»Was zum Teufel?«, fluchte Ken, während das Blut bereits zu fließen begann.
»Ich habe doch nicht tief geschnitten.«
»Ihr Hals blutet. Das ist wohl tief genug!«
Jared hatte Charlene zwar nicht die Kehle durchgeschnitten, doch es war eine ziemlich scheußliche Wunde an der Seite ihres Halses. Drei schmale Rinnsale Blut tröpfelten auf ihr Shirt hinab, und dann kam rasch noch ein viertes hinzu.
Gertie zog an den Gitterstäben, derartig blind vor Wut und Entsetzen, dass sie dachte, der Adrenalinschub müsse ihr eigentlich genug Kraft verleihen, Stahl zu verbiegen. Natürlich tat er das nicht. Und es gab verdammt nochmal nichts, was sie tun konnte, um diese Psychos davon abzuhalten, Charlene zu zerstückeln.
Die Wunde brannte, und Charlene konnte spüren, wie ihr das Blut den Hals hinunterlief, aber da ihre Arme gefesselt waren, konnte sie nicht dorthin fassen, um herauszufinden, wie viel es war. Zumindest atmen konnte sie noch.
Ken schien außer sich vor Wut. Er verpasste Jared einen Hieb auf den Hinterkopf, der so heftig war, dass sein Sohn das Messer fallen ließ. Jared fuhr herum, und einen Augenblick lang dachte Charlene, dass die beiden Männer sich prügeln würden, doch dann trat Jared zurück und rieb sich den Kopf.
»Was sollte das denn jetzt?«, wollte er wissen.
»Das ist nicht
, wie wir es machen. Du schlitzt sie nicht auf wie ein wildgewordener Spinner. Wie lange wird sie jetzt wohl noch leben; was glaubst du?«
»Ich dachte, es ginge darum, sie zu töten.«
»Aber doch nicht so! Wenn du unbedingt eine Kehle durchschneiden willst, dann such dir eine Prostituierte und tue es hinter dem nächsten Müllcontainer. Das hat nichts mit dem zu tun, was ich dir beizubringen versuche. Sieh dir nur das ganze Blut an.«
»Ich habe ihr nicht die Kehle durchgeschnitten. Das sind nur winzige Blutrinnsale. Wenn wir ein Pflaster draufkleben, geht es ihr wieder gut. Mir war nicht klar, dass du derartig besorgt um ihr Wohlergehen bist.«
»Das hier war ein Fehler«, sagte Ken. »Deine Mom war eine Idiotin, dich hierher zu bringen.«
»Bezeichne Mom nicht als Idiotin.«
»Ich habe sie nicht als Idiotin bezeichnet. Ich sagte, sie hat sich idiotisch verhalten.«
»Nein, du hast sie als Idiotin bezeichnet.«
»Wage es nicht, mir zu widersprechen. Ich weiß, dass die Umstände eigenartig sind, doch ich bin hier immer noch der Vater und du immer noch mein Sohn. Solange du in meinem Haus lebst und das Essen isst, das ich bezahle, respektierst du mich gefälligst. Hast du mich verstanden?«
Jared schien zu begreifen, dass er zu weit gegangen war. »Ja, ich habe dich verstanden. Ich habe nur schon so lange auf das hier gewartet, dass ich etwas zu aufgeregt war. Ich hätte ihr
nicht den Hals aufschlitzen sollen. Tut mir leid.«
Ken legte Jared eine Hand auf die Schulter. »Ist in Ordnung. Ich hätte dich nicht so anfahren sollen.«
Charlene konnte nicht fassen, dass sie diese verschissene Darbietung einer Vater-Sohn-Versöhnung mitansehen musste. Die beiden sahen aus, als würden sie einander als Nächstes umarmen, dann in Tränen ausbrechen und sich zuletzt gegenseitig versichern, wie sehr sie sich lieb hatten.
