Kapitel 3 Alec
Lust auf einen entspannten Abend in meinem Hot Tub?
Alec las die Nachricht, schüttelte unwillkürlich den Kopf und steckte das Handy in die Brusttasche seiner Lederjacke. Für einen Moment überlegte er, zog das Telefon wieder hervor und tippte:
Sorry, bin diese Woche busy. Was ist mit dem Wochenende? Samstag bei Joe?
Dann nahm er ein weiteres T-Shirt aus dem Schrank, packte es sorgfältig in seine Tasche und sah sich um. Hatte er etwas vergessen? Suchend streifte sein Blick durch das winzige Zimmer. Gerade mal ein Bett, ein Regal und ein schmaler Kleiderschrank passten hinein. Verflucht - mit 25 sollte man längst eine eigene Wohnung haben! Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite.
Einmal war er kurz vorm Ausziehen gewesen. Aber dann war seine Mutter überraschend wieder schwanger geworden und vom Vater der Zwillinge hatten sie schnell nichts mehr gehört. Seit ihrem Schlaganfall brauchte seine Familie das Geld, das er verdiente. Da blieb nichts mehr übrig für eine eigene Wohnung im teuren London.
Er seufzte und studierte den Riss in der Wand, der von abblätternder Farbe eingerahmt wurde, als wäre er ein modernes Kunstwerk. Irgendetwas in diesen Sozialwohnungen war doch immer feucht. Sein Handy vibrierte.
Okay, Hübscher. Dann sehen wir uns Samstag um 8 bei Joe .
Alec grinste schief. George war schon ein cooler Typ und hatte dieses unglaubliche Penthouse mit Dachterrasse und Hot Tub. Unter seine Freude auf den Samstagabend mischte sich eine leichte Erregung, die von seiner Körpermitte durch seinen Magen kribbelte. Gutaussehend war George auch und er hatte diese großen Hände, mit denen er wahre Magie wirken konnte. Der Gedanke ließ ihn erschaudern und war heiß genug, um ihn über die erste Woche in der adligen Müllhalde zu bringen, da war er sicher.
Leise und heimtückisch schlich sich ein Schuldgefühl an ihn heran, packte ihn und ließ seine Glieder anspannen. Alec schnaufte. Was sollte das jetzt? Er würde Henry nicht ans Messer liefern, das hatte er doch schon geklärt! So lange er der Mutter Unsinn erzählte, war es kein Betrug! Und überhaupt - wer war er denn für diesen noblen Kerl? Ein Niemand! Einer aus der Gosse, wo der niemals vorbeikam. Sicher machte der sich keine Gedanken über ihn. Da! Das Gefühl nagte schon wieder an ihm. Henrys schönes Gesicht wanderte durch seinen Kopf, drehte sich, dieser Augenaufschlag ...
„Wo ist mein Löööffeeel?“, brüllte Neil aus dem Wohnzimmer.
„Schhhh, leiser“, hörte Alec seine Mutter sagen.
Im nächsten Augenblick stand Eddy in der Tür und hielt triumphierend einen gelben Plastiklöffel in die Höhe. Dann trabte sie zum Bett und ließ sich geräuschvoll neben die Tasche fallen.
„An manchen Tagen ... ich schwör’s dir ... da will ich einfach nur abhauen. Nach Lissabon oder so.“
„Nach Lissabon?“
Alec betrachtete seine kleine Schwester besorgt. Ihre Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, über der verwaschenen Jeans trug sie ein viel zu enges Glitzershirt. Sie wirkte nicht wie eine 17-Jährige, die gerne Tiermedizin studieren wollte, sondern wie eine Teenager-Mum, und irgendwie war sie es ja auch.
„Jep. Muss toll sein. Da will ich unbedingt mal hin - ohne die Jungs!“ Und mit einem Mal wirkte sie sehr jung. Ihre Wangen nahmen eine dunkelrote Farbe an, sie sprach leise: „Der Liebesroman, den ich lese, spielt in Lissabon und sie kriegen sich gerade.“
Alec blinzelte und seufzte mitfühlend. Du solltest überall ohne die Jungs hinreisen, Darling. Du bist nicht die Mutter und musst frei sein! Alec setzte sich zu ihr und legte einen Arm um ihre Schultern. Ganz knochig fühlte sie sich an, kein Wunder bei all dem Stress und der Verantwortung, die darauf lastete.
