KAPITEL 3

Meines Bruders Hüter

 

Genau zur Viertelstunde erklang ein leises Klopfen von der Tür unten. Der Besucher war ein großer Mann, der das mittlere Alter überschritten hatte. Sein Ausdruck war ernst und seine Kleidung tadellos. »Mister Holmes? Ich bin ...«

»Treten Sie bitte ein, Sir Reginald Dunning«, sagte Holmes hastig. »Ihre Pünktlichkeit ist bestechend. Ich bin froh, dass Sie die Freundlichkeit haben, zu dieser späten Stunde …«

»Ich bin es, der Ihnen zu danken hat, dass Sie mich überhaupt empfangen«, erwiderte Sir Reginald. »Ihr Bruder hält sehr viel von Ihnen und er scheint zu glauben, dass Sie herausfinden können, was mit William, meinem Bruder, geschehen ist. Ich habe niemandem gesagt, dass ich Sie besuchen werde. Ihr Bruder hat darauf bestanden, dass ich Ihre Rückkehr nach London absolut geheim halte.«

»Ja, das hatte einen guten Grund, der mittlerweile jedoch nicht mehr gilt. Sobald die Morgenzeitungen verkauft werden, wird ganz London erfahren, dass ich nicht starb, wie mein Freund Watson glaubte und so schmerzerfüllt berichtete. Bitte nehmen Sie Platz, Sir Reginald, und nennen Sie mir die Einzelheiten, soweit Sie diese kennen, das Verschwinden Ihres Bruders betreffend.«

»Ich fürchte, dass William das letzte Opfer dessen wurde, was man gemeinhin als das Verschwinden zu bezeichnen pflegt«, sagte Sir Reginald. »Ich nehme an, Sie sind mit diesem Phänomen vertraut?«

»Ja. Diese plötzliche Flut von Vermissten ist zum Teil der Grund, der mich zu meiner Rückkehr nach London veranlasste«, erklärte Holmes. »Deshalb habe ich mich bereit erklärt, Sie sofort zu empfangen, nachdem mir Mycroft Ihren Brief übergeben hatte. Bitte fahren Sie fort, Sir.«

»Mein Bruder ist viele Jahre jünger als ich, und zwischen uns klaffte stets ein tiefer Abgrund. Wir sind in vielerlei Hinsicht das Gegenteil voneinander, was Haltung und Ansichten betrifft. Ich war immer praktisch veranlagt, solide und bodenständig, und ich war ja auch seit dem Tod unserer Eltern für William und mich selbst verantwortlich. Ich habe ihn stets behütet, vielleicht sogar ein wenig zu sehr. Ich will nicht unbescheiden sein, aber ich allein war es, der die Dunning Güter- & Handels-Compagnie zu ihrer jetzigen Größe und Bedeutung aufgebaut hat.«

»Ihr Bruder war an der Gesellschaft nicht interessiert?«

»Als ich das Unternehmen gründete, war er noch zu jung, um daran mitzuarbeiten«, erklärte Sir Reginald. »Später übertrug ich ihm so viel Verantwortung, wie ich glaubte, das er tragen konnte. Er ist auch kein schlechter Mitarbeiter, denn er macht stets, was man ihm aufträgt, so gut es seine Fähigkeiten zulassen. Aber er hatte immer schon Schwierigkeiten, sich auf die jeweils anliegende Aufgabe zu konzentrieren. Irgendetwas scheint stets vorhanden zu sein, was ihn ablenkt.«

»Alkohol?«, fragte Holmes. »Frauen? Glücksbringende Narkotika?«

»Nein! Ich hätte diese Laster nicht unterstützt, doch zumindest hätte ich sie verstehen können. William war schon immer ein leichtsinniger Bursche, er grübelte und las zu viel, sehnte sich stets nach Abenteuern, nach Ländern jenseits des Horizonts. Ich hoffte, er würde diese romantischen Flausen ablegen, wenn er reifer würde, aber wenn überhaupt, wurden sie noch stärker. Eine seiner Aufgaben war die Kontrolle von Ladungen und Schiffspapieren, jedoch schien er ständig mit Seeleuten und dem Pack im Hafen zu schwatzen und war mit seinen Berichten oft zu spät daran. Trotz meiner Bemühungen ...«

»Erzählen Sie mir, wie Ihr Bruder verschwunden ist!«, forderte Holmes ihn auf.