»Ich werde mal nach deiner Mom sehen«, sagte Ken. »Ich bin nur eine Minute weg, aber du kannst unterdessen mit ihr machen, was immer du willst. Warte, ich nehme das zurück – nichts Sexuelles. Alles andere ist okay.«
Jared hob das Messer vom Boden auf. »Darf ich ihr die Augen ausstechen?«
»Wenn du willst. Das würde bedeuten, dass sie nicht mehr sehen kann, was als Nächstes passiert.«
»Das wäre doch dann noch beängstigender.«
»Nein. Es ist beängstigender, wenn sie das Messer kommen sieht.«
»Dann vielleicht nur ein Auge.«
»Das liegt ganz bei dir. Aber fass Gertie nicht an.«
»Mache ich nicht.«
»Viel Spaß.«
»Wenn du mir ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk machen willst, dann lass mich hier eine Stunde lang allein.«
»Du hast Glück, wenn du eine Minute bekommst. Vielleicht bin ich auch schon vorher zurück.« Ken ging zur Tür. »Tu nichts, bis ich oben bin. Wir wollen nicht, dass die Nachbarn etwas hören.«
Ken verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Charlene nahm an, das hieß, dass es auch oben eine Lärmschutztür zum Keller gab. Wenn sie wartete, bis seine Schritte nicht mehr knarzten, wüsste sie, wann er die obere Tür
öffnete. Aber wenn sie dann um Hilfe schrie, hatten sie keine andere Wahl, als sie zum Schweigen zu bringen. Das würde sie sich für den Moment aufsparen, wenn sie akzeptieren musste, dass es keinen Ausweg gab, und sich einen raschen Tod wünschte. Vorerst glaubte sie immer noch, dass sie und Gertie lebend davonkommen konnten.
»Ich bin lesbisch«, verriet sie ihm.
»Und?«
»Und ich wette, du hattest noch nie Sex mit einer Lesbe. Richtig?«
»Natürlich nicht. Ich bin ein Kerl. Genau darum geht es doch, wenn du eine Lesbe bist. Du bist wohl nicht sehr gut darin, sonst wüsstest du das.«
»Ich meine ja bloß, dass diese Gelegenheit vielleicht nie wiederkommt. Wie sollte ich dich davon abhalten?«
»Selbst wenn ich eine Lesbe vögeln wollte – und das will ich, zugegeben –, werde ich das sicher nicht machen, wenn jeden Moment meine Mutter hereinkommen kann.«
»Sag ihr doch einfach, sie soll nicht wieder herunterkommen.«
Jareds Lachen war überraschend hoch. »Ich verzichte darauf, dich zu vergewaltigen, während meine Eltern im Haus sind. Wie mein Dad gesagt hat, du versuchst nur, mich dazu zu bringen, einen Fehler zu machen. Das wird nicht passieren. Und du brauchst dich nicht zu sorgen, dass ich dir ein Auge ausstechen werde. Ich werde dir gar nichts tun. Ich warte einfach nur geduldig, bis Mom und Dad zurückkommen.«
»Du Lappen.«
»Mir doch egal.« Jared fuhr mit Zeige- und Mittelfinger über Charlenes Hals und leckte dann genüsslich das Blut ab. »Mmh«, machte er und lächelte.
»Ich bin HIV-positiv«, log Charlene.
Jared stieß ein entsetztes Keuchen aus und wischte sich
panisch über den Mund. Er spuckte auf den Fußboden während er rückwärts vor ihr zurückwich.
Gertie trat ihm gegen den Hinterkopf.
Es war keinerlei Genugtuung in ihrem Gesicht abzulesen. Die Beine zu bewegen, hatte ihr offensichtlich furchtbare Schmerzen bereitet. Aber sie hatte es geschafft.
Jared stürzte nach vorn. Das Messer fiel ihm aus der Hand und schlitterte über den Boden auf Charlene zu.
Diese warf sich mit ihrem gesamten Körper nach rechts. Der Stuhl kippte zur Seite, krachte auf den Betonboden und landete dabei auf Jareds Hand.
Er kreischte auf.
Die Armlehne des Stuhls war beim Aufprall zwar nicht gebrochen, hatte sich jedoch ein wenig verdreht. Ein heftiger Ruck mit der rechten Hand, und die Armlehne sprang aus dem Rückenteil. Charlene machte sich rasch daran, ihre Hand zu befreien. Selbst wenn die Schalldämmung ausreichte, Jareds Kreischen zu schlucken, würden Ken und Vivian sicherlich trotzdem jeden Moment zurückkehren.
Jared, der nun schluchzte, zog seine Hand unter dem Stuhl hervor. Für den Moment war er mehr mit seinen zerquetschten Fingern beschäftigt als mit Charlenes Befreiungsversuchen.
Es gelang ihr, den Arm aus dem Seil zu winden.
Sie griff nach dem Messer. Daneben. Beim zweiten Versuch bekam sie es zu fassen.
Vielleicht wäre Jared als Geisel nützlich, aber Charlene war immer noch größtenteils an den Stuhl gefesselt und glaubte nicht, dass er lange genug auf seine Hand fokussiert blieb, damit sie sich komplett davon befreien konnte. Also rammte sie ihm das Messer in die Kehle.
Ein Schwall warmen Blutes spritzte ihr ins Gesicht.
