Kapitel 6 Henry
„Das hätte daneben gehen können“, murmelte Henry und verfolgte den Lauf des Wassers, das aus dem Duschkopf in die große Wanne plätscherte, am Rand abperlte und schließlich im Abfluss verschwand. Jeder Tropfen schien seinen Widerstand mitzunehmen. Alec hielt die Finger prüfend unter den Strahl und blickte nach oben.
„Ist ziemlich daneben gegangen“, sagte er, immer noch peinlich berührt.
„Deine Showeinlage meine ich doch nicht!“ Henry grinste bei dem Gedanken. „Der Kuss hätte schmerzhaft für dich enden können, du Held. Es ist üblich, dass man vorher fragt, ob der andere Mann überhaupt von einem Kerl geküsst werden möchte.“
Alec lachte nur leise und zuckte mit den Schultern. Wenn der wüsste, dass ich seit Jahren nicht mehr so einen lustigen Abend hatte.
Langsam strich Henry mit zwei Fingern über den breiten Keramikrand. Bloß nicht!
Denn dann wüsste Alec auch, wie einsam sein Leben in den letzten Jahren gewesen war. Lächerlich!
Ein einziger Kuss, ein Mann, der ihm fast in den Schoß
kotzte und er hatte das Gefühl, auf der besten Party der Stadt zu tanzen. Seit langer Zeit sorgfältig verdrängte Wahrheiten tauchten in Henry auf, erzählten ihm von seinem Leben als Untoter und brachten einen schalen Geschmack mit. Plötzlich war Alec neben ihm, den Duschkopf hielt er in der Hand.
„Verzeihen Sie mir die Frechheit, eure Hoheit“, sagte er in einem merkwürdigen Akzent, der wohl Queens Englisch sein sollte und wippte leicht auf seinen Zehenspitzen. So viel Leben war in diesem Kerl.
Alec legte eine Hand auf seine Hüfte und Henry hatte das Gefühl, unter der Berührung zu verbrennen. Der Stoff seines T-Shirts trennte sie und die fremden Finger berührten ihn kaum. Und doch war es so, als würde er in diesem Augenblick etwas sehr Intimes mit Alec teilen. Schauer liefen über seinen Rücken. Mehrmals musste er sich räuspern, bis er sprechen konnte.
„Das Wasser ist warm genug“, flüsterte er und wollte ein Bein über den Rand heben.
Mist! Nicht nachgedacht.
Ohne zu überlegen, hatte er das gesunde Bein zuerst angehoben und strauchelte. Alec hielt ihn fest, und schlang die Arme um ihn.
„Jetzt noch mal“, brummte er in Henrys Ohr.
Seine Lippen streiften die Ohrmuschel und Henry schauderte unter dem heißen Atem, der über seine Haut floss. Lass mich nie mehr los!
Schnell wischte er
den Gedanken fort. Wie lange hatte ihn niemand mehr so gehalten? Nicht daran denken!
Vorsichtig stieg Henry in die Wanne. Alec hielt ihn sicher fest, bis er sich auf den Rand setzen konnte. Mit Hose, ziemlich blöd!
Aber wenn er jetzt die Jogginghose ausziehen würde, dann ... dann war sein dürrer Körper zu sehen. Bitte nicht.
Niemand durfte ihn so sehen! Das hatte er sich doch geschworen. Die heitere Stimmung floss aus Henry heraus, wie die Wassertropfen aus dem Duschkopf. Angst schlich sich an, tippte ihm auf die Schulter. Bedenken, sich lächerlich zu machen kamen hinzu. Aber Alec kletterte zu ihm, ging in die Hocke und begann wie selbstverständlich, das warme Wasser über Henrys Füße laufen zu lassen.
Unmerklich schüttelte Henry den Kopf, und doch genoss er die Wärme, die sanften Berührungen. Unter die Panik vor dem, was er mit jedem Atemzug mehr wollte, mischte sich das dringende Bedürfnis, Alec anzufassen. Er streckte eine Hand aus und ließ sie behutsam über das dichte, dunkle Haar gleiten. Es kitzelte leicht unter seinen Fingern. Vorsichtig betastete er eine Strähne. Weich fühlte sie sich an und seine Fingerspitzen schienen zu brennen. Ein wohliges Kribbeln durchströmte seinen Unterleib. Lustvolle, wunderschöne und beängstigende Lebendigkeit tanzte mit einem Mal durch Henrys Körper. Gegen alle Zweifel neigte er seinen
Oberkörper nach unten und bemerkte erleichtert, dass Alec ihn anlächelte.