»Das war vor vier Nächten. Er inspizierte ein paar kürzlich eingelaufene Schiffe im Albion-Hafen. Es war eine einfache Aufgabe, die er mühelos vor Beginn der Nacht erledigen konnte, aber der Hafenmeister berichtete mir, er habe seinen Hafen erst sehr spät verlassen. Statt geradewegs nach Hause zurückzukehren, scheint es, dass er noch in der Taverne Zum Neptun einkehrte, eine dieser Seemannskneipen, die mein Bruder unerklärlicherweise so mag. Ein Agent, den ich mit Nachforschungen beauftragte, berichtete, dass William die Taverne allein verließ, doch ich halte es für möglich, dass sein Geld jemanden anlockte, der ihm folgte und ihn dann überfiel.«

»Ihr Agent vermochte das jedoch nicht zu bestätigen?«

»Nein.«

»Es gab keine Spur von ihm? Vielleicht in einem Krankenhaus oder einem Etablissement dieser Gegend?«

»Nein, Mister Holmes. Alles wurde gründlich überprüft.«

»Ich nehme an, es gab keine Lösegeldforderung?«

»Das ist korrekt.«

»Wäre es vorstellbar, dass Ihr Bruder seiner langjährigen Sehnsucht schließlich doch nachgegeben haben könnte? Falls er wirklich weglaufen und zur See fahren wollte, würde er das jedoch kaum auf einem Ihrer eigenen Schiffe tun. Haben Sie sich mit dieser Möglichkeit auseinandergesetzt?«

»Das habe ich, Mister Holmes«, antwortete der Gefragte. »Gründlich.«

»Was uns zurückbringt zu der Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Bruder wahrhaftig ein Opfer dieser jüngsten Flut an vermissten Personen wurde«, überlegte Holmes laut.

»Gerade das befürchte ich«, gab Sir Reginald zu. »Ich habe diese Schlussfolgerung gemieden, bis es schließlich keine weitere Möglichkeit mehr gab. Viel lieber würde ich glauben, William triebe sich in irgendeinem tropischen Hafen herum, oder meinetwegen sogar, dass er in einer verruchten Opiumhöhle in Limehouse seine Glückseligkeit sucht, doch ich habe mich nie besonders gut selbst täuschen können. Ich gehe lieber geradewegs auf die Probleme los.«

»Sie haben New Scotland Yard bereits konsultiert?«

Sir Reginald runzelte die Stirn. »Sie konnten mir weniger als gar nicht helfen! Diese ganze Angelegenheit mit dem Verschwinden so vieler Menschen wirft ein schlechtes Licht auf sie, und was sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen können, ist ein weiteres Opfer, besonders eines, das nicht arm und abgerissen ist, sodass niemand danach fragt. Sie haben mich nach allen Regeln der Kunst bearbeitet, um mich zu überzeugen, dass William jedem anderen Anlass zum Opfer fiel. Und man warnte mich, ich solle auf keinen Fall die East-End-Geister ins Spiel bringen, wenn ich nicht gerade der Innenminister sei.«

»Viele betrachten die sogenannten Geister als genauso wenig real wie das große Verschwinden«, deutete Holmes an. »Und niemand gibt zu, dass eine Verbindung bestehen könnte.«

»Nun, ich traf im Yard einen aufrechten Burschen«, entgegnete Sir Reginald. »Er sagte mir unter der Hand, dass er glaube, es gebe eine Verbindung zwischen beidem, und er schwor mir, er werde Williams Verschwinden untersuchen.«

