KAPITEL 2

Nach dem Vorfall mit dem unbewohnten Haus

 

»Was wollen Sie damit sagen: Sie haben ihn?«, wollte Inspektor Geoffrey Lestrade wissen. »Wen haben Sie, Mister Holmes?«

»Den Mann, nach dem Scotland Yard seit dem Dreißigsten des letzten Monats vergeblich gesucht hat«, antwortete Sherlock Holmes. »Den Mann, der den ehrenwerten Ronald Adair mit einer abgestumpften Kugel tötete, die aus dem gleichen eigenartig konstruierten Luftgewehr stammt, mit dem er gerade eben eine Fensterscheibe meiner Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite der Baker Street zerschoss. Er wird sich wegen Mordes vor Gericht verantworten müssen und nicht wegen der Zerstörung einer Fensterscheibe. Und ebenfalls nicht wegen versuchten Mordes an einem Mann, den ganz London seit drei Jahren für tot gehalten hat. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Fang, Inspektor Lestrade!«

Dr. John H. Watson runzelte die Stirn. Die drei Jahre, die vergangen waren, hatten seinen Freund nicht verändert, weder seine Ungeduld mit Menschen, die weniger rasch im Denken waren als er, noch seine Neigung, anderen den Lohn seiner Arbeit zuzuschreiben. Die Jagd war nach wie vor von überragender Wichtigkeit, und war sie vorüber, gefiel es ihm durchaus, sich hinter Unterlegene zu stellen und sie als die Überlegenen erscheinen zu lassen.

Der Gefangene wehrte sich gegen den Griff der beiden kräftigen Constables an seiner Seite, blieb aber erfolglos. Sein rotes Haar und der breite Schnauzbart bebten und stellten sich auf wie das Fell eines wütenden Tieres. Sein Gesicht wirkte maskulin und finster, die Stirn eines Philosophen über dem Kinn eines Wüterichs. Der Mann stierte alle wild an, die an seiner Gefangennahme beteiligt gewesen waren, besonders aber Sherlock Holmes. »Sie schlauer, schlauer Hund!«, knurrte er den Detektiv an. »Aber das ist noch nicht das Ende, Holmes!«

»Oh doch, Oberst Moran«, gab dieser zurück. »Reisen gehen zu Ende, wenn die Liebenden sich begegnen, heißt es in jenem alten Theaterstück von Shakespeare. Ich habe darauf gewartet, dass ich die Ehre haben würde, Ihnen wieder zu begegnen, seit Sie mir Ihre Aufmerksamkeit widmeten, als ich auf dem Vorsprung über dem Reichenbachfall lag.«

»Sie hinterhältiger Kerl!«

»Gentlemen, gestatten Sie mir, Ihnen Oberst Sebastian Moran vorzustellen, früher im indischen Heer Ihrer Majestät beschäftigt und der beste Großwildjäger, der in den östlichen Provinzen des Empires zu finden war. Ich glaube, die Sammlung von Tigerfellen des Obersten dürfte unübertroffen sein, obgleich er heute Abend sein Ziel verfehlte. Die Zivilisation mag Sie ein wenig verweichlicht haben, sonst hätte ein alter Shikari wie Sie doch leicht die Strategie durchschaut, ein junges Zicklein an einen Baum zu binden und darauf zu warten, dass dieser Köder den Tiger in Sichtweite lockt.«

Oberst Moran bemühte sich, auf Holmes loszugehen. Sein Aufschrei ähnelte den Wutschreien jener Tiere, die er einst erlegt hatte. Er vermochte jedoch nicht, sich aus dem eisernen Griff der Constables loszureißen, die ihn grob zurückzerrten.

»Ich gestehe, dass Sie mich etwas überraschten, als Sie sich entschlossen, von dem gleichen verlassenen Haus aus, auf meine Wohnung zu schießen, in dem ich mich aufhielt, um Sie zu beobachten«, sagte Holmes. »Ich hatte damit gerechnet, dass Sie von der Straße aus angreifen würden, wie beim Mord an Adair, denn dort warteten mein Freund Lestrade und seine Leute auf Sie. Abgesehen davon jedoch ist alles sehr gut gegangen. London weist einen Mörder weniger auf, und ich kann meinem Beruf wieder in Ruhe nachgehen.«

Moran blickte Inspektor Lestrade an. »Wenn ich schon gefangen bin, dann soll es eben so sein, aber es gibt keinen Grund, warum ich dem Gewäsch dieses Mörders ausgesetzt sein soll.«

»Mörder?«, entfuhr es Watson.

