Charlene stand in der Dusche, massierte Kopfhaut und Haare mit einem nach Kokosnuss duftenden Shampoo und durchlebte erneut den Moment, in dem Lee abdrückte.
In ihrem Kopf spulte sich das Ganze noch brachialer ab. Die echte Gasse hatte im Dunkeln gelegen. Sie hatte nicht gesehen, wie die Kugel hinten aus seinem Schädel hervorbrach. Aber jetzt war in ihrem Kopf alles hell erleuchtet, wie mit einer Leuchtstoffröhre, wenn der Strom mit voller Ladung durch sie fließt. Sie sah Blut, mehr Blut, als medizinisch möglich war, dazu Brocken von Hirnmasse und Knochensplitter, und das alles flog in Zeitlupe wie in einem hochauflösend gefilmten 3-D-Kinofilm umher. Als Lee zu Boden stürzte, platzte sein Kopf auseinander wie ein Halloween-Kürbis, der eine Woche zu lange auf der Veranda von jemandem gestanden hatte, dem Halloween nicht lange genug dauern konnte. Das Blut hörte überhaupt nicht mehr auf, herauszuströmen. Und Lee war immer noch am Leben. Er lag auf dem Boden, wand sich in einem See aus Blut und starrte mit angsterfüllten, aus ihren Höhlen hervorquellenden Augen, zu ihr hoch.
Charlene wünschte, das wäre ein Traum. Sie wünschte, es wäre nur ihr Unterbewusstsein, das diese entsetzlichen Bilder heraufbeschwor. Sie konnte diese Scheiße nicht gebrauchen, wenn sie hellwach war und einfach nur eine entspannende, heiße Dusche genießen wollte.
Sie wusch sich das Shampoo aus den Haaren, während Lee mit den Händen an seinem zerfetzten Kopf herumtastete und verzweifelt aufstöhnte.
Dann stieg sie aus der Dusche und trocknete sich ab. Es ging ihr inzwischen besser als direkt nach dem Zwischenfall, doch diese albtraumhaften Momente verfolgten sie noch immer, wenn sie allein war.
Die einfachste Lösung wäre, nicht allein zu sein. Ihre Eltern hätten sie gern bei sich. Sie machte sich jedoch Sorgen, dass sie, wenn sie sich ein paar Tage lang von ihrer Bude fernhielt, zurückkommen und am selben Punkt wieder von vorn anfangen würde. Es war besser, sofort damit anzufangen, sich seinen Dämonen zu stellen.
Sie hatte nicht wirklich Bock auf eine ernsthafte Beziehung mit Megan, also wäre es wohl auch keine gute Idee, sie als emotionales Schutzschild zu benutzen. Charlene bereute keineswegs, Sex mit ihr gehabt zu haben, doch damit hatte sie nur Druck abbauen wollen; es war kein Versuch gewesen, vor ihren Gedanken davonzulaufen.
Am liebsten würde sie Gertie anrufen, nur um ein wenig mit ihr zu reden, weil sie am ehesten verstand, was Charlene durchgemacht hatte. Doch Gertie hatte gerade einen Typen am Start. Dabei hatte sie gar nicht gedacht, dass Gertie eine von den Frauen war, die mit einem Kerl heimging, dem sie gerade erst über den Weg gelaufen war. Gerade dann, wenn sie zu einem geschäftlichen Essen ins Restaurant ging. Das schien nicht wirklich zu ihr zu passen, doch Charlene kannte Gertie immerhin noch nicht sehr lange und hatte sie nicht nach Einzelheiten ihres heterosexuellen Liebeslebens gefragt. Was wusste sie schon; vielleicht war Gertie verdammt leicht zu haben. Sie war eine gesunde junge Frau, die vögeln konnte, wen immer sie wollte. Schön für sie. Charlene ging das nun wirklich nichts an.
Plötzlich begann sie sich zu fragen, ob diese sexuelle Freizügigkeit der einzige Grund war, wieso ihr die Sache komisch vorkam.
Charlene nahm das Telefon in die Hand und las ihre SMS-Unterhaltung noch einmal durch.
Nee! Der ist viel zu alt. Aber unsere männliche Bedienung ist jung und knackig .
Männliche Bedienung.
Sie hatte noch nie gehört, dass Gertie diesen Begriff benutzte. Bedienung . Sie waren schlicht Kellnerinnen oder die Kerle eben Kellner.
