Kapitel 10 Henry
Henrys Hand zitterte mehr als sonst. Hatte er gerade einen großen Fehler begangen? Er war sich nicht sicher. Außer Betty und dem Verlag kannte niemand sein Pseudonym und das sollte so bleiben. Warum hatte er es ausgerechnet Alec verraten? Der kniff ein Auge zu und brach in schallendes Gelächter aus.
„Und ich bin die Queen, hab nur meinen Hut vergessen!“, presste er unter dem nächsten Lacher hervor.
„Die ist witziger als du.“ Henry zuckte mit den Schultern und drehte sich um.
Schon war er im Flur, hörte Alecs Schritte hinter sich. Eine starke Hand legte sich auf seine Schulter.
„Warte. Das war ein Witz, oder?“ Alec klang unsicher.
Henry drehte sich zu ihm und überlegte einen Augenblick. Diesem Mann konnte er vertrauen, ganz sicher! Der würde ihn nicht verraten.
„War es nicht.“ Er hob seine gesunde Hand und machte eine ausholende Geste vom Kopf bis zur Brust. „Bis zum Nachmittag bin ich Henry Quincy – sobald ich am Schreibtisch sitze, verwandele ich mich in Rose Heartbridge. Kerle mögen wir beide.“
Alecs verstörter Gesichtsausdruck war Gold wert. Ausgerechnet dem Helden der schnellen Antworten schienen die Worte zu fehlen. Henry musste ein Grinsen unterdrücken.
„Das heißt ...“, begann Alec und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn du schreibst ... fühlst du dich als Frau?“
Der aufkommende Lachanfall ruckte in Henrys Brust, aber noch konnte er ihn zurückhalten.
„So ist es. Manchmal trage ich sogar ein Kleid dabei“, sagte er mit ernster Miene. „Aber keine Sorge, wenn ich zu dir ins Bett komme, bin ich wieder ein ganzer Kerl.“
Alecs Augen wurden immer größer, gleich würden sie ihm aus dem Kopf fallen. Im nächsten Augenblick war es vorbei. Er musste so sehr lachen, dass er fast das Gleichgewicht verlor und sich gegen die Wand lehnte.
„Mann!“, prustete er und boxte Alec gegen den Oberarm. „Das kannst du doch nicht geglaubt haben?“ Unwillkürlich strich er über die Stelle, die seine Faust getroffen hatte, straffte sich und atmete durch. „Als ich vor vier Jahren das erste Manuskript an Betty geschickt habe, war sie gleich überzeugt davon, dass sie es verkaufen könnte – unter einer Bedingung, dass ich mir einen weiblichen Autorennamen zulege. Der Rest ist Geschichte. Na, und ich bin heilfroh, dass ich keine Interviews geben muss – Betty hält mir alles vom Leib. Rose kann ja schlecht mit Journalisten sprechen.“
Das Licht, das Alecs Kopf erhellte, war fast zu sehen. Kopfschüttelnd rollte er mit den Augen. Für einen Moment befürchtete Henry, er wäre beleidigt, aber dann grinste Alec schief und kam näher.
„Schade. Ich hätte dich gerne im Kleid gesehen. Ein frisches Sommerblau steht dir bestimmt hervorragend.“
Henry lachte und verlor sich in Alecs grünen Augen. Der hatte einen Knopf zu viel an seinem Hemd offen stehen. Die wohlgeformte Brust war zu erkennen und zum ersten Mal seit Tagen fühlte Henry Lust in sich aufsteigen. Er streckte seine Hand aus und berührte Alecs Haut. Trocken und warm fühlte sie sich unter seinen Fingerspitzen an. Ohne nachzudenken, kam er einen halben Schritt näher und schmiegte seine Lippen auf das freiliegende Schlüsselbein. Sein Schwanz zuckte zur Seite, schwoll an.