„Liebes, wenn das mit dem Job klappt, und vielleicht andere folgen, dann kannst du nach Lissabon fahren oder wohin du willst, das verspreche ich dir. Ich setze dich selbst in den Zug aufs Festland.“
„Der hält in Paris“, murmelte sie verträumt und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. „Alec?“
„Was?“
„Ist das auch wirklich ein ... normaler Job? Als Hausmeister?“
Alec zog die Luft ein und schluckte hart. „Klar! Was denn sonst?“ Er bemühte sich um eine feste Stimme.
„Find’s halt komisch. Seit wann suchen die Snobs denn ihr Personal in Brixton?“
„War Zufall, hab ich dir doch erklärt. Ich kenne da jemanden ...“
„Der jemanden kennt ... hab ich ja verstanden. Hauptsache, du machst nichts Illegales.“
Erleichterung ließ seine Glieder entspannen. So lange sie nur dachte, dass er etwas Illegales tat, konnte er bei der Wahrheit bleiben, oder?
„Nee! Das ist ein echter Job, keine Angst. Zahlen halt gut, diese Leute.
„Okay.“ Sie seufzte leise gegen sein T-Shirt. Alec strich ihr durchs wirre Haar und zog sie noch näher. „Wir brauchen das Geld wirklich. Die Jungs wachsen schneller aus ihren Schuhen, als ich schauen kann, und Mama bräuchte dringend diese besondere Physiotherapie, für die man zahlen muss“, murmelte sie geschlagen.
Alec nickte. „Alles wird gut! Spätestens am Ende des Monats habe ich Geld für euch und so lange ich da wohnen kann, fällt ein Esser aus.“
„Von mir aus. Aber wir lassen dich nie hungern!“
Sie wirkte nicht überzeugt. Jedes Mal, wenn er die neue Anstellung erwähnte, war es, als würden kleine Spinnen über seine Haut kriechen. Alles schien so falsch. Und schon wieder drehte sich Henry in seinen Gedanken. Dieses Mal konnte er ihn komplett sehen, nicht nur das Gesicht. Die elegante, schlanke Figur und wie er versuchte, sich würdevoll aufrecht zu halten, trotz des Hinkens. Alec sah ihn die Treppe hinaufsteigen, mühsam, leise schnaufend, aber mit geradem Rücken. Fuck! Er wollte diesen Kerl wirklich nicht betrügen!
„Ah, Edwina, nicht traurig sein. Alec kommt uns bald besuchen“, rief seine Mutter von der Tür und unterbrach seine quälenden Gedanken.
Langsam schob sie den Rollator näher, hob mühevoll einen Fuß an, dann den anderen. Eddy hatte ihr ein hübsches Sommerkleid angezogen. Hellblau mit weißen Punkten. Das dunkle Haar war zu einem Knoten gebunden, in dem eine Plastikblume steckte. Aber ihr Mund hing immer noch ein Stück nach unten und sie sprach leicht verwaschen.
Entschlossen sprang Alec auf, nahm seine Tasche. Dann beugte er sich zu seiner Mutter und küsste sie auf die Wange.
„Genau! Und außerdem könnt ihr mich immer auf dem Handy erreichen“, sagte er so beschwingt wie möglich.
Sie lächelte schief. „Liebes, es wird doch auch Zeit, dass du ein eigenes Leben führst. Du hockst schon viel zu lange in dieser engen Wohnung.“
Alec blinzelte und nickte zustimmend. „Alles wird gut, Mum“, sagte er mit fester Stimme und in diesem Augenblick wollte er genau das glauben.
Wie im Nebel verging die Fahrt zum Manchester Square heute, zwischen Alecs Zweifeln und den Gedanken an seine Familie. Ab und zu mischte sich das Gefühl von warmem Wasser, das seinen Körper umspülte und die Erinnerung an Georges Hände, darunter. Doch nur Momente später folgte ein fader Beigeschmack, den Alec nicht einordnen konnte. Henry braucht meine Unterstützung und ich kann auf diese Weise meiner Familie helfen. Es ist ein perfekter Deal! Jetzt musste er es nur noch selbst glauben .