Das hieß natürlich nicht, dass Gertie das Wort »Bedienung« in einer SMS niemals verwenden würde. Vielleicht hatte es ein Wortspiel sein sollen; ihre Bedürfnisse wurden bedient. Und »männlich« hatte sie hinzugefügt, um ihrer lesbischen Bekannten keine zweideutige Nachricht zu senden.
Charlene schrieb zurück: Hey, mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Schick mal ein Lebenszeichen, okay?
Sie wartete. Keine Antwort.
Sie nahm ihr Telefon mit, als sie in die Küche ging und einen Beutel Mikrowellen-Popcorn aufploppen ließ. Immer noch keine Antwort, als sie den Inhalt in eine Schüssel gab.
Na gut, wenn es überhaupt einen unpassenden Moment gab, Textnachrichten zu lesen, dann war es wohl genau der, während man Sex hatte. Selbst wenn er sie von hinten nahm und sie dabei ihr Telefon in den Händen halten könnte, ohne dadurch den Rhythmus zu stören, wäre das trotzdem ziemlich unhöflich.
Ach, egal. Sie würde trotzdem einfach anrufen, auch wenn sie damit Gertie und den Kellner mitten im leidenschaftlichen Liebesspiel störte.
Sie hatte sofort die Mailbox dran.
Auch das war nicht unbedingt verdächtig. Charlene hatte ihr Telefon auch in den ›Bitte nicht stören‹-Modus versetzt, als Megans Kopf zwischen ihren Beinen gesteckt hatte.
Sie versuchte es noch einmal, denn es konnte ja sein, dass Gertie die Funktion nutzte, bei der ein zweiter Anruf von derselben Nummer durchgestellt wurde.
Wieder die Mailbox.
Selbst Sherlock Holmes würde wohl anmerken, dass zwischen »Kellner« und »Bedienung« kein allzu großer Unterschied bestand. Nein, daran war zunächst rein gar nichts verdächtig.
Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass es ihr Sorgen bereitete.
»Wie bitte?«, fragte Ken.
»Du hast mich schon richtig verstanden.«
»Sag es trotzdem nochmal.«
»Ich darf auch jemanden umbringen.«
Ken wurde schlecht. Es drehte ihm nicht gleich komplett den Magen um, so wie vorhin, als Vivian ihn gezwungen hatte, ihr den Keller zu zeigen, aber ihm war trotzdem übel.
»Ich dachte, du hättest dir das bereits abgewöhnt, bevor wir uns kennengelernt haben.«
»Hatte ich. Aber jetzt will ich es wieder tun.«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«
»Wieso nicht?«
»Du könntest erwischt werden.«
Vivian stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Du hast einen Keller voller Weiber in Käfigen. Ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass meine Chancen geschnappt zu werden, weit niedriger sind als deine.«
Ken schüttelte den Kopf. »Ich möchte das nicht.«
»Dann hättest du mich vielleicht nicht anlügen sollen, was das Ausmaß deiner Perversion angeht. Du bekommst deine Mädchen, ich bekomme meinen Kerl. Das ist nur fair.«
»Ich weiß, aber …«
»Aber es ist okay für dich, mit zweierlei Maß zu messen?«
»Das ist was anderes.«
»Wieso denn?«
Ken hatte keine befriedigende Antwort darauf. »Ich dachte, du wärst nicht mehr daran interessiert. Das hast du gesagt.«
»War ich ja auch nicht. Aber jetzt schon. Menschen verändern sich. Und manchmal sind sie nicht die, für die sie sich ausgeben.«
Verflucht. Es war doch eine ganze Weile lang so gut gelaufen.
»Hast du die Kerle nicht gefickt, bevor du sie umgebracht hast?«, wollte Ken wissen.