„Darf ich? Ich bin nämlich auch ein Mann, weißt du?“, sagte der leise.
„Du bist ein betrunkener Ochse“, erwiderte Henry unter einem Grinsen, den Körper immer noch vorgebeugt, sein Gesicht ganz nah an Alecs.
„Nicht mehr. Und meine Zähne habe ich gerade für zehn Minuten geputzt. Also: Ist ein Kuss genehm, Hoheit?“
Henry antwortete nicht. Stattdessen schmiegte er seine Lippen vorsichtig auf Alecs. Der brachte seine Hand an Henrys Hinterkopf und hielt ihn in diesem langen, feuchten Kuss. Oh ja, jetzt waren sie endlich zwei erwachsene Männer, keine unerfahrenen Schuljungen mehr.
Ein Tanz der Zungen, mal zart, mal fordernd begann. Aus der Glut in seiner Körpermitte stiegen Flammen auf, so heftig trieben sie die Begierde voran, dass Henry sich stöhnend an den fremden Schultern festhalten musste.
Schließlich kam Alec in den Stand und half ihm auf die Füße. Einen Arm hatte er um Henrys Hüfte geschoben, um ihn zu stabilisieren. Der verlor sich in dem Kuss, der niemals enden wollte. Fast unmerklich schaffte Alec es, ihm das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Henry konnte nicht einmal mehr protestieren. Er fühlte sich wie ein Schwamm, der viel zu lange auf
dem Trockenen gelegen hatte und wollte sich nur noch mit Berührungen vollsaugen.
„Wir könnten beide mehr als eine Fußwaschung vertragen, was meinst du?“, fragte Alec und die Lust blitzte in seinen grünen Augen auf.
Geduldig half er Henry schließlich aus der Jogginghose und lächelte. Henry folgte seinem Blick und blieb an seiner glänzenden Unterhose hängen. Er liebte diese seidige, teure Wäsche, aber jetzt schämte er sich dafür. Ein dünner Kerl, mit blasser Haut, die schon seit Jahren keine Sonne mehr gesehen hatte, in einer glänzenden, weißen Unterhose. Und der erste Mann seit einer gefühlten Ewigkeit, der ihn so heiß machte, musste es sehen! Wunderbar.
„Wow!“ Alec entledigte sich gerade seines T-Shirts und war nun komplett nackt. „Wer hätte gedacht, dass unter der ausgebeulten Jogginghose so sexy Unterwäsche steckt. Weiß und knapp. Gefällt mir“, sagte er anerkennend und hakte seine Finger in den Bund.
Mit einem geschickten Griff zog er sie herunter und befreite Henrys wippenden Schwanz aus seinem Gefängnis. Für einen Augenblick blieb er in der Hocke. Dann beugte er sich vor und berührte mit seinen Lippen sanft die Innenseite von Henrys Oberschenkel. Die Stelle begann augenblicklich zu glühen
.
Wow - bist nur du!
Henry zog die Luft ein. Hoffentlich war ihm nicht anzumerken, wie beeindruckt er war. Gebannt starrte er auf Alecs trainierten Körper. Die definierten, breiten Oberarme, das Trible-Tattoo, das den rechten zierte und diese unglaubliche Brust über dem sichtbaren Sixpack. Henrys Muskeln verspannten sich. Was wollte so ein Mann von ihm? Plötzlich wollte er weglaufen, aus der Wanne flüchten und sich in seinem Arbeitszimmer verschanzen. Sich nicht zeigen - nicht das, was aus ihm geworden war.
Alec drehte das Wasser auf und tat einen großen Schritt, ließ sich hinter Henry hinuntergleiten. Er streckte beide Hände nach oben und half ihm sich zwischen seine Beine zu setzen, schlang schließlich seine Arme um ihn.
„Ist es warm genug für dich?“, flüsterte er dicht an Henrys Ohr.
Henry nickte und fast war es ihm, als würde er in einem Meer aus verwirrenden Gedanken und Gefühlen treiben. Langsam stieg das Wasser an, bedeckte ihre Beine, reichte bald bis zum Bauchnabel. Weich und warm umfloss es Henry und schien seine Ängste für einen Augenblick fortzuspülen. Unter einem Ausatmen lehnte er sich gegen die breite Brust in seinem Rücken und plätscherte mit den Fingern im ansteigenden Wasser
.
„Es ist wunderbar“, sagte er abwesend. „Ich war schon lange nicht mehr in dieser Wanne“, gab er leise zu.
„Warum nicht? In diesem Teich kann man Orgien feiern, wenn du mich fragst.“ Alec küsste seinen Nacken sanft.
