KAPITEL 15

Eine Fliege in der Ursuppe

 

Während sie der auffälligen Spur der Morlock-Mutter über den Ozean der Zeit folgten, brachten Holmes und Kent ihre Maschinen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Sie verloren sie nicht aus den Augen, da innerhalb des Zeitstroms ein räumlicher Eindruck erhalten blieb. Die Kreatur konnte mit den beiden Verfolgern im Rücken weder dauerhaft in eine frühere Ära der Geschichte fliehen, noch auch nur einen Augenblick auf ihrer verzweifelten Flucht rasten. So rasten sie an zahllosen Weltaltern vorüber.

Die Historie entspann sich in ihrem Beisein rückwärts, indem das Kohle- und Dampfzeitalter jenen weniger von der Technologie geprägten Jahrhunderten wich, in denen das Katapult sowie sorgsam geschmiedete Schwerter als Inbegriff höherer Wissenschaft galten. London schrumpfte zusehends, bis zuletzt nur ein einfacher Hafenpunkt zu Handelszwecken am Fluss übrig war, welcher dann zum Außenposten der Römer wurde. Diese nutzten den Strom zur weiteren Gebietserkundung, während noch früher Jäger und Fischer an seinen schlammigen Ufern kampiert hatten. In jenem düsteren Zeitalter waren die Menschen noch grausamen Gottheiten ergeben und hatten sich selbst blau angemalt.

Jahrhundert um Jahrhundert zog an den beiden Männern vorüber, die grobe Steinzeit und weit dunklere Phasen der Vergangenheit, in welchen die heilige grüne Insel noch völlig unbescholten von der Präsenz des Menschen gewesen war. Riesige, nunmehr ausgestorbene Tiere streiften ihr Blickfeld. Mastodonten und überdimensionale Faultiere sowie Dinosaurier, die berühmten Schreckensechsen zu Land mitsamt ihrem fliegenden Verwandten, dem Pterodaktylus. Auch vor diesen legendären Geschöpfen hatte es bereits Leben in noch außergewöhnlicherer Form gegeben, dessen fossile Überreste man den Kalksteinklippen im England unserer Gegenwart nach wie vor abtrotzt.

Inspektor Kent würdigte das prähistorische Schauspiel, das sich ihren Augen bot, keines Blickes, weil er eine Schöpfung nicht wahrhaben wollte, die mit Makeln behaftet und nicht vollendet war. Stattdessen konzentrierte er sich nur auf das flüchtige Geschöpf vor ihnen.

Sie tauchten nun in eine Zeit ein, die bar jeden Lebens war. Nicht einmal Insekten oder Moose existierten hier, und es ging noch weiter.

Irgendwann landete die Mutter in einer grauen, toten Welt und suchte Zuflucht zwischen zerklüfteten Felsen, welche aus einem stillen Meer ragten, auf dem gerade Ebbe herrschte. Holmes und Kent hielten inne. Sie sahen sich die Umgebung des Verstecks genauer an. In jener Vorzeit ertönte kein Laut, sodass die Stille wiederum ohrenbetäubend wirkte, zumal ihre eigenen Stimmen beim Sprechen außerordentlich fremd und harsch klangen.

»Hier hat die Mutter also haltgemacht«, wunderte sich Kent. »Weshalb?«

»Sie weiß, dass sie uns auf der Flucht durch die Zeit nicht abschütteln kann«, entgegnete Holmes. »Ihre einzige Hoffnung besteht darin, uns hier zu beseitigen und dann zurück in die Zukunft zu reisen.«

»Sie will uns umbringen?«

»Genau.«

»Und gehe ich recht in der Annahme, Holmes, dass sie auch nicht weiter in der Zeit zurückreisen kann? Vor dem ersten Tag der Erschaffung der Welt gab es doch nichts ...«

Der Detektiv schwieg.

»Ja, Holmes, sehen Sie sich doch um!«, fuhr der Inspektor fort. »Vor diesem Augenblick hatte die Erde keine Gestalt. Es herrschte Leere und Dunkelheit auf ihrer Oberfläche. Dann aber trennte Gott die Wasser vom Land und sprach: Es werde Licht! Die Tiere fehlen augenblicklich noch, welche sich alsdann fortpflanzen werden. Der ganze Evolutionsunsinn ist also überhaupt nicht wahr!«

»Inspektor Kent«, sprach Holmes ruhig.

Kent seufzte schweren Herzens und nickte. »Ja, ich weiß, was wir tun müssen, Holmes, aber dennoch ...« Er besah diese unförmige Welt, die sich sozusagen noch in den Geburtswehen befand. »Wie kann man nicht glauben, dass alles dem Willen des Herrn unterworfen ist, wenn man diese Ödnis betrachtet, die erst noch geformt werden will?«

»Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen«, rief der Detektiv ihm ins Gedächtnis.

Nachdem Kent sich erneut umgeschaut hatte, betrachtete er den Revolver in seiner Hand. »Wir haben den Vorteil, bewaffnet zu sein.«

»Hoffentlich können wir ihn auch nutzen. Das Wesen ist überaus listig und zudem verzweifelt. Deshalb sollten wir die Kreatur nicht unterschätzen.«

»Gott steht uns zur Seite«, sprach Kent im Brustton der Überzeugung.