»Er spricht von seinem Partner, dem verstorbenen Professor Moriarty, der statt meiner selbst am Reichenbachfall ums Leben kam, trotz aller Bemühungen des Professors und seines verborgenen Partners«, erklärte Holmes. »Er verstarb dort, sicherlich, aber ebenso sicher weder unglücklich noch durch einen Mord. Ich werde ob meines Anteils an jenen letzten Augenblicken Professor Moriartys bestimmt keine schlaflosen Nächte haben.«

Moran starrte ihn mit vor Hass glühenden Augen an. »Wenn ich in der Hand des Gesetzes bin, dann soll dies auf legale Weise geschehen!«

»Das klingt durchaus vernünftig«, gab Lestrade aufatmend zu. »Noch weiteres Gewäsch dazu, Mister Holmes?«

Holmes lächelte schmal. »Während der drei Jahre, die mittlerweile vergangen sind, scheinen Sie sich einen gewissen Humor angeeignet zu haben, vor dem ich mich hüten muss, Lestrade. Aber ansonsten: Ja, ich bin mit Oberst Moran fertig.«

Auf ein Nicken Lestrades hin entfernten die Constables den in Handschellen gelegten Gefangenen aus dem Raum und eilten mit ihm hinunter zu dem in der Baker Street wartenden Polizeiwagen.

Holmes untersuchte das Luftgewehr. »Eine bewundernswerte und einmalige Waffe von großer Durchschlagskraft, dazu mehr oder weniger lautlos«, meinte er. »Professor Moriarty hat die Anfertigung vor einigen Jahren bei dem blinden deutschen Konstrukteur Von Herder in Auftrag gegeben, und es hat in London genau wie im Ausland genug Unheil angerichtet, sowohl durch die beendeten Leben einiger Opfer wie auch durch ungelöste Fälle, denen sich Dutzende von Polizeidienststellen gegenübersahen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal die Chance haben würde, es in Händen zu halten. Wenn Sie diese Waffe, ihre einmaligen Geschosse und Oberst Moran mit dem Mord an dem ehrenwerten Ronald Adair in der Park Lane 427 in Verbindung bringen, werden Ihnen eine Reihe von Detektiven großen Dank schulden. Ich übergebe es Ihnen zu treuen Händen, Lestrade.«

»Ich werde es wohlbehüten, Mister Holmes«, entgegnete Lestrade. »Genau wie Oberst Sebastian Moran. Wenn kein Wunder geschieht, bedeutet das die Schlinge des Henkers für ihn.«

Sherlock Holmes runzelte die Stirn. »Dann sollten Sie auf der Hut sein, denn so mancher Strafverteidiger hat noch fünf Minuten vor zwölf ein Wunder vollbracht, indem er etwas aus seiner Trickkiste zog.«

Sie traten aus dem unbewohnten Haus hinaus auf den Gehweg. Es war ein kühler Frühlingsabend mit klarem Himmel, die Gaslaternen flackerten friedlich die ganze Straße entlang. Da die Stadtpolizei nicht mehr anwesend war, konnte man nicht erkennen, dass sich in der Baker Street jüngst etwas Aufregendes zugetragen hatte. Für den flüchtigen Beschauer war nicht einmal die zerschossene Fensterscheibe in der 221b unmittelbar zu erkennen, ausgenommen das gelegentliche sanfte Flattern des Vorhangs hinter den Resten der Scheibe.

»Ich bin sicher, dass man mir diese Festnahme zuschreiben wird, aber halten Sie mich bitte nicht für einen Narren, der nicht weiß, wem der Ruhm wirklich gebührt«, erklärte Lestrade. »Es ist so gut, Sie wieder unter den Lebenden zu wissen, Mister Holmes. Und glauben Sie mir, Sir, mein Gefühl hat nichts mit Verbrechen oder Verbrechern zu tun.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Gute Nacht, Inspektor Lestrade!«

»Gute Nacht, Mister Holmes ... Doktor Watson.«

Als sie allein waren, sagte Watson: »Ein eigenartiger Bursche. Immer wenn ich glaube, ihn zu durchschauen, überrascht er mich aufs Neue.«

»Die Menschen sind genauso kompliziert und vielschichtig wie die Welt, in der wir leben«, bemerkte Holmes. »Es wäre ein ernst zu nehmender Fehler, zu glauben, dass die Dinge, die wir sehen, auch schon alles sind.«