Von der Stelle, die seine Lippen berührten, breiteten sich Funken der Lust in Henry aus. Sein Schwanz pochte erwartungsvoll und er dachte an die Orgien, die er tatsächlich einmal in diesem Badezimmer und seinem großen Bett gefeiert hatte.
Männer - schöne, hässliche, alte, junge, es war ihm egal gewesen. Die Wochen und Monate nach der MS Diagnose waren wie im Fieber vergangen. Er hatte so viel Sex gehabt, dass er sich bald nicht mehr an die Namen seiner Partner erinnern konnte. An jedem Wochenend-Tag war Party im Hause Quincy angesagt gewesen. In der Küche hatte es immer ein Buffet gegeben und Musik in der ganzen Wohnung. Einige der Männer waren wirklich Freunde gewesen, aber irgendwann hatte er den Überblick verloren. Er sah die Bilder vor seinen Augen. Ein muskulöses Paar, das auf seinem weißen Sofa vögelte, ein anderes, auf dem Tisch und ja, die Wanne war bei allen beliebt gewesen. Ob er sie deshalb inzwischen vermied – die Erinnerung an eine Zeit, als er noch wirklich gelebt hatte
?
„Ich muss mit der Wärme aufpassen. Tut der MS nicht gut“, sagte er, obwohl es nur die halbe Wahrheit war.
„Ist es so okay?“
„Ja“
„Dann entspann dich.“
Alecs dunkle Stimme klang sanft und fordernd zugleich. Mit erfahrener Hand strich er über die Beule zwischen Henrys Beinen, spielte mit den Fingern über die Hoden. Henry wand sich stöhnend unter der Berührung. Genoss das Gefühl, das er inzwischen nicht einmal mehr vermisst hatte. Die Gewissheit, gewollt zu sein. Aber seine Schenkel schlossen sich unwillkürlich.
Dann lachte er leise in seine Scham. Hatte er sich wirklich in diesen verklemmten Kerl verwandeln wollen, als er damals plötzlich alle ausgesperrt hatte? Einige Monate lang waren noch Anrufe und Mails gekommen, dann war es still geworden. Lord Henry, der Feier-Fürst, war verstorben. Jedenfalls für das schwule Partyvolk. Gut so!
Als die MS Symptome stärker geworden waren, das Hinken begann und mit all dem die Angst vor noch mehr Einschränkungen, da hatte er sich geschworen: Er würde sich niemandem zumuten! Die Ärzte hatten ihm bestätigt, dass kein Mediziner vorhersagen konnte, wie es in fünf oder zehn Jahren um ihn stehen würde. Vielleicht ging es ihm gut, vielleicht
würde er im Rollstuhl sitzen. Damals war die Party vorbei gewesen und mit ihr die Hoffnung auf eine liebevolle Beziehung. Wer sollte mit ihm die Angst vor der Zukunft tragen? Die Lösung, sich lebendig zu begraben und nur noch in seiner Arbeit zu leben, schien ihm die Beste zu sein. Bis ... bis dieser Alec hier aufgetaucht war.
Henry seufzte leise und spürte das warme Wasser an seinem gesunden Bein. Das andere, das von der MS beeinträchtigt war, konnte nicht fühlen, ob er in warmem oder kaltem Wasser schwamm. Zu schwach waren die Signale, die sein Hirn von den beschädigten Nerven empfing. Aber Alec, der ihn immer wieder küsste - im Nacken, hinterm Ohr, auf den Hals, den spürte er genau, und nicht nur auf seiner Haut. Er konnte diesen Mann tief in sich fühlen. An einem Ort, dessen Schlüssel er schon lange verloren glaubte. Für ihn hatte er seinen Schwur gebrochen, wirklich? Nein! Und das musste er sofort klarstellen:
„Was wir hier tun, ist nur ein ... Zeitvertreib“, sagte er mit fester Stimme.
Er musste nicht einmal darüber nachdenken. Alecs hörbares Ausatmen war nur eine Bestätigung. All die aufkeimenden Gefühle mit einem Satz zu ersticken, war richtig. Henry freute sich, es ausgesprochen zu haben. Niemand kann sagen, wie es Ihnen in zehn Jahren gehen wird.
Das waren die Worte des Neurologen im
Krankenhaus gewesen, als er zum ersten Mal am Kortison-Tropf hing.
Aber ich kann verhindern, dass es zum Problem eines anderen Menschen wird!
Vier Wochen Zeitvertreib und der mutige Kerl mit dem unglaublichen Körper würde frei sein von einer Last, die Henry alleine zu tragen hatte.