Erstaunlich, wie schnell Henry heute an der Tür war. Tapfer presste Alec die Lippen aufeinander und lief hinter seinem Gastgeber die herrschaftliche Treppe zu dessen Appartement hinauf. Der ist schon wieder barfuß. Diese Oberschicht-Typen konnten wirklich seltsam sein. Aber ganz so pennerhaft wirkte Henry heute nicht. Die dunkle Jeans stand ihm gut und das rote T-Shirt passte zu seinem hellbraunen Haar. Okay, das stand wieder wirr um seinen Kopf, sicher schnitt er es selbst. Es wirkte aber irgendwie niedlich. Hinkte er heute weniger?
Endlich waren sie angekommen. Henry zeigte auf eine Tür in der Nähe des Eingangs der Wohnung.
„Das ist das Gästezimmer. Für die nächsten sechs Wochen gehört es dir“, sagte er freundlich, lächelte schmal und schlurfte weiter zum Ende des Ganges, wo er hinter einer weiteren Tür verschwand.
Alec blinzelte in das Halbdunkel und schüttelte den Kopf. Lässt mich einfach hier stehen. Komischer Kauz.
Unter einem Schnaufen öffnete er die Tür, betrat das Gästezimmer und zuckte zusammen. Was war denn hier los? Aufgeräumt? Sauber? Alles ordentlich? Alec verengte die Augen zu Schlitzen und ging zu dem großen Bett. Prüfend strich er mit zwei Fingern über den weißen Bezug, den rosa Buschwindröschen zierten. Fühlte sich frisch gewaschen an, tatsächlich! Henry hatte doch nicht etwa ... Nein! Der hatte bestimmt gar nichts getan. Ob er doch eine Haushaltshilfe hatte und seine Mutter wusste nur nichts davon?
Beeindruckt bemerkte Alec den flauschigen, blauen Teppich und den aufgeräumten Schreibtisch. Ein massiger Kleiderschrank thronte in einer Ecke. Passend zum Teppich war die Wand hellblau gestrichen, was dem Zimmer genau den frischen Ausdruck gab, der im Rest dieser Wohnung fehlte.
Alec stellte seine Tasche auf den Boden und drehte sich einmal um sich selbst. Der Raum war drei Mal so groß wie sein Zimmer zuhause und zehn Mal so schön. Dann entdeckte er einen Karton, in der Ecke. Das Bild darauf zeigte anscheinend den Inhalt. Ein Flachbildfernseher! Für ihn? Ach was, für Gäste eben.
Freude sprudelte in Alec, doch im nächsten Augenblick fiel ihm ein, warum er hier war. Der Deal und die Lady, Henry, der schon wieder abgetaucht war. Verdammt! Er konnte doch nicht einfach Geld von diesen Leuten nehmen - er musste etwas dafür tun! Mit einem Mal war Alec sich sicher, wenn er hier wirklich arbeiten würde, dann wäre es eine richtige Anstellung!
Hastig sprang er auf und eilte in die Richtung, in der Henry verschwunden war. Vor der Tür blieb er stehen und strich für einen Moment mit der Hand über die glatte Oberfläche, fühlte die Maserung des Holzes unter seinen Fingern. Schließlich atmete er tief ein und aus und klopfte, lauter als gewollt an. Keine Antwort. Alec klopfte erneut. Was treibt er bloß? Schlurfende Schritte waren zu hören, die Tür öffnete sich langsam.
„Was ist denn noch?“
Alec stutzte. Wollte Henry am Ende sechs Wochen seine Ruhe und nicht einmal mit ihm reden?
„Kann ich dir etwas helfen? Ich meine ... du bezahlst mich doch ...“, fragte er zögerlich.
Henry hob abwehrend eine Hand. „Ich bezahle dich, damit du hier bist und meine Mutter Ruhe gibt. Nicht fürs Arbeiten. Entspann dich einfach. Hast du den Fernseher gesehen? Willst du noch eine Spiele-Konsole dafür? Kann ich bestellen. Sieh’s als bezahlten Urlaub an.“
Bestellen? Urlaub. Alec verstand kein Wort. „Ich hatte schon Hausmeisterjobs. Mit Strom bin ich gut und aufräumen kann ich auch.“
Henry neigte den Kopf zur Seite und blickte Alec unter einem hinreißenden Augenaufschlag an.