»Hab ich.«
»Und das soll noch immer Teil des Deals sein?«
»Das habe ich noch nicht entschieden.«
»Na ja, es ist ein ziemlich wichtiger Teil.«
»Nochmal, du hast acht oder neun Frauen in Käfigen in einem Keller eingesperrt . Einen Typen zu ficken und ihn dann zu erstechen ist nicht mal annähernd das Gleiche.«
»Aber ich durfte sie nicht vergewaltigen.«
»Ich habe die Kerle auch nicht vergewaltigt.«
»Ich durfte keinen einvernehmlichen Sex mit ihnen haben.«
»Das ist mir klar.«
»Also bist du im Grunde die, die mit zweierlei Maß misst.«
»Vielleicht«, gab Vivian zu. »Aber deine Version davon ist unendlich schlimmer.«
»Unendlich ist wohl etwas übertrieben.«
»Ist es nicht.«
»Nein. Ich werde nicht erlauben, dass du das tust.«
»Dann werde ich eben keinen Sex mit ihm haben. Ich werde ihn zwar mit dem Versprechen ködern, es dann aber doch nicht tun.«
»Wie weit wirst du dabei gehen?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Aber ich muss das wissen.«
»Ich sage es dir jetzt nochmal ganz deutlich«, erwiderte Vivian. »Ich habe nicht gesagt, dass ich auch jemanden umbringen will. Ich sagte, ich darf auch jemanden umbringen. Du hast mein Vertrauen richtig missbraucht. Du hast die ganze Familie in Gefahr gebracht. Wegen dir hätte Jared seinen Vater verlieren können. Wenn das nun bedeutet, dass ich etwas tun darf, was dir nicht besonders gefällt, nun ja, dann hättest du darüber vielleicht nachdenken sollen, bevor du deine kranken Fantasien ausgelebt hast, ohne mir etwas davon zu erzählen.«
»Also … wäre das dann irgendein Kerl, ein Zufallsopfer?«
»Vielleicht auch nicht. Wir müssen mit deiner Gefangenen sprechen und herausfinden, welche ungelösten Probleme da draußen herumlaufen könnten. Vielleicht hat sie ihrer Freundin erzählt, wo sie heute Abend hinwollte. Und jemand, der aussieht wie sie, hat wahrscheinlich auch einen Freund. Den könnten wir aus dem Verkehr ziehen, bevor sie überhaupt als vermisst gemeldet wird.«
»Wie wäre es, wenn du stattdessen die andere umbringst?«, schlug Ken vor.
»Wozu denn? Damit du zusehen kannst?«
»Nein! Ich finde nur, das wäre der bessere Weg, die Sache zu beenden.«
»Ich will sie aber nicht töten. Das gibt mir doch nichts. Du hast Glück, dass ich nicht zur Polizei gerannt bin und gepetzt habe, also verstehe ich nicht, wieso du dich deswegen jetzt so aufführst.«
Kens gesamter Körper spannte sich an. »Drohst du mir etwa damit, zu den Bullen zu gehen?«
»Natürlich nicht. Das würde ich dir und Jared niemals antun. Außerdem würde ich doch selbst auch in den Knast wandern, weil ich gewusst habe, dass du für das Verschwinden der Frauen verantwortlich bist. Aber das heißt nicht, dass ich nicht etwas Unüberlegtes hätte tun können, als ich schockiert und aufgewühlt war. Du solltest aber sowas von erleichtert sein, dass es dir scheißegal sein müsste, wenn ich jetzt in die nächste Kneipe spazieren und die Kerle für einen Gangbang vortanzen lassen würde.«
»Meinst du das gerade ernst?«
»Ich übertreibe. Doch im Grunde stimmt es. Ich begreife nicht, wieso dich der Gedanke so aufregt, dass ich den Kerl womöglich ficken könnte.«
»Darüber sollten wir später reden.«
»Von mir aus. Du holst jetzt erst mal Desinfektionsmittel und Verbandszeug.«
»Sie muss wahrscheinlich genäht werden«, gab Ken zu bedenken.
»Weißt du denn, wie man das macht?«
»Nein.«
»Denkst du, sie wird einfach dasitzen und zulassen, dass du sie zusammenflickst, ohne zu versuchen abzuhauen?«
»Ich wollte sie mit Chloroform betäuben. Was denkst du denn von mir?«
»Na schön, entschuldige«, gab Vivian zurück. »Fahr du die Sachen holen, die du brauchst. Ich werde ein paar Informationen aus ihr herauskitzeln.«
»Wie denn?«
»Ich kann sehr überzeugend sein.«
»Im Ernst jetzt, wie denn?«
»Mit der Messerspitze unter den Fingernägeln.«
»Himmel.«
»Das ist eine althergebrachte Methode, Menschen dazu zu bringen, mit Informationen herauszurücken, die sie eigentlich für sich behalten wollen. Denkst du, sie kann diese Art Folter aushalten?«
»Auf der Leiter musst du vorsichtig sein. Nein, weißt du was, ich werde den Käfig runterlassen. Die Tür ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sie kann nicht raus.«
»Perfekt.«
Gertie schwieg, als Ken und Viv zurückkehrten. Ihr wurde zunehmend schwummerig, doch sie zwang sich, wach und auf der Hut zu bleiben, für den Fall, dass sie eine Gelegenheit zur Flucht bekam. Na klar. Flucht aus einem verschlossenen Stahlkäfig, der von der Decke hing.