„Das macht dich auch an? Du bist echt sonderbar.“, schnaufte Alec in sein Ohr, ehe er Henry ein Stück von sich wegschob. „Bevor wir das hier näher besprechen, will ich mit dir in den Park! Komm, zieh dich endlich um. Ich nehme dich auch im kleinen Schwarzen mit, aber nicht in der Jogginghose. Wir sind nicht in Brixton.“
Die Anweisung ließ seine Beine den Weg zum Schlafzimmer einschlagen, aber seine Gedanken blieben auf Alecs Haut, dem Geruch nach Mann und dem Versprechen, das darin lag. Gedankenversunken zog Henry eine saubere Jeans, nebst Gürtel und einem frischen T-Shirt aus dem Schrank, legte alles auf sein Bett. Er starrte auf die Kleidung und mit einem Mal wurde ihm bewusst, warum er sich umziehen sollte.
Nach draußen! Er sollte das sichere Haus verlassen? Die Panik schlich sich auf leisen Sohlen an, zwickte erst in seinem Magen, schob sich weiter in seine Brust, erschwerte ihm das Atmen. Verstohlen spähte er durch den Spalt in der Tür, sah Alec, der sich im Flur gerade die Schuhe anzog. Henry ballte eine Hand zur Faust und versuchte die wachsende Angst wegzudrücken. Ich versuche es! Für ihn!
Wie bin ich hier hergekommen? Henry schluckte mehrmals und starrte auf die schwere Haustür. Alec hatte durch den Dunst seiner Angst so lange auf ihn ein geplaudert, bis er nicht einmal bemerkt hatte, wie sie die Treppe heruntergestiegen waren.
Zwischen die Wellen der Beklemmung schob sich Scham. Diese Panikattacken waren peinlich! Nichts anmerken lassen! Henry, reiß dich zusammen. Lächele! Belästige andere Menschen nicht mit deinen Launen! So hatte seine Mutter es ihm beigebracht.
Alec stand zwei Schritte von ihm entfernt auf dem ersten Treppenabsatz und wirkte besorgt. Schnell trat er zu ihm.
„Hab extra für dich eine monsterfreie Nacht ausgesucht“, sagte er und grinste.
Henry schluckte erneut. Reiß dich zusammen! Mit aufeinandergepressten Lippen ging er zur Treppe, blieb erneut stehen und starrte in die Nacht. Alec beugte sich zu ihm vor. Dann legte er Henry eine Hand an die Wange.
„Was siehst du?“, fragte er leise.
„Einen Kerl, der sich mit gefälschten Zeugnissen einen Job verschafft hat“, murmelte Henry.
Mit einem milden Lachen streichelte Alec ihn mit dem Daumen. „Genau! Und den dreisten Typen siehst du immer noch, wenn wir unten an der Straße stehen, sie überqueren und im Park ist er auch noch da.“
Noch mehr Peinlichkeit stieg in Henry auf. Ich bin doch kein kleines Kind! Warum konnte er plötzlich freier atmen? Er nickte schwach und hinkte hinter ihm die Treppen hinunter. Ohne seinen Begleiter aus den Augen zu lassen, schaffte er es über die ruhige Straße. Andere Anwohner waren wohl noch unterwegs oder längst Zuhause. Kein Mensch war zu sehen .
Alec begann, mit dem Schlüssel im Schloss des Tores zu hantieren. Henry fühlte, wie die Erschöpfung nach ihm griff, schwankte leicht und stolperte über eine Unebenheit im Boden.
„Mama, der Mann da ist betrunken.“ Ein kleines Mädchen kam an der Hand seiner Mutter vorbei.
„Schhht! Schau nicht hin!“, zischte die Mutter und eilte mit dem Kind vorbei.
„Scheiße“, flüsterte Henry und war sich nicht mehr sicher, wie lange er sich noch zusammenreißen konnte. Die Bilder waren jedenfalls nicht mehr zurückzudrängen.