Jared gab entsetzliche Würgelaute von sich, während er mit seiner Hand nach seinem Hals krallte.
Charlene begann das Seil durchzuschneiden, das ihre andere Hand fesselte.
Bitte lass sie oben bleiben. Bitte lass sie oben bleiben. Bitte lass sie oben bleiben.
Jared versuchte, nach ihr zu greifen, doch es war sinnlos, er war bereits zu schwach.
Charlene vermied es, in seine Richtung zu schauen, während sie die Seile durchtrennte; der grässliche Anblick würde sie nur ablenken.
Sie schnitt ihre linke Hand los.
Jetzt würde es schneller gehen, die Seile einfach aufzuknoten. Sie hatten sie zwar nicht unbedingt nachlässig gefesselt, doch offensichtlich vorgehabt, sie die ganze Zeit im Blick zu behalten, während sie an den Stuhl gebunden war. Sie würde es schaffen, sich loszubinden. Sie musste nur beten, dass sie nicht allzu schnell zurückkamen.
Jared bewegte sich kaum noch. Die sich ausbreitende Blutlache berührte Charlenes Arm. Doch da sie sich momentan keine Sorgen um ihr eigenes Blut machte, würde sie sich wohl kaum welche über seins machen. Sie machte sich weiter an den Seilen zu schaffen.
»Du machst das großartig«, feuerte Gertie sie an.
Die Fesseln lösten sich immer weiter.
Sie hörte das Knarren der Stufen.
Charlene hatte die Knoten so schnell gelöst wie sie konnte, und es gab keine Möglichkeit, das Ganze zu beschleunigen, auch dann nicht, wenn gerade Gefahr im Verzug bestand. Hätte sie etwas mehr Zeit gehabt, dann hätte sie sich hinter der Tür versteckt, um sie aufzulauern. Ken und Vivian wären hereingekommen, hätten ihren toten Sohn entsetzt angestarrt, und sie hätte beide mit dem Messer erledigt. Dieser Plan – sowieso kein narrensicherer –, war jetzt vom Tisch, es sei denn, sie würden die Treppe sehr, sehr langsam herunterkommen.
Sie befreite sich genau in dem Moment vom Stuhl, als sich der Türknauf zu drehen begann.
Was jetzt? Mit dem Messer in der Hand quer durch den Raum auf sie zu rennen?
Vor wenigen Minuten hatte Ken noch seine Knarre gehabt. Sie hatte die Ausbuchtung unter seinem Hemd gesehen. Es gab keinen Grund, wieso er sie beiseitegelegt haben sollte. Selbst wenn Charlene schneller auf ihn zu rannte, als sie je in ihrem Leben gerannt war, hätte er immer noch genug Zeit, die Waffe zu ziehen und ihr einen Kopfschuss zu verpassen.
Es gab kein Versteck.
Die Tür schwang auf.
Natürlich sahen sie Jared sofort. Er lag reglos in einer riesigen Blutlache und war nicht zu übersehen. In einer perfekten Welt wären Ken und Vivian nun auf die Knie gesunken, nicht fähig mit dem Verlust ihres Sprösslings umzugehen. Und tatsächlich drängte sich Vivian an ihrem Mann vorbei und eilte auf den Leichnam zu. Ken jedoch zog seine Waffe.
Charlene sprang auf, packte die seitlichen Gitterstäbe von Gerties Käfig und zog sich daran hoch. Sie versuchte, dabei das Messer festzuhalten, ließ es aber fallen, und es landete klappernd auf dem Boden. Sie hoffte in diesem Moment inständig, dass ihre Freundin verstehen würde, dass sie nicht vorhatte, sie als menschlichen Schutzschild zu missbrauchen, sondern darauf baute, dass Ken wollte, dass Gertie am Leben blieb. Vielleicht würde er es nicht riskieren, auf Charlene zu schießen, um Gertie dabei nicht versehentlich zu treffen.
Es war ebenso gut möglich, dass Gertie ihm inzwischen scheißegal war, oder zumindest für den Moment, nachdem er auf den blutüberströmten Leichnam seines Sohnes gestarrt hatte, doch Charlene hatte keine andere Wahl.
Vivian stieß ein derart leidvolles Heulen aus, dass es
Charlene unmöglich war, kein Mitleid zu empfinden, auch wenn sie gleichzeitig sah, wie sich Ken mit erhobenem Revolver auf den Käfig zubewegte.