»Und sein Name?«

»Inspektor Kent.«

»Ach ja, Inspektor Charles Kent«, murmelte Holmes. »Er hält sich zwar meistens zu starr an die Spielregeln und hat seine Vorurteile, aber er ist ein guter Mann, methodisch und zäh wie ein Frettchen. Was hat er herausbekommen?«

Sir Reginald zuckte die Achseln. »Als ich versuchte, ihn am nächsten Tag zu besuchen, sagte man mir, er habe eine andere Aufgabe zugeteilt bekommen.«

»Kent hat ein Talent dafür, seine Vorgesetzten zu ärgern, wenn er glaubt, die richtige Spur zu verfolgen und sie anderer Meinung sind«, sagte Holmes. »Aber ich habe niemals gehört, dass er sein Wort gebrochen hätte.«

»Sei es, wie es sei, Mister Holmes, doch ich kann nicht einfach herumsitzen und nichts tun!«, rief Sir Reginald. »Ich muss erfahren, was mit William geschehen ist ... und sei es noch so schlimm. Helfen Sie mir, Mister Holmes?«

Der Detektiv sah auf die Uhr. »Ich werde Ihnen helfen. Haben Sie ein Bild Ihres Bruders, das ich behalten kann?«

Sir Reginald griff in seine Jackentasche und zog ein kleines Foto heraus. »Das wurde vor weniger als einem Monat gemacht.«

»Vielen Dank, Sir Reginald! Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen … ich muss jetzt Gute Nacht sagen«, meinte Holmes und geleitete seinen Besucher zur Tür. »Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihren Bruder aufzuspüren und in Sicherheit zu bringen.«

»Gott schütze Sie, Mister Holmes!«, rief der Mann aus. »Die Leute halten mich für einen herzlosen Mann, der nur nach Geld und Macht strebt, aber ich würde alles darum geben, William wiederzuhaben. Ich war vielleicht in der Vergangenheit oft hart zu ihm, aber nur, weil ich wollte, dass er die Fehler vermeidet, die ich bei anderen bemerkt habe.«

»Ihres Bruders Hüter?«

»Ja, ich denke, das könnte man sagen«, gab Sir Reginald zu. »Falls Sie ihn finden, bitte sagen Sie ihm ... warum ... falls … wenn Sie ihn finden ...«

»Ich hoffe, Sie werden die Gelegenheit haben, ihm das selbst zu sagen«, unterbrach ihn der Detektiv und ersparte dem Mann weitere Verlegenheit. Er war mit Sicherheit nicht daran gewöhnt, zu stammeln, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Gute Nacht, Sir Reginald.«

Holmes schloss die Tür und holte schnell eine schwarze Tasche hinter einem Stuhl hervor, aus der er mehrere kleine Tiegel nahm, wie jeder Schauspieler sie kannte. Er musste Informationen sammeln, in nicht gerade hochstehenden Kreisen, und das konnte er kaum als Sherlock Holmes tun. Innerhalb weniger Minuten verwandelte er sich von einem typischen Bewohner des West Ends zu einem Mann, der sich unauffällig im Gebiet des Hafens bewegen und in den verworrenen Gassen der schmuddeligen Ostseite Londons umsehen konnte.

An der Tür zögerte er jedoch. Zum ersten Mal in seinem Leben waren seine Zweifel stärker als sein Selbstvertrauen. Er glaubte, sich an der Grenze eines unerforschten Landes zu befinden, und seine Zweifel hatten nichts mit den drei Jahren Abwesenheit zu tun, denn London blieb immer noch London, blieb immer seine Heimat und der Mittelpunkt der Welt. Der Weg, den er vor sich sah, war auf ärgerliche Weise unklar und verschleierte mehr, als er beleuchtete. Doch er hatte keine Wahl: Er musste unbekannte Ozeane befahren und alles auf seine Logik und Erfahrung setzen.

So schloss er die Tür, legte die Rolle des Sherlock Holmes ab und eilte die Treppe im schaukelnden Gang eines Seemanns hinab in die kalte Nachtluft.

Zur gleichen Zeit klickte es in seinem Zimmer, ein Schloss sprang auf.