„Alec, entspannen! Okay? Ich muss jetzt arbeiten. Ach, und stör mich nicht mehr. Stör mich nach acht am Abend überhaupt nie mehr.“ Kopfschüttelnd schloss er die Tür vor Alecs Nase.
Mit großen Augen starrte der gegen das dunkle Holz und konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Urlaub? Henry war doch nicht ganz dicht! Er sollte sechs Wochen auf der faulen Haut liegen? Entschlossen stapfte Alec in das zugemüllte Wohnzimmer, schaltete das Licht an und rollte mit den Augen. Dann bahnte er sich vorsichtig einen Weg durch Unrat, Müll und was auch immer den Fußboden zentimeterhoch bedeckte.
Auf Zehenspitzen balancierte er über Pizzakartons, Pappschachtel, leere Postpakete in allen Größen. Einen Plastikbecher sah er zu spät. Mit einem knarrenden Geräusch zerdrückte er ihn unter seinen Sohlen. Hoffentlich war der leer. Endlich erreichte er eines der vielen Fenster. Er öffnete es und drückte die Holzläden mit Kraft weit auseinander.
Die Abendsonne schien schon lange darauf gewartet zu haben, dieses Chaos zu bescheinen. Unaufhaltsam schickte sie ihre Strahlen in den Raum und erhellte das ganze Ausmaß. Alec seufzte schwer, ging zum nächsten Fenster und ließ auch hier das Tageslicht hinein. Noch drei Mal und dann war es endlich taghell.
Jetzt war der Raum erst genau zu erkennen, und Alec ahnte, dass unter der Müllhalde einige Schätze versteckt lagen. Das belagerte Sofa stand in einem Erker, den zwei hohe Fenster bildeten, ein weißer Marmorkamin war an einer Wand zu sehen, geschmückt mit dem gleichen Müll, der auch sonst im Raum zu finden war. Auf der anderen Seite befand sich der Esstisch mit den Stühlen, alles in weißem Holz gehalten .
Er stemmte die Hände in die Seiten. Ich brauche Müllsäcke, viele! Putzeimer, Seife, Desinfektionsmittel, Lappen. Egal. Ich kann erst mal zusammenräumen. Mit diesem Gedanken machte sich Erleichterung in ihm breit, ließ seine Glieder entspannen. Er konnte nützlich sein und er war kein Mann, der andere ausnutzte. Den Preis, sich durch das Chaos zu wühlen, würde er gerne bezahlen!
Zielstrebig steuerte er einen Pizzakarton an, nahm ihn, ging zum nächsten und tat das gleiche viele Male, bis er am Rand des Raumes einen Kartonberg aufbauen konnte. Als Nächstes waren die Fertiggericht-Verpackungen dran. Nicht nachdenken, warum die überhaupt auf dem Fußboden liegen! Je mehr Dreck er nach oben beförderte, desto besser fühlte Alec sich. Hautsache er tat etwas!
Für eine Weile arbeitete er stumm weiter. Plötzlich stieß er mit dem Fuß an einen der Zeitungsstapel. Krachend fiel der in sich zusammen und verteilte das alte Papier dort, wo er gerade Unrat zur Seite geräumt hatte. Er schnaufte ungehalten und machte sich daran, alles wieder einzusammeln.
„Was treibst du da?“ Henrys Stimme kam von der Tür und sie klang nicht nur fragend. Ärger war deutlich herauszuhören .
Überrascht sah Alec auf und ließ den Stapel sinken. „Ich mache mich nur nützlich. Arbeite du weiter“, sagte er beschwichtigend.
Henry hatte die Augen zu Schlitzen verengt und sah ihn mit unlesbarer Miene an. Gott, es war so verdammt still in dieser Bude, Alec konnte es kaum aushalten. Immerhin waren zwei erwachsene Männer anwesend. Aber in diesem Augenblick starrten sie sich nur schweigend an. Fast glaubte Alec, Henry würde wieder verschwinden, doch der kam einen halben Schritt näher.
„Wenn du hier herum polterst, kann ich nicht arbeiten! Und wieso räumst du überhaupt Sachen zur Seite? Ich habe dich nicht darum gebeten!“ So sanft seine Stimme klang, etwas Scharfes hatte sich jetzt daruntergemischt.
