Vivian hätte beinahe geschluchzt vor Erleichterung, als sie sich von dieser Schlampe abwandte. Wenn sie sich beeilte, könnte sie Gertie töten und Charlene dann den Rest geben, falls die bis dahin nicht ohnehin tot war. Sie würde sich eine Geschichte ausdenken müssen, die Sinn ergab, aber wenn sie hysterisch dabei wirkte – wenn sie also genauso hysterisch weitermachte wie bisher –, würde niemand von ihr erwarten, dass sie sofort berichten konnte, was geschehen war. Sie konnte einfach in Schweigen verfallen, bis sie sich alles zurechtgelegt hatte.
Fast wäre sie in die Knie gegangen, als sie die blutigen Leichen von Jared und Ken erblickte, doch sie zwang sich, das alles zu verdrängen. Sie musste nur noch Gertie töten, ein hilfloses, bewusstloses Mädchen in einem Käfig, dann würde alles in Ordnung kommen.
Sie nahm einen Umweg, um zu vermeiden, dass sie in die Blutlachen trat.
Gertie war natürlich nirgendwohin gegangen.
Vivian trat an den Käfig heran. Gerties Augen waren geschlossen, aber sie atmete noch. Vivian kam ihr nicht zu nah, für den Fall, dass das Mädchen nur so tat. Sie richtete den Lauf der Waffe auf Gerties Stirn und drückte ab.
Nichts geschah. Nur ein Klicken.
Wieso hatte sie keine Kugel mehr? Sie hatte doch nur fünf Mal geschossen.
Moment, sie hatte vergessen, dass Ken Charlene zuvor schon ins Bein geschossen hatte. Ja, in der Waffe war keine Kugel mehr. Sie warf das Ding auf den Boden. Ihre Fingerabdrücke waren zwar darauf, doch sie würde wahrscheinlich ohnehin zugeben müssen, dass sie auf Charlene gefeuert hatte, weil ihrer beider Blut sich draußen auf dem Boden vermischt hatte. Sie würde behaupten, in Notwehr gehandelt zu haben.
Gerties Tod wäre offensichtlich keine Notwehr. Den würde sie Ken anhängen müssen.
Vivian sah sich nach dem Messer um. Es lag auf dem Boden. Jareds Blutlache hatte es bereits erreicht, doch sie würde sich überwinden und es nehmen müssen. Keine Zeit zu zögern. Sie stieß einen gequälten Schluchzer aus, als sie die triefende Waffe aufhob.
Vivian kehrte zum Käfig zurück und steckte die Hand mitsamt dem Messer durch die Stäbe. Drei oder vier schnelle Stiche mitten in die Kehle, und Gertie wäre nicht mehr in der Lage, die Wahrheit über alles, was hier passiert war, von sich zu geben.
Gertie riss die Augen auf und packte Vivians Arm.
Gertie war vom Lärm der Schreie aufgewacht. Sie vergeudete ihre Energie nicht damit zu versuchen, sich aus dem Käfig zu befreien, sondern bewegte ihre Arme, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen. Das Gefühl von tausend Stecknadeln, mit dem die eingeschlafenen Glieder zum Leben erwachten, war die
reine Qual.
Sie hatte sich mindestens eine der Nähte an ihrem Bein aufgerissen, als sie den Jungen getreten hatte, und die anderen vermutlich, als der Käfig abgestürzt war. Ihre Hosenbeine waren blutdurchtränkt.
Dann hatte sie die Geräusche des Kampfes zwischen Vivian und Charlene gehört und sich gewünscht, sie wäre ebenfalls im Flur, um dabei zu helfen, Vivian sämtliche Arme und Beine zu brechen.
Sie hatte etwas gehört, das wie entferntes Hämmern klang. Versuchte da jemand, in den Keller zu gelangen?
Dann hörte sie die Schüsse.
Als die Tür aufschwang, hatte sie gebetet sie, dass es Charlene war, die sie retten kam. Als sie sah, dass es Vivian war, hatte sie schnell die Augen geschlossen.
Sie zwang sich, sie geschlossen zu halten, als Vivian zu ihrem Käfig herüberkam.
Irgendwie gelang es ihr, bei dem klickenden Geräusch nicht zusammenzuzucken. Hatte Vivian gerade versucht, sie zu erschießen?
Als sie merkte, dass sich Vivians Arm im Inneren ihres Käfigs befand, rührte sie sich.
Packte Vivians Arm.
Zog ihn herunter.
Es tat Vivian nicht weh, doch ihr langes, blondes Haar hing nun in den Käfig hinein.
Gertie packte Vivians Haare mit der freien Hand, schlang sie um ihre Faust. Gerties Finger waren alle offen und wund von der Messer-unter-die-Fingernägel-Behandlung, doch sie biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die schrecklichen Schmerzen an.
Zog so fest sie konnte.
Vivians Gesicht knallte mit dem Kinn voran gegen die
Gitterstäbe. Sie ließ das Messer fallen.
Gertie riss erneut an den Haaren.
Vivian krachte wieder gegen den Stahl. Ihre Nase platzte auf.
Sie kreischte etwas Unverständliches und versuchte, den Kopf wegzureißen, doch Gertie gelang es noch ein weiteres Mal an ihren Haaren zu zerren, und diesmal schlug Vivian genau mit dem Mund auf. Als sie aufheulte, fielen einige ihrer Zähne in den Käfig.
Das Gesicht der Frau war scheußlich anzusehen, aber sie war noch immer höchst lebendig.