Er sah sich bei seinem letzten nächtlichen Spaziergang, vor vielen Jahren. Auch damals war er vom Schreibtisch aufgestanden, hatte sich nur die Beine vertreten wollen. In Jogginghose und T-Shirt war er bis zur Bond Street getrottet. Langsam und noch mehr hinkend als heute. Kurz nach dem großen MS Schub war das gewesen. Immer wieder war er getorkelt, konnte das Gleichgewicht kaum halten. Wäre er doch nicht bis zu der großen Einkaufsstraße gelaufen!
Menschen waren ihm ausgewichen. Jugendliche, kaum älter als er selbst, hatten über ihn gelacht und als er sich erschöpft gegen eine Hauswand hatte lehnen müssen, hatte ihm jemand ein paar Münzen hingeworfen. Für sie war er zum Penner geworden .
Später hätte er nicht mehr sagen können, wie er zurückgekommen war. Aber Henry wusste noch genau, wie er endlich in seiner Wohnung angekommen war und Peinlichkeit und Scham ihn an der Tür in die Knie gezwungen hatten. Er hatte stundenlang wie ein kleines Kind geheult. Wegen der Menschen, die nur noch einen Penner in ihm sahen, wegen der Männer, die schon lange nicht mehr anriefen, der Freunde, die nicht nach ihm fragten. Nun, er war es, der sich eingeigelt hatte, aber er gehörte nicht mehr dazu. Das war das letzte Mal gewesen, dass er das Haus verlassen hatte.
„Henry?“ Alecs Stimme drang zu ihm durch, ließ ihn aufsehen. Der hatte seine Hand auf Henrys Rücken gelegt und sah ihn fragend an. Jetzt sank er vor ihm in die Hocke. Unter einem missbilligenden Schnaufen verknotete er die Schnürsenkel seiner Sneakers. „Wie faul kann ein Mensch eigentlich sein?“
Henry lachte bitter und schwieg. Alec sah nach oben und neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Wie lange hast du schon keine Schuhe mehr getragen?“
Henry überlegte eine Weile. Alec kam in den Stand und griff nach seiner Hand. „Ein paar Jahre“, gab er schließlich zu. Und wenn du nicht gekommen wärst, wären es noch mehr geworden .
„Komm!“ Sanft zog Alec ihn durch das Tor, das er endlich geöffnet hatte und drehte den Kopf nach allen Seiten. „Wow! Wahnsinn“, murmelte er beeindruckt.
Henry trottete hinter ihm her, über den gepflegten Weg, vorbei an riesigen Hortensienbüschen in Hellblau und Zartrosa. Es roch nach modrigem Boden und duftenden Blumen. Eine Weile schlenderten sie Hand in Hand durch den kleinen Park, bewunderten die Rosensträucher, die nach Farben sortiert in kleinen Gruppen gepflanzt waren, die hohen Bäume, deren Blattwerk den Weg überdachten.
Der Zaun war an einer Seite vollständig von Rosen gesäumt. Ein weiß gestrichener Holzbogen rahmte eine kleine Bank ein. Auch an ihm rankten pfirsichfarbene Rosen empor. Es duftete frisch und süß zugleich in dem Park. Henry wunderte sich, warum er noch nie hier war, seit er vor sechs Jahren nach London gezogen war. Er setzte sich und Alec nahm neben ihm Platz. Eine gelassene Stille breitete sich über ihnen aus.
Mit sanfter Hand strich der Nachtwind durch Alecs Haar und streichelte seine Haut. Entspannt schmiegte Henry sich näher an seinen Begleiter, fühlte dessen Wärme zu ihm strömen. Ja, der komische Typ mit den gefälschten Zeugnissen war wirklich noch da. Kaum zu glauben. Stumm lächelte Henry in das unbekannte Glücksgefühl hinein. Aber er erlaubte sich nicht, es näher zu betrachten, aus Angst, es könnte sich auflösen, etwas freigeben, das er nicht sehen wollte.