»Ich habe viele Fragen in Bezug auf die Geschehnisse heute Abend, Holmes, und auch über den Mord an Adair«, begann Watson und deutete mit einem Blick nach oben zu den Fenstern. »Vielleicht ein Glas Sherry und eine Zigarre, so wie früher ...«

Holmes zögerte unmerklich, doch seine kantigen Gesichtszüge verrieten kein Gefühl. »Eine halbe Stunde vielleicht, aber nicht länger. Sie haben für diesen Tag genügend Schockierendes erlebt.«

Als Watson die Räume betrat, die er so viele glückliche Jahre lang mit Holmes geteilt hatte, entfloh ihm ein leichter Seufzer der Nostalgie. Es sah hier genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Alles stand und lag am richtigen Platz: die Chemieecke mit dem alten, von säurezerfressenen Büchern bedeckten Tisch; das Regal mit den dicken Alben voller Zeitungsausschnitte und den Nachschlagewerken, die so mancher Verbrecher liebend gern verbrannt hätte; der Geigenkasten, der Pfeifenständer, sogar der mit Tabak gefüllte Pantoffel. Watson war so erfüllt vom Geist vieler Abende zuvor, dass er zuerst die beeindruckende Gestalt von Mrs. Hudson gar nicht bemerkte, die neben einer Wachsbüste mit Holmes' Zügen stand. Diese wies an einer Schläfe ein kleines Einschussloch auf und ein viel größeres Austrittsloch auf der anderen Seite.

»Ich habe getan, was Sie mir sagten, Mister Holmes«, versicherte die Haushälterin.

»Und haben Sie alle Vorkehrungen getroffen, die ich Ihnen einschärfte, Misses Hudson?«

»Ich bin jedes Mal auf die Knie gegangen, wie Sie mir auftrugen, Sir«, antwortete sie. »Und ich habe sie jede Viertelstunde weggerückt.«

»Und damit meinen Möchtegern-Angreifer vollkommen getäuscht«, stellte Holmes zufrieden fest. »Gut gemacht, Misses Hudson! Haben Sie beobachtet, wo die Kugel hinflog?«

»Sie hat Ihre wundervolle Büste zerstört, als sie diese durchschlug und an der Wand platt gedrückt wurde«, berichtete sie. »Ich habe sie vom Teppich aufgehoben.«

Holmes untersuchte das zerdrückte Geschoss. »Sehen Sie, Watson, das ist eine weiche Revolverkugel, eine sogenannte softnosed bullet. Das ist genial, denn wer würde erwarten, dass sie aus einem Luftgewehr stammt? Die Polizei muss doch auf ihrer Suche nach der Tatwaffe und dem Mörder vermuten, dass der Schuss ganz aus der Nähe kam, obgleich er in Wirklichkeit mit großer Genauigkeit aus einer extremen Entfernung abgefeuert wurde. Sehr gut, Misses Hudson, ich bin Ihnen für Ihre Unterstützung in dieser Sache sehr verbunden.«

Die Haushälterin zögerte. »Da ist noch etwas, Mister Holmes.«

»Ja?«

»Ich glaube, aus Ihrem Zimmer ein Geräusch gehört zu haben«, erklärte sie. »Es war so schwach, dass ich mir überhaupt nicht sicher war, etwas vernommen zu haben. Aber als ich die Tür öffnen wollte, fand ich sie abgeschlossen. Ich hätte sie ja trotzdem öffnen können, aber die Zeit reichte nicht.«

»Ich bin sicher, es hatte nichts zu bedeuten, Misses Hudson«, beruhigte Holmes sie. »Es mag ein Geräusch in den Hauswänden gewesen sein ... oder eine Maus oder sogar ein Laut von der Straße.«

»Ja, Sir«, stimmte sie zu, obgleich sie nicht überzeugt wirkte.

Nachdem Mrs. Hudson die beiden Freunde verlassen hatte, nippten sie an ihrem Sherry, pafften vehement, und Holmes berichtete von dem Mord an Ronald Adair, der die Londoner, inklusive Watson, so gründlich verblüfft hatte. Für diesen war das alles wie in alten Zeiten, sodass er sich gelegentlich eine heimliche Träne von der Wange wischen musste. Langsam verflog die Erregung nach den Ereignissen dieses Abends, und Watson wurde schläfrig und sehnte sich nach seinem Bett.

»Es gibt da eine Sache, die mir nach wie vor ein Rätsel ist«, begann er dennoch.