»Ich werde mich von rechts heranpirschen, während Sie sich den Felsen vom Ufer aus nähern«, wies Holmes ihn an. »Seien Sie extrem vorsichtig.«

»Es ist nur ein Tier, Holmes.«

»Etwas Ähnliches, da bin ich mir sicher, hat so mancher Jäger auch schon behauptet«, mahnte der Detektiv, »um dann selbst zum Gejagten zu werden.«

»Lassen wir das«, lenkte der Inspektor ein. »Ihre Warnung ist angekommen.«

Die beiden Männer machten sich auf den Weg zu den Felsen, wo der getriebene Morlock Unterschlupf gefunden hatte. Kent war privat bereits zur Jagd mit der Flinte durch Wald und Flur gewandert, wobei sich seine Beute allerdings stets nur auf harmlose Wildhühner oder Waldschnepfen beschränkt hatte. Dennoch war ihm die Furcht davor, etwas zu jagen, das sich wehren konnte, nicht gänzlich unbekannt, weil sein Beruf dies notwendigerweise mit sich brachte. Was sonst ging einem Polizisten durch den Kopf, der den Raubtieren der Gesellschaft im nächtlichen London nachstellte? Während all der Jahre hatte er stets die Oberhand über die Verbrecher der Stadt behalten, doch früher oder später, das wusste er, würde das Glück ihn auf die eine oder andere Art verlassen. Als er hinüber zu Holmes schaute, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass sie beide sich eigentlich gar nicht so stark voneinander unterschieden. Sie vertraten die gleichen Ziele, gingen aber jeder auf seine eigene Weise vor, um diese zu erreichen, hatten das Herz am rechten Fleck und gehorchten bloß unterschiedlichen Autoritäten. Beschützer Londons waren sie und nun, da seltsame Umstände sie zusammengebracht hatten, auch Bewahrer der Menschheit.

»Da ist der Morlock!«, rief Kent und wies mit dem Finger auf das Geschöpf.

Das Wesen kroch langsam wie eine fahle Giftspinne die Felsen entlang. Ehe einer der beiden Männer einen Schuss abfeuern konnte, war es wieder verschwunden.

»Es versucht zu entwischen!«

Das bezweifelte Holmes. »Es bewegt sich zu bemessen, als dass es auf irgendeine Art den Eindruck erwecken würde, kopflos zu handeln. Weshalb hat es bloß die Maschine verlassen?«

»Die können wir zerstören, falls wir sie finden«, schlug Kent vor. »Ohne Fluchtmöglichkeit werden wir die Kreatur stellen und brauchen uns nicht einmal dabei zu beeilen. Wir könnten sogar Verstärkung aus der Zukunft heranziehen.«

Kent bewegte sich weiter voran.

»Obacht!«, warnte Holmes ihn. »Halt!«

Was der Detektiv bemerkt hatte, fiel Inspektor Charles Kent einige Sekunden zu spät auf. Die Mutter hatte sich weder in die Ferne geschlagen noch zu weit von ihrer Maschine fortbewegt. Etwas silbrig Glänzendes schoss durch den leeren Raum der Vorzeitwelt und traf Kent. Er hielt inne, strauchelte rückwärts und ging in die Knie, ehe er zur Seite hin zusammensackte. Tief in seiner Brust steckte ein reich verziertes und seltsam geschwungenes Messer.

Holmes eilte sofort zu seinem Gefährten, für den indes jede Hilfe zu spät kam.

»Was war ich doch für ein Narr ...« Blut floss aus Kents Mund, und als er hustete, quoll noch mehr heraus. »Kümmern Sie sich nicht weiter um mich. Schnappen Sie dieses Ding!«

»Wenn ich Sie zurückschaffen kann in die ...«, hob Holmes an, aber Kent schüttelte nur schwach den Kopf, wofür er nahezu seine gesamten Kraftreserven aufzubringen schien.

»Wenn Sie den Morlock getötet haben, zerstören Sie seine Maschine ... und meine ... Lassen Sie mich ... am Anfang ... bei Gott ... Ich wünsche Ihnen ...«

Inspektor Kent hauchte seinen letzten Atemzug aus.

Holmes vernahm ein hochtönendes Heulen. Da wusste er, dass es ihm nicht gelungen war, den Morlock frühzeitig aufzuhalten. Das Geschöpf hatte die Zeit nach seinem Angriff auf Kent genutzt und war zu seiner Maschine zurückgekehrt, um erneut die Reise in die Zukunft anzutreten. Holmes machte den Apparat unschädlich, der den Scotland-Yard-Mann an den Beginn der Zeit getragen hatte, hinein in die Welt, an die er so fest geglaubt und die er aus dem ersten Buch des Alten Testaments gekannt hatte.

Der Detektiv musste die Verfolgung aufnehmen, daran bestand kein Zweifel, doch für gewisse wichtige Dinge musste noch etwas Zeit bleiben. Einen Moment lang war er versucht, Kents Leichnam mitzunehmen. Der Mann verdiente eine anständige Bestattung auf einem idyllischen Friedhof und eine herzliche Grabrede aus dem Munde von jemandem, der genauso innig an Gott glaubte, wie Kent selbst es getan hatte. Der Inspektor hatte jedoch auch darum gebeten, hier an diesem leblosen Gestade zurückgelassen zu werden. So gewährte Holmes ihm seinen letzten Wunsch. Obwohl sie sich beide nur flüchtig gekannt hatten, respektierte der Detektiv ihn.

Ehe sich Holmes auf den Weg zurück zur Zeitmaschine machte, drehte er sich noch einmal um. Kents Leib würde schlussendlich den Gezeiten anheimfallen, sobald die Flut erneut über die felsige Küste spülte. Wahrscheinlich zog sie ihn hinab in die ewige Tiefe. Dort unten im Dunkel der Wasser würde der Verfall seinen Lauf nehmen und neues Leben aus toter Materie entstehen. Der einstige Gegner der Evolution, dachte Holmes, als er zurückging, sollte am Ende als Grundlage des Lebens auf der Erde dienen.

Nachdem er sich auf den Sitz geschwungen hatte, brachte er die rätselhafte Maschinerie in Gang und nahm die Verfolgung des Morlocks auf.