Charlene zog sich noch weiter hinauf, so dass sich ihr Kopf jetzt auf gleicher Höhe mit Gerties befand. Es dämmerte ihr in diesem Moment, wie absolut lächerlich das alles war. Ken könnte sie auf jeden Fall töten, wenn er nicht gerade wegen ihrer misslichen Lage einen solch heftigen Lachanfall bekäme, dass er auf Jareds Blut ausrutschte und beim Aufprall ohnmächtig wurde. Ja, auch sie selbst wäre wohl mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit auf dem Boden gelandet, ihr Hirn um sie herum verteilt, wenn sie ihn angegriffen oder ein Messer oder den Stuhl nach ihm geworfen hätte, zumindest allerdings hätte sie dabei ihre Würde behalten.
Ken schien ihre Zwangslage leider nicht so amüsant zu finden. Er wechselte die Position, um einen guten Schusswinkel zu finden und sie vom Käfig zu holen, also hatte sie immerhin recht mit der Annahme gehabt, dass er Gertie noch nicht umbringen wollte. Charlene kletterte um den Käfig herum und versuchte dabei, Gertie ständig zwischen sich und Ken zu haben. Diese Taktik würde sie zwar nur für ein paar Sekunden länger am Leben halten, doch sie würde tun, was sie konnte, um das Beste aus diesem Augenblick herauszuholen.
Vivian hockte auf dem Boden und heulte immer noch, während sie Jareds Leiche in ihren Armen hielt.
Ken hielt Abstand, als hätte er Angst, dass Charlene noch irgendeinen Trumpf im Ärmel hatte. Trotzdem, er war keine zwei Meter von ihr entfernt. Es spielte letztendlich keine Rolle, dass sein Arm heftig zitterte. Wenn er abdrückte, konnte er sie nicht verfehlen.
Er drückte ab.
Charlene schrie auf, als die Kugel ihr linkes Bein aufriss. Er
hatte sie nicht verfehlt, doch offensichtlich weit mehr Schaden anrichten wollen, als diesen Streifschuss. Der Schmerz war heftig, allerdings nicht heftig genug, dass Charlene ihren Halt am Käfig verlor.
»Erschieß sie nicht!«, kreischte Vivian mit sich überschlagender Stimme. »Lass die verdammte Schlampe leiden!«
Ken legte die Waffe auf den Boden und machte einen Schritt auf den Käfig zu. Dann dachte er offenbar, er sollte die Knarre nicht in der Nähe liegen lassen und kickte sie auf die andere Seite des Kellers.
»Komm da runter«, fauchte Ken. »Mach es nicht schlimmer als es sein müsste.«
Charlene war sich ziemlich sicher, dass bereits die Höchststrafe auf sie wartete, wenn er sie letztendlich vom Käfig herunterholen würde. Sie machte sich darauf gefasst, so lange mit aller Kraft auf ihn einzutreten wie sie konnte.
»Was glaubst du, wohin du noch flüchten kannst?«, wollte er wissen.
Vivian heulte jetzt nicht mehr, sondern flüsterte ihrem Sohn Dinge ins Ohr. Charlene war froh, dass sie kein Wort verstand.
»Ich habe dir eine Frage gestellt«, sagte Ken.
Charlene ignorierte seine Frage weiterhin, war diese wohl ohnehin nur hypothetisch gemeint. Sie glaubte nicht, dass sie überhaupt noch irgendwo hingehen würde. Selbst wenn sie athletisch und fit genug wäre, von Käfig zu Käfig zu springen, würde ihr das nicht hier raushelfen.
Ken machte einen Schritt auf sie zu.
Gertie trat nach ihm. Es war ein armseliger Tritt und richtete kaum etwas aus.
»Ich breche dir deine verdammten Beine«, knurrte Ken.
Gertie trat erneut nach ihm, mit noch weniger Kraft.
Charlene hatte nicht die ganze Nacht in einem Stahlkäfig
gehangen, daher war ihr Tritt weitaus kräftiger. Sie traf seine Brust. Aber er packte ihr Bein und zog daran. Wäre es das angeschossene Bein gewesen, wäre der Schmerz wahrscheinlich so entsetzlich, dass sie die Gitterstäbe losgelassen und ihn mit sich machen lassen hätte, was er wollte, doch so riss sie ihr Bein los und trat ihm ins Gesicht.
Sie hörte kein befriedigendes Knacken, und er stürzte auch nicht zu Boden.
Er packte ihr verletztes Bein.
Der Schmerz war genau so entsetzlich, wie sie befürchtet hatte. Aber sie ließ den Käfig trotzdem nicht los. Sie trat ihn mit dem anderen Bein, und ihr verletztes Bein entglitt seinem Griff.
Sie warf einen Blick nach unten. Ken schien durchzudrehen vor lauter Wut.