„Das ist doch nichts.“ Alec versuchte zu lächeln. „Ich wollte nur mal die Farbe des Teppichs sehen.“
„Warum? In sechs Wochen bist du hier raus und es kann dir völlig egal sein, wie mein Teppich aussieht!“
Henry kam noch einen Schritt näher und Alec konnte die Wut fast in ihm brodeln sehen.
„Schon gut, Mann! Kein Problem. Wenn du diese Dekoration bevorzugst, lass ich das eben!“
„Was ... was ist das? Das ist mein Lieblingsbuch! Verdammt! Das hättest du beinahe weggeworfen“, rief Henry jetzt aufgeregt und zeigte auf den Fußboden .
Alec drehte den Kopf und versuchte auszumachen, wo Henry hinsah. Aufgebracht setzte der eine Fuß vor den anderen, schwankte für einen Moment, setzte den linken Fuß auf ... und stürzte der Länge nach hin!
Sofort gab er einen Schmerzlaut von sich und hielt schützend den Arm über den Kopf, denn ein weiterer Zeitungsstapel machte sich selbstständig und purzelte über ihn.
Alec zuckte erschrocken zusammen, sprang auf und hastete zu Henry. Schnell räumte er die Zeitungen zur Seite und strich ihm beruhigend über den Rücken.
„Schhh. Komm. Ich helfe dir nach oben“, sagte er leise.
Das ist alles nur meine Schuld! Verdammt er hatte doch nur etwas für sein Geld ... und seine Lügen tun wollen! Sein Magen krampfte sich zusammen, Übelkeit stieg daraus hervor. Henry gab einen weiteren Schmerzlaut von sich.
„Alles okay?“, fragte Alec unbeholfen.
„B ... Bestens! Ich liege hier nur so zum Spaß rum“, keuchte er und Alec musste gegen seinen Willen grinsen. Dann packte er Henry und zog ihn ein Stück nach oben.
„Kannst du aufstehen?“
Henry nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht und wollte sich auf die Füße hieven, knickte aber wieder weg. Stöhnend strich er sich über das Bein, mit dem er hinkte.
„Tut’s sehr weh? Ich rufe besser einen Arzt!“, sagte Alec entschlossen und zog sein Handy aus der Tasche.
„Bloß nicht! Die ... die behalten mich da und ... nee. Ist schon gut.“
Alec sah sich um, dann eilte er zu dem Dreisitzer, der zwischen den beiden Fenstern stand, und schob den Müll mit dem Arm herunter. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich über das schöne, immer noch weiße Sofa gewundert, das zum Vorschein kam. Aber jetzt hastete er zu Henry, schob seinen Arm unter dessen Schulter und half ihm nach oben.
„Lass nur“ protestierte der, aber sie hatten schon die kleine Couch erreicht. Alec half ihm behutsam, damit er sich hinlegen konnte.
Henry murmelte ein paar abwehrende Worte, aber Alec war schon im Gästezimmer, nahm seine Decke und ein paar Socken aus der Tasche und eilte zurück ins Wohnzimmer.
Skeptisch verfolgte Henry, was er tat. „Mann, beruhig dich mal. Meine MS ist doch nicht deine Schuld.“
„Du fällst wohl öfter?“
Vorsichtig betastete Alec das Bein. Henry zuckte erst mehrere Sekunden nach jeder Berührung zusammen .
Ein dicker Kloß bildete sich in Alecs Hals. Das Bein war mit Flecken in allen Farben übersät. So behutsam er konnte, strich er darüber und hatte das Gefühl, jeden Schmerz selbst zu erfahren.
„Ich ... meine Koordination ist nicht mehr so gut und ich merke nicht sofort, wenn ich mich stoße. Es tut erst kurz darauf weh, aber dann ist es schon passiert ... manchmal auch zweimal.
„Hast du eine Sportsalbe hier?“, fragte Alec leise und konnte seinen Blick nicht von dem verwundeten Bein nehmen. Wie konnte man nur so leben? Sicher gab es Hilfen dafür? Oder man wohnte eben nicht auf so viel Unrat.
