Bein stellte.
Er würde sich selbst nicht versprechen, dass die beiden Schlampen in Käfigen enden würden. Aber er würde auf jeden Fall recherchieren, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, genau das zu bewerkstelligen.