KAPITEL 4

Holmes mischt sich wieder ein

 

Die Luft in der Neptun-Taverne, von blauen Tabakschwaden und Alkoholdünsten durchzogen, war zum Schneiden dick. Gesang und Unterhaltungen verschmolzen zu einem babylonischen Gewirr und zwangen dazu, sich dem Gesprächspartner ganz intensiv und aus der Nähe zu widmen, was es anderen beinahe unmöglich machte, unbemerkt ein Gespräch mitzuhören.

Im festen Griff erst sein zweites Glas Bier an diesem Abend, und das noch beinahe voll, trotz der Zeit, die er es schon in der Hand hielt, schob sich Inspektor Kent von einem Tisch zum anderen, scheinbar alkoholisiert, doch sehr aufmerksam jedem Wortwechsel lauschend, der an seine Ohren drang. Keiner, der ihn anblickte, hätte in ihm einen Inspektor von Scotland Yard vermutet. Mit seinem Dreitagebart und dem schäbigen Mantel wirkte er eher wie ein Laufbursche oder gar ein Schläger. Im Augenblick ermittelte er allerdings nicht für den Yard, da ihn seine Vorgesetzten aller Untersuchungen und Nachforschungen im Zusammenhang mit dem Verschwinden so vieler Menschen entbunden hatten. Ein Haufen weinerlicher Simpel allesamt, so dachte er über sie, während er einen kleinen Schluck Bier trank und sich in einen anderen Teil der Schänke drückte.

»... und die verschwundenen Leute wie dieser feine Pinkel ...«

Interessiert schlurfte Kent näher zu den Sprechern hinüber, seine Absicht durch seine unkontrollierten Bewegungen gut verbergend. Die Männer saßen an einem Tisch im Halbdunkel, von wo aus man über eine Treppe hinauf zu Räumen gelangte, die zweifelhaften Zwecken dienen mochten.

Drei alte Teerjacken unterhielten sich leise und angeregt mit einem hageren, ganz in Schwarz gekleideten Burschen. Er war kein Seemann und stammte auch genauso wenig aus dem East End, und ganz offensichtlich hängten sich die drei mehr an ihn, weil er ihnen Bier spendierte, als wegen irgendeiner Gemeinsamkeit oder gar Kameradschaft. Obgleich dieser vierte Mann lächelte, während er aufmerksam den Erzählungen der anderen lauschte, wirkte das Lächeln inhaltsleer, als reiche seine Freundlichkeit nicht weiter als seine Hautoberfläche, und in seinem Blick lag eine Gehetztheit, die jede Spur von Fröhlichkeit ausschloss.

Kent ließ sein Kinn auf die Brust sinken, sein Blick huschte flüchtig zwischen seinem Bierglas und der Krempe seines tief hängenden Huts hin und her. Er schien fast dem Zusammenbruch nahe, seiner Umgebung nicht bewusst, und dennoch hörte er beinahe alles und sah fast genauso viel.

»Die Geister erheben sich vom Boden, wirklich!«

»Packen die Leute und zerren sie runter, dahin, wo das Herz der dunklen Maschinen schlägt.« »Eine der höllischen Maschinen klatschte in die Themse ...« »Das große Verschwinden ...« »Die Geister ...« »Wo einer hingeht, werden die anderen ...« »Wie der feine Pinkel!« »Billy Boy war schwer in Ordnung, kein hochnäsiger Idiot.« »Armer, armer Kerl, von den huschenden Geistern ...« »Aye, auch verschwunden!« »In die hungrige Schwärze runtergezogen ...« Ein fünfter Mann hatte sich langsam zu den vieren hingeschoben und wirkte dabei genauso unbeteiligt wie zuvor Kent. Er ging sehr geschickt vor und erregte keinerlei Aufmerksamkeit, außer eben die des Inspektors, der alles und jeden unter Beobachtung hielt.

Dieser fünfte Mann war hochgewachsen, schlank und hatte einen dunklen Teint. Offensichtlich handelte es sich bei ihm um einen ostindischen Seemann, aber er hatte doch etwas Ungewöhnliches an sich, was auch die Maske eines einfachen Laskaren nicht verbergen konnte. Und Kents Ansicht nach war es eine Maske. Auch er schien sich für die Gerüchte und den Klatsch der drei alten Seebären zu interessieren, die über die mysteriösen Vorkommnisse im Londoner Osten und über eines der Opfer sprachen, bei dem es sich nur um William Dunning handeln konnte.