Er stieß ein Gebrüll aus, dass noch lauter und verstörender als Vivians Heulen klang.
Charlene kletterte, so hoch sie konnte. Es war nicht genug Platz, um oben auf dem Käfig zu hocken, doch sie berührte bereits die Decke.
Ken hob das Messer auf, mit dem sein Sohn getötet worden war. »Du kannst mir nicht entkommen!«, schrie er.
Er packte die Gitterstäbe und zog sich daran hoch. Der Käfig neigte sich plötzlich in seine Richtung.
Und dann löste sich der Käfig, der offensichtlich nicht dafür ausgelegt war, dass Gewicht von drei Menschen zu tragen, mitsamt seiner Verankerung aus der Decke.
Einen Herzschlag lang schien er in der Luft zu schweben. Es fühlte sich an wie der Augenblick, bevor die Achterbahn in die erste, furchteinflößende Talfahrt hinuntersauste.
Dann krachte der Käfig auf den Boden.
Er landete auf der Seite und zerquetschte Ken unter sich.
Der Käfig rollte zurück, doch sein zerstörter Körper klebte an ihm fest und blieb daran hängen.
Charlene hatte sich beim Aufprall verletzt, vielleicht sogar einen Knochen gebrochen, aber darüber würde sie sich später Gedanken machen. Sie sprang vom Käfig herunter, in Richtung der Ecke, in die Ken den Revolver gekickt hatte.
Vivians Selbsterhaltungstrieb wog offenbar schwerer als das Bedürfnis, bei ihrer toten Familie zu bleiben. Sie eilte aus dem Raum und zog krachend die Tür hinter sich zu. Ein Piepen erklang von der anderen Seite.
Charlene hob die Waffe auf und stolperte zum Käfig zurück. Sie hatte keine Sekunde darüber nachgedacht, ob sie mit ihrer Beinverletzung überhaupt laufen konnte – sie hatte es einfach getan. Das Atmen fiel ihr etwas schwer, tat aber nicht weh, daher nahm sie an, dass ihre Rippen nur geprellt und nicht gebrochen waren.
Als Erstes musste sie nachschauen, ob Ken womöglich noch eine Bedrohung darstellte.
Das tat er nicht. Sein Körper klebte zwar nun nicht mehr am Käfig, und tot war er auch noch nicht, doch man konnte mindestens drei verschiedene Knochen aus seinem Körper hervorstehen sehen, und er war gerade im Begriff, an seinem eigenen Blut zu ersticken. Sie würde keine Kugel darauf verschwenden, ihn von seinem Leid zu erlösen.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Gertie zu, die reglos im Käfig lag.
Gerties Hose war an den Oberschenkeln blutdurchtränkt. Wäre der Käfig auf geradem Wege zu Boden gestürzt, hätte er Gerties Beine zerschmettert, doch ihre Verletzungen schienen trotz des ganzen Blutes nicht sehr schlimm zu sein. Keines ihrer Gliedmaßen war verdreht, und als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass Gertie noch atmete. Charlene wollte nicht darauf wetten, dass sie wieder völlig gesund werden würde, doch sie war sich ziemlich sicher, dass Gertie durch den Aufprall lediglich bewusstlos geworden war.
Sie ging zur Tür und probierte den Knauf zu drehen. Verschlossen. Neben der Tür gab es ein Tastenfeld für die Code-Eingabe, also kehrte sie zu Ken zurück und ging neben ihm in die Hocke.
»Wie lautet der Code?«, wollte sie wissen.
Er öffnete den Mund ein kleines bisschen, aber es kam kein Laut heraus.
»Sag mir die Kombination, oder ich breche dir die Finger.«
Obwohl er die Lippen bewegte, konnte sie nicht verstehen, was er sagte, war sich allerdings ziemlich sicher, dass es nicht die Kombination war.
Dann hörte er auf die Lippen zu bewegen, und sein ganzer Körper erstarrte.
Na gut. Sie waren im Keller eingeschlossen. Aber Charlene hatte eine Waffe. Sobald Vivian die Tür öffnete, um nach ihnen zu sehen, würde sie sie erschießen. Kein Problem.
Blieb nur die Frage, ob Vivian nach ihnen sehen würde.
Wenn der Keller schalldicht und ihr Mann ebenso tot wie ihr Sohn war, hatte sie vielleicht keinen Grund mehr, nach ihnen zu sehen. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.
Plötzlich wurde Charlene deutlich bewusst, wie viel Blut aus ihrer Halswunde auf ihre Kleidung gelaufen war und diese durchtränkt hatte.