Ken ging an ihr vorbei. Viv blieb nahe der Tür stehen. Sie hielt dasselbe Messer in der Hand, mit dem Ken auf sie eingestochen hatte. Das Blut hatte sie nicht abgewischt.
Der Käfig begann, sich langsam zu senken.
Ließen sie sie etwa frei?
Nein, natürlich nicht.
Gertie streckte die Beine aus, damit sie nicht unter dem Käfig zerquetscht wurden, als dieser den Boden erreichte.
Ken kehrte zur Tür zurück. »Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst«, sagte er. »Ich bleibe nicht lange weg.« Er gab Vivian einen Kuss auf die Wange und verließ dann den Raum.
Viv blieb etwa eine Minute dort stehen. Dann machte sie einen Schritt in den Raum hinein und zog die Tür zu.
»Wie kannst du diesen Gestank nur ertragen?«, fragte sie. »Ich wünschte, wir könnten das woanders tun, doch dann wärst du ja nicht in einem Käfig, nicht wahr?«
Sie kam herüber, allerdings nicht so nah heran, dass Gertie nach ihr greifen oder treten konnte.
»Ich beginne das hier nicht mit einer Frage«, sagte sie. »Ich beginne es, indem ich dir zeige, was geschieht, wenn du eine Frage nicht beantwortest. Damit du gleich weißt, wie die Strafe ausfällt, wenn ich anfange, Fragen zu stellen. Streck die Hand heraus.«
»Nein.«
»Du sitzt in einem Käfig, der dir kaum genug Platz zum Atmen lässt. Glaubst du wirklich, dass ich nicht an dich herankomme? Wenn ich sage, streck die Hand raus, dann meine ich auch, dass du die Hand rausstrecken sollst, weil das der einfachste und am wenigsten schmerzhafteste Weg ist, wie wir beide das hinter uns bringen. Je schwerer du es mir machst, desto schlimmer werde ich es für dich machen. Und wenn ich dir das Messer ins Ohr rammen muss, so wie es bei deiner Freundin da drüben geschehen ist, dann werde ich das tun. Mir liegt überhaupt nichts daran, dich am Leben zu halten.«
Gertie sah keinen Ausweg. Den rechten Arm konnte sie nicht ausstrecken, aber es gelang ihr zumindest, die Hand aus dem Käfig zu halten.
Vivian ging neben ihr in die Hocke. Sie packte Gertie am Handgelenk.
»Öffne die Faust«, kommandierte Viv.
»Bitte«, flehte Gertie, die selbst erstaunt war, dass sich noch nicht schluchzte. »Ich werde all Ihre Fragen beantworten.«
»Wirklich? Selbst, wenn du deine Freunde damit in Gefahr bringst? Du würdest sie ausliefern, um dir ein bisschen Schmerz zu ersparen?«
»Sie müssen das nicht tun.«
»Das weiß ich selbst. Ich bin mir meiner Optionen vollkommen bewusst. Wie der Option, dir die Pulsadern aufzuschneiden, wenn du die Faust jetzt nicht aufmachst. Ich bin ziemlich sicher, dass du verbluten wirst, bevor mein Mann mit dem Verbandszeug zurückkommt.«
Gertie öffnete die Faust.
Viv ließ ihr Handgelenk los und packte den kleinen Finger. Sie drückte die Spitze des Messers unter den Fingernagel und stieß es dann hinein, nur ein kleines Stückchen. Gertie brüllte auf, als der Schmerz ihren Arm hinaufschoss. Es war so viel schlimmer als alles, womit sie gerechnet hatte.
Viv zog das Messer direkt wieder heraus, doch es dauerte eine Weile, bis der Schmerz nachließ. Gertie zog ihre Hand wieder in den Käfig zurück.