Alec beugte sich zu ihm. „Weil du auf diese bunten Macarons stehst, habe ich bunte Kondome besorgt.“ Mit einem Grinsen flüsterte Alec es ihm ins Ohr.
Henry musste lachen. Die Vorfreude quoll fast in ihm über, aber hier und da zogen schwarze Wolken voller Bedenken auf. Wie albern! Er hatte doch genug Erfahrung, war durch so viele Betten gewandert, aber das war lange her. Was, wenn er inzwischen zu einem unerfahrenen 16-jährigen mutiert war? Chaos tobte mit einem Mal in seinem Kopf. Das alles sollte ihm nicht wichtig sein! Alec war ein Zeitvertreib, diese Sache hatte in vier Wochen ohnehin ein Ende. Er war ... ein Kumpel auf Zeit – kein Grund, sich zu schämen. Etwas in ihm wollte protestieren, Henry unterdrückte die Stimme mit aller Kraft.
Und dann schmiegten sich Alecs Lippen endlich auf seine, eng hielt er ihn gegen seine Brust gepresst. Ein zarter, feuchter Kuss folgte, ihre Zungen umspielten sich langsam, so, als sollte es nie zu Ende sein. Die Gedanken, schöne und zweifelnde, glitten aus seinem Kopf. Eine schillernde Blase schien sich um ihn und Alec zu schließen und plötzlich waren sie alleine auf der Welt, nur von den Bäumen, Rosen und dem Mond umgeben. Henry spürte die Kälte nicht mehr, denn Alecs Hand schob sich warm von hinten unter sein T-Shirt, streichelte über seinen Rücken. Er schmolz unter jeder noch so sanften Berührung mehr, fühlte Glut aus seiner Mitte aufsteigen, die geradewegs in seine Lenden wanderte.
Warum fühlt es sich so neu an? Henry fand keine Erklärung in sich.
„Ich wollte noch nie jemanden so dringend küssen wie dich.“ Alec flüsterte ihm kleine Lügen ins Ohr und Henry beschloss, sie für einen Augenblick zu glauben.
Unwillkürlich nickte er und beugte sich in den nächsten Kuss. Alecs Zunge wurde fordernder, drang tiefer ein, leckte gierig über seine Lippen. Hör nicht auf! Alec, der Fälscher, brauchte ihn! Damit er ein echtes Zeugnis aus einem guten Haus bekam, um für seine Familie Geld zu verdienen, Henry war das bewusst. Und er brauchte Alec als Beruhigungsmittel für seine Mutter. Aber jetzt brauchte sein Körper diesen Mann. Die Bewegung, die frische Luft, die Unwichtigkeiten, die sein falscher Butler ihm zuflüsterte – das alles entzündete viele Lebensfunken in ihm, und alle strebten zu Alec.
Der stand unvermittelt auf und reichte ihm eine Hand. „Komm!“, sagte er ebenso sexy wie mit Nachdruck .
Henrys Körper reagierte prompt. Wie von selbst folgte er der Anweisung, zog sich an der angebotenen Hand nach oben und kam in den Stand. Nur ein Zeitvertreib! Alec verband ihre Finger und Henry wehrte sich nicht. So verließen sie den Park, Alec sperrte das Tor ab und sie überquerten die Straße, als ... Henry schluckte. Nur ein Spiel war das hier! Er tat nur so, oder? Für seine Mutter tat er so, als würde er Hilfe annehmen, damit sie Ruhe gab. Und für Alec tat er so, als würde er sich dem Leben wieder öffnen, damit der sich nützlich fühlte.
Sie erreichten den Eingang von Haus Quincy. Alec zückte den Schlüssel und lächelte ihn liebevoll an. Zwischen all die Zweifel und die Abwehr kroch ein wenig Wärme und Henry vergaß für den Moment, worüber er gerade nachgedacht hatte. Morgen! Er würde morgen wieder daran denken.