»Was denn, alter Freund?«

»Dieser Wachtposten, den Oberst Moran aufgestellt hatte.«

»Ach ja, dieser Würger Parker, der so gut auf der Maultrommel spielt. Was ist mit ihm?«

»Er wurde postiert, um die Wohnung zu beobachten, nachdem Ihre Feinde von Ihrer Rückkehr nach London erfahren hatten, und er dürfte seinem Herrn von Ihrer Ankunft in der Baker Street berichtet haben«, führte Watson aus. »Warum sonst konnten Sie erwarten, dass Oberst Moran hinter Ihnen her sein würde?«

»Ganz recht«, bestätigte sein Gegenüber. »Und was stört Sie daran?«

»Wenn er Sie beobachtet hat, wie Sie das Haus betraten, hätte dieser Parker auch genau darauf geachtet, wer aus dem Gebäude kam oder hineinging«, sagte der Doktor. »Er hätte bemerkt, dass Sie herauskamen, wenn auch in der Verkleidung als der Buchhändler, den ich in der Oxford Street getroffen hatte. Mich hat diese Verkleidung vollkommen getäuscht, aber ich hatte ja auch keinen Grund, nach Ihnen Ausschau zu halten, während Parker damit rechnen musste. Hätte er jemanden aus dem Gebäude treten sehen, den er nicht hineingehen gesehen hatte, wäre er bereits misstrauisch geworden. Ihre Fähigkeiten, was Verkleidungen und Täuschungen betrifft, sind weitgehend bekannt, sodass man ihm mit Sicherheit aufgetragen hätte, gerade nach solchen Anzeichen Ausschau zu halten. Obgleich die Wachsbüste Ihnen ausgesprochen ähnlich sieht, hätte sie Oberst Moran nicht derart getäuscht, wenn er auch nur den geringsten Verdacht gehabt hätte, dass Sie das Gebäude verlassen hatten, verkleidet oder nicht. Und dennoch ging er so direkt vor, als gäbe es keine Chance, dass Sie ihn getäuscht haben könnten. Irgendwie klingt das nicht sehr wahrscheinlich.«

»Dann war es ja gut, dass jemand wie Parker mich beobachten sollte und nicht Sie«, entgegnete Holmes und lachte. Er sah auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. »Es wird Zeit, dass Sie ins Bett kommen, mein lieber Watson; wie mir Ihre zufallenden Augen zeigen. Gute Nacht!«

Watson seufzte erschöpft. Fragen und Zweifel plagten ihn nach wie vor, doch er war zu müde, um klug daraus zu werden. Vielleicht konnte er später, wenn er seine Notizen durchforstete, etwas Ordnung in die Ereignisse dieses Tages bringen. Er sagte seinem Freund Lebewohl und ging aus dem vertrauten Haus, winkte einer vorbeikommenden Droschke und fuhr nach Hause, nach Kensington.

Holmes schloss die Tür, verriegelte sie aber nicht. Sein Besucher würde bald eintreffen. Er las die Briefe, die er erhalten hatte, der eine in einer sehr vertrauten Handschrift, der andere von seinem Bruder Mycroft weitergeleitet. Ihm hatte er es zu verdanken, dass ihm diese Wohnung erhalten geblieben war und er über die Mittel verfügt hatte, um während der vergangenen drei Jahre heimlich einige Untersuchungen zu veranlassen.

Die Geister im East End.

Das Verschwinden von Menschen, darunter der geheimnisvolle Fall jenes gesunden jungen Mannes, der vermisst wurde.

Auch ohne den Mord an dem ehrenwerten Ronald Adair und die Chance, es Oberst Sebastian Moran heimzuzahlen, war die Zeit gekommen, nach London und unter die Lebenden zurückzukehren. Zumindest jetzt, da Moran aus dem Weg war, konnte er sich darauf konzentrieren, die Rolle zu spielen, derentwegen er herbeigerufen worden war.

Mit einem Mal begann er, die Schwärze des nächtlichen Londons zu spüren, den enormen Kosmos dahinter, den bis ins Unendliche reichenden Weltraum, der sich in sich selbst zurückkrümmte, wobei der Anfang und das Ende in einer unbekannten Gegenwart verschmolzen. Er fühlte sich, als sei er zwischen den mahlenden Rädern eines gewaltigen Uhrwerks eingeschlossen.

Er schüttelte den Griff des irrationalen Unbekannten ab und sah noch einmal auf die Uhr.