»Jetzt hast du einen kleinen Vorgeschmack darauf bekommen, was geschehen wird, wenn du nicht kooperierst. Ich werde dir ein paar Fragen stellen. Lüg mich nicht an. Ich werde wissen, wenn du lügst.«
»So wie Sie gewusst haben, dass Ihr Mann gelogen hat?«
Vivs Miene verdüsterte sich vor Zorn, aber das war Gertie egal. Die Frau wollte sie offenbar sowieso foltern. Wenn sie es schaffte, dass diese wütend wurde, gäbe es vielleicht die Chance, dass sie einen Fehler machte.
Dann schwand die Wut, und Viv lächelte. »Nicht schlecht. Sehr aufmerksam. Du hast mich erwischt. Das kann ich nicht leugnen, du hast mich eindeutig erwischt; der Punkt geht an dich. Jetzt würde ich allerdings gern zu meinen Fragen kommen, wenn das okay für dich ist.«
Gertie schwieg.
»Wer weiß, wo du heute Abend hingegangen bist?«
Gerties Telefon war fort gewesen, als sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, also hatte Ken bestimmt draufgeschaut und höchstwahrscheinlich ihre Textnachrichten gelesen. Es wäre dumm, zu lügen. »Meine Freundin Charlene.«
»Ah, die andere große Heldin. Und hätte Miss Charlene erwartet, heute Abend noch einmal von dir zu hören?«
Jetzt würde sie lügen. Sie sah Vivian direkt in die Augen. »Nein.«
»Hmm.«
»Wir dachten, Ihr Mann wolle mich für eine Web-Reihe interviewen. Es gibt eine Menge schleimiger Typen da draußen, die sich als Produzenten ausgeben, also habe ich ihr kurz Bescheid gegeben und geschrieben, dass er kein Creep wäre. Es gab keinen Grund, ihr danach nochmal zu schreiben.«
»In Ordnung. Hast du einen Freund?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich habe mich vor drei Monaten von meinem Ex getrennt und seither niemanden kennengelernt.«
»Hmmm.«
»Das ist die Wahrheit.«
»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich dir nicht glaube. Was ist mit Charlene? Gibt es einen Mann in ihrem Leben?«
»Nein.«
Viv wirkte nicht überzeugt. »Ihr seid also beide Singles, was?«
»Ja.«
»Gib mir deine Hand.«
»Ich sage die Wahrheit.«
»Gib mir deine Hand.«
»Charlene steht nicht auf Männer. Sie wird also niemals einen Freund haben.«
»Das hättest du gleich klarstellen sollen, als ich dir die Frage gestellt habe. Ich werde das als Unterschlagung von Informationen werten. Gib mir deine Hand.«
»Fick dich doch.«
Viv lächelte. »Oh, na ja, wenn du meinst, dann habe ich wohl keine andere Wahl, als es zu lassen, oder? Ich bin so eingeschüchtert von dem kleinen Mädchen in dem Käfig, dass ich sie selbst entscheiden lasse, ob sie das Messer unter ihrem Nagel haben will oder nicht. Weißt du, es muss nicht genauso laufen, wie beim ersten Mal. Ich kann dir das Messer auch bis zum Fingerknöchel reinrammen. Möchtest du, dass es auf diese Art läuft?«
»Ich habe dich nicht angelogen.«
»Und ich bin ganz ehrlich zu dir, wenn ich dir das hier sage: Es ist mir egal. Gib mir deine Hand.«
Nun flossen Tränen. Gertie schob die Hand erneut durch die Stäbe.
Viv rammte ihr das Messer zwar nicht bis zum Knöchel in den Ringfinger, aber sie zog die Klinge auch nicht so schnell wieder heraus wie zuvor. Es dauerte mehrere Momente, bis Gertie zu kreischen aufhören konnte.
»Reden wir über die Männer in deinem Leben«, schlug Viv vor. »Lebt dein Vater noch?«
»Ja.«
»Lebt er hier in der Nähe?«
»Nein.«
»Gibt es jemanden auf der Arbeit? Einen gut aussehenden Kollegen? Den Boss?«
»Fick dich. Ich hetze dich keinem von ihnen auf den Hals.«
»Mir gefällt dein Trotz. Wenn ich eine Lesbe wäre wie deine Freundin, würde mich das richtig anmachen. Dir ist klar, dass ich diese Infos ganz leicht kriegen kann, oder? Ich brauche nur zu googeln. Es wird keine großen Mühen kosten, herauszufinden, wer der erste Mann ist, der dich vermisst, wenn du nicht nach Hause kommst. Also warum machst du es dir nicht etwas leichter und sagst es mir selbst?«
»Fahr zur Hölle«, sagte Gertie.