Henry nickte betroffen. Seine Wangen waren gerötet und alles schien ihm unglaublich peinlich zu sein. Du bezahlst mich doch, für meine Hilfe. Verfluchter Stolz! So gerne wollte Alec ihm das sagen, aber es schien nicht angebracht. Sie waren im Grunde Fremde. Was Henry hier tat, wenn er nicht da war, ging Alec nichts an. Aber jetzt war er hier!
„Im Bad, hinter ... „Henry schluckte schwer. „Hinter meinem Schlafzimmer.“ Unruhig nestelte er an der Decke, seine nackten Füße ragten heraus.
Wie zufällig streifte Alec sie. Eiskalt! Natürlich waren sie ausgekühlt, Henry war nicht in Bewegung. Ohne nachzudenken, griff er nach den Socken und streifte den Ersten mit einer sanften Bewegung über Henrys linken Fuß. So war es gut! Das waren warme Socken zum Motorradfahren, damit musste er nicht frieren. Unsicher sah er zu seinem Gastgeber. Der wirkte, als wollte er gleich im Erdboden versinken und schwieg.
„Danke“, flüsterte er tonlos.
„Mann, abends ist es doch in dieser Kathedrale viel zu kalt, um barfuß rumzulaufen.“
„Ohne Socken rutsche ich nicht so schnell aus“, gab Henry zu und zog die dicke Decke noch ein Stück höher.
Unwillkürlich streichelte Alec ihm über sein lädiertes Bein. Die Reaktion setzte wieder erst Sekunden später ein. Dafür umso heftiger. Henry winkelte das Bein an und verzog das Gesicht.
„Du musst mich nicht anfassen. Wenn du mir die Salbe holst, trage ich sie selbst auf.“ Er klang abwehrend und beschämt zugleich.
„Okay,“, murmelte Alec, strich sich gedankenverloren eine Haarsträhne aus der Stirn und betrat den dunklen Flur.
Es blieb nur noch eine Tür, von der er nicht wusste, was dahinterlag. Nachdenklich näherte Alec sich und öffnete. Auch hier blieb das Chaos, das er erwartete, aus. Der Raum war riesig und hell. Ein großes Doppelbett stand in der Mitte, ein langer Schrank an der Seite und viel mehr, außer einem Nachttisch, auf dem mehrere Bücher lagen, war nicht zu finden. Das Bett war ungemacht und Alec versuchte, höflich daran vorbei zu sehen.
Er durchquerte das Zimmer. Durch einen kurzen Flur gelangte er in ein ... wunderschönes Badezimmer. Sanftes Grün und Weiß herrschten vor. Eine elegante Wanne stand in der Mitte auf verschnörkelten Füßen und sah aus, als würden bequem zwei Menschen hineinpassen. Eine Dusche gab es ebenfalls. Es war staubig, aber nicht schmutzig. Zumindest ab und zu putzte hier jemand. Vor dem Spiegelschrank über dem Waschbecken blieb Alec stehen.
Jetzt kroch ihm auch die Peinlichkeit durch den Körper, kribbelte in seinem Magen. Ausgerechnet Henrys Badezimmerschrank musste er nach der blöden Salbe durchsuchen. Mit einem Ruck öffnete er und da war sie - zwischen Rasierzeug, einem leeren After Shave, ein paar Cremes und vielen ungeöffneten Medikamenten leuchtete die Tube mit der Sportsalbe. Schnell nahm er sie und wollte den Schrank schließen. Doch etwas hielt seinen Blick gefangen. Nein, es war etwas, das fehlte.
Henry war schwul, seine Mutter hatte es ihm erzählt. Aber die übliche Ersatzpackung Kondome und Gleitgel war nicht in seinem Schrank zu finden. Jede von Alecs Internetbekanntschaften hatte so einen Vorrat im Bad. Eigenartig. Alec, bist du ein neugieriges Waschweib, oder was? Schnell schloss er die Tür und beeilte sich, zurück ins Wohnzimmer zu kommen.
Auf dem kurzen Weg reifte eine Erkenntnis in ihm. Als er endlich vor Henry kniete und behutsam die Salbe auftrug, war es plötzlich ganz klar für ihn. Zwischen all den Lügen und einer Wahrheit, die er in Henrys schönen, traurigen Augen sah, sagte er:
„Ich kann das hier nicht! Nicht so. Entweder mache ich mich nützlich - oder ich gehe noch heute.“