Gertie hatte keine Kraft mehr, noch einmal an ihren Haaren zu ziehen.
Ihre Kraft reichte gerade noch aus, das Messer aufzuheben und es nach oben durch die Gitterstäbe zu stoßen.
Sie zielte auf den Hals der Frau, auf dieselbe Stelle, an der Jared Charlene aufgeschlitzt hatte. Aber Vivian bewegte sich. Die Klinge fuhr direkt in ihr Herz.
Während das Blut auf Gertie herabströmte, versuchte Vivian, sich aufzurichten. Im nächsten Moment sackte sie zu Boden. Es wäre ein krankes, beschissen romantisches Ende gewesen, wenn sie auf ihrem Ehemann gelandet wäre, aber Kens Leichnam lag auf der anderen Seite des Käfigs.
Gertie wischte sich Vivians Blut aus den Augen. Etwas davon war genau in ihr rechtes Auge getropft, und nun blinzelte sie panisch, um das Brennen loszuwerden.
Doch es wollte nicht aufhören. Darüber würde sie sich später Sorgen machen.
Sie rief nach Charlene, die nicht antwortete.
Sie rief immer weiter nach ihr, obwohl sie mehrere Schüsse gehört hatte und die Tatsache, dass ihre Freundin sich jetzt nicht hier mit ihr in diesem Raum befand ziemlich eindeutig darauf schließen ließ, dass Charlene tot war.
Von draußen erscholl ein lautes Krachen.
Dann knarrten die Stufen. Zu viel Knarren, als dass es nur eine Person sein konnte.
»Hier liegt jemand!«, rief eine Männerstimme.
Zwei Männer betraten den Käfigraum. Polizeibeamte. Hätte sie diese Männer irgendwie vor dem warnen können, was sie erblicken würden, dann hätte sie es getan. Sie hätte sie davor gewarnt, dass hier nunmehr elf Käfige von der Decke hingen, von denen die meisten mit toten Körpern besetzt waren. Hätte sie davor gewarnt, dass ein Teenager mit durchgeschnittener Kehle in einer Blutlache auf dem Boden lag. Hätte sie gewarnt vor dem toten, von einem Stahlkäfig zerquetschten Mann. Und hätte sie auch davor gewarnt, dass da eine Frau lag, aus deren Herz das Blut strömte.
Die Polizisten sahen aus, als hätten sie all diese Warnungen gebraucht. Einer von ihnen drehte sich sofort wieder um und übergab sich, während der andere mit offenem Mund auf das Albtraum-Szenario starrte, was ihn umgab.
Der, der gerade noch gekotzt hatte, nahm sein Funkgerät vom Gürtel und trat aus dem Raum. Sie hörte ihn hastig etwas hineinsprechen, verstand aber nur »Verstärkung« und »Krankenwagen, sofort.«
Sofort.
Man brauchte keinen Krankenwagen, um Leichen einzusammeln. Schon gar nicht sofort.
Er konnte natürlich auch für sie bestimmt sein, aber Gertie war sich nicht sicher, ob der Beamte überhaupt gesehen hatte, dass sie noch lebte, bevor er den Raum verließ.
Sie wollte winken, um die Aufmerksamkeit des anderen Polizisten zu erregen, doch vorerst weigerten sich ihre Arme, noch irgendeinen Befehl auszuführen. »Ich bin am Leben«, brachte sie mühsam hervor.
Der Polizist eilte mit großen Augen zum Käfig herüber. Er
zog an der Tür, aber die ging nicht auf.
»Wir holen Sie da raus«, versprach er.
»Wie geht es meiner Freundin?«, fragte sie.
Der Polizist warf einen Blick auf die drei Leichen, als wisse wer nicht, was er ihr sagen sollte. »Welche ist ihre Freundin?«
»Sie ist im Flur.«
»Ich bin nicht sicher. Mein Partner sieht nach ihr. Sorgen Sie sich lieber um sich selbst.«
»Brauche ich nicht. Mir geht’s gut.«
Gertie war sich ziemlich sicher, dass sich die Stichwunden bereits entzündet hatten, und sie wusste noch nicht, welche Verletzungen sie sich beim Absturz des Käfigs zugezogen hatte. Außerdem war sie überzeugt davon, dass sie für die nächsten siebzig Jahre jede Nacht von Albträumen heimgesucht werden würde, doch solange Charlene nicht mit ihrem über die Wand verspritztem Hirn da draußen lag, glaubte Gertie tatsächlich, dass alles wieder gut werden würde.
Es fühlte sich endlos an, bis ein Beamter mit einem Bolzenschneider auftauchte. Bis dahin war Charlene bereits von einem Krankenwagen abgeholt worden. Noch war sie nicht tot. Der Polizist, der ihr geraten hatte, sich um sich selbst zu sorgen, informierte sie mit ernster Stimme darüber, dass Charlene nicht nur eine schlimme Halswunde und einen Schuss ins Bein erlitten hatte, was Gertie ja bereits wusste, sondern dass man ihr auch noch direkt in den Magen geschossen hatte.
Sie war bewusstlos und reagierte nicht auf Reize, aber sie lebte noch.
»Das wird hart für sie werden«, sagte der Polizist. »Wenn sie
jedoch durchhält, bis die sie auf den OP-Tisch bringen, dann glaube ich, dass sie es schafft.«
Charlene Fox hielt durch, bis die sie auf den OP-Tisch brachten.