»Ich bin sicher, dass es in der Garage auch eine Kneifzange gibt. Ich kann deine Fingernägel mit dem Messer lockern und sie dir dann ausreißen.«
»Ich sagte: Fahr zur Hölle.«
»Na schön. Wenn du das Spiel unbedingt auf diese Art spielen willst, von mir aus. Also bist du doch noch darauf gekommen?«
»Worauf denn?«
»Du bist darauf gekommen, dass ich deine Antworten gar nicht brauche. Wie gesagt, ich kann das alles auch online herausfinden. Und anschließend deiner Arbeitsstelle einen kleinen Besuch abstatten. Mich dort ein wenig amüsieren. Und weil du jetzt weißt, dass ich deine Antworten gar nicht brauche, weißt du wohl auch, dass der Teil des Verhörs, den ich am liebsten mag, der Teil ist, bei dem ich dir die Hände ruiniere. Also lassen wir das Frage- und Antwortspiel und kommen gleich zum guten Teil.«
Vivian saß oben auf der Couch, als Ken das Haus betrat.
»Hat sie dir gegeben, was du brauchst?«, fragte er.
Vivian zuckte die Achseln. »Es war genug.«
»Ich habe ein Antiseptikum, Verbandszeug, Mull, sowie Nadel und Faden. Ich werde sie nähen, so gut ich es kann, es sei denn, du möchtest das machen.«
»Ich verzichte.«
Er ging die Treppe hinunter und betrat den Kellerraum. Gertie hing vornübergebeugt und mit leeren Augen in ihrem Käfig. Hätte sich ihr Brustkorb nicht regelmäßig gehoben und gesenkt, hätte Ken angenommen, sie sei bereits tot. Als er zum Käfig hinüberging, sah er, dass die Fingerspitzen an allen zehn Fingern blutig waren.
Wow. Die Zicke war wohl kein bisschen kooperativ gewesen.
Ken goss etwas Chloroform auf einen Lappen, steckte die Hand durch die Stäbe und drückte ihn Gertie ins Gesicht. Es schien keinen Unterschied zu machen, doch er würde sie ganz sicher nicht entkommen lassen, weil sie ihm eine Katatonie vorspielen konnte.
Das Nähen ihrer Stichverletzungen war furchtbar gelaufen. Die klaffenden Wunden waren ein fädendurchzogenes Chaos, aber sie schienen ausreichend geflickt, um zu verhindern, dass sie zu viel Blut verlor. Ken machte sich keine Illusionen, dass sie lange genug leben würde, um an Hunger zu sterben, aber solange ihre Wunden sich nicht entzündeten – und das war durchaus möglich, denn wenn er den Käfig hinaufgehievt hatte, würde er ihn nicht noch einmal hinablassen –, würde sie zumindest noch ein paar Tage lang weiterleben.
Er schloss die Tür, gab den Code zum Verriegeln ein und ging dann nach oben.
Vivian saß unverändert auf der Couch. »Wie geht es ihr?«, wollte sie wissen.
»Nicht besonders gut. Das ist ziemlich schrecklich, was du mit ihren Fingern gemacht hast.«
»Sie hat Glück, dass ich keine Lust hatte, nach einer Zange zu suchen.«
»Aber du hast die Infos aus ihr rausgekriegt?«
»Ich weiß, was mein nächster Schritt ist, ja.«
»Und der wäre?«
»Ist das dein Spielzeug im Schlafzimmer?«
»Nein«, erwiderte Ken. »Nichts davon. Ich schwöre dir, das ist nicht meins. Es gehört alles meinem Freund Darrell. Er zahlt den Großteil der Miete für das Haus.«
»Brauchen wir einen DNA-Test, um ganz sicher zu gehen?«
»Ich lüge dich nicht an.«
»Weiß ich doch. Ich verarsch dich doch bloß, mein Schatz. Macht es Darrell etwas aus, wenn wir uns ein paar davon ausleihen?«
»Das nehme ich an.«
»Macht es dir etwas aus, ob es ihm etwas ausmacht?«
»Nein, gar nicht. Wir waschen das Zeug danach.«
»Na dann los.«