Trotz des niemals enden wollenden Bierstroms – oder vielleicht gerade deshalb – wurden die drei langsam leiser und verfielen schließlich in Schweigen, und der Mann, der so freigebig mit seinen Münzen gewesen war, wollte bereits aufstehen. In diesem Augenblick trat der Laskare an ihn heran, beugte sich zu ihm hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann blickte den Inder scharf an und nickte dann. Gemeinsam schritten sie zur Treppe.

Kent straffte seinen Körper und ging ebenfalls dorthin. Er wollte den beiden hinterherschleichen und sie wenn möglich belauschen. Im Schatten der Treppe vermochte er leises Gemurmel von oben zu hören, aber nichts Genaueres. Als er sich vorsichtig in die oberen Regionen der Schänke schieben wollte, spürte er plötzlich, wie kräftige Hände seine Schultern ergriffen und ihn wie eine Stoffpuppe herumrissen.

»Inspektor Kent, Sie spiel'n auf eigene Faust Räuber un' Gendarm, ja?« Der Mann war beinahe so breit wie hoch, hatte kräftige Muskeln und ein Gesicht, das wohl bei einigen Wirtshausschlägereien gelitten hatte. Die Pranken, die Kent herumgerissen hatten, packten ihn nun an den Jackenaufschlägen. »Sie könn' keine blaue Flasche hinterm Spinat verstecken, verdammter Schnüffler!«

Dinky Clabber war ein Eintreiber, den Kent ein paar Jahre zuvor nach Dartmoor gebracht hatte, weil er einem Ladenbesitzer die Arme und Beine gebrochen hatte, als dieser sich weigerte, einer gewalttätigen Bande geklaute Ware abzukaufen. Wäre das Opfer selbst etwas vertrauenswürdiger gewesen, würde Clabber jetzt noch gestreifte Hemden und Mütze tragen anstatt der verschlissenen braunen Jacke und der zerbeulten Melone.

»Jetzt krieg'n Se was ab, weil Se mich in'n Knast gesteckt haben!«

Aller Augen wandten sich Kent und Clabber zu, und dem Inspektor war klar, dass weiteres Verstellen nutzlos war. Außerdem hörte er von oberhalb der Treppe Lärm, der seiner Aufmerksamkeit bedurfte. Kent rammte seinen fast vollen Bierkrug in Clabbers Gesicht, riss dessen Hände von seinen Jackenaufschlägen, stieß ihm sein Knie ins Gemächt, und als der andere nach Luft schnappte und sich vornüberbeugte, erwischte er ihn mit einem kräftigen Aufwärtshaken. Clabber ging zu Boden wie ein gefällter Baum, und alle im Neptun wandten sich wieder ihrer eigentlichen Beschäftigung zu. Dass jemand niedergeschlagen und hinausgeschleift wurde, kam im Schankraum des Neptun häufiger vor. Das Einzige, was diesmal ungewöhnlich war, bestand darin, dass der grobe Kerl so schnell zu Boden gegangen war, obgleich sein Gegner solch ein schmächtiger Bursche war.

Während Kent die Treppe hinauf eilte, hörte er von oben das Splittern eines Fensters und wusste, dass es zu spät war, um den Mann in Schwarz zu verhören, der sich so sehr für das Verschwinden der Menschen, für die Gespenster und für William Dunning interessiert hatte. Aber wenigstens war der Inder noch da.

»Scotland Yard! Bleiben Sie sofort stehen!«, befahl er dem Laskaren, der sich in dem dunklen Korridor bewegte. »Ich habe einige Fragen an Sie.«

»Guten Morgen, Inspektor Kent«, antwortete der Mann trocken. »Ihr Zusammenstoß mit Clabber scheint die Lage für uns beide ein wenig prekär zu gestalten.«

»Heiliger Jesus!«, fluchte Kent leise. »Mister Sherlock Holmes! Seit drei Jahren tot, und immer noch mischt er sich ein.«