Kapitel 14 Henry
„Alec, gehst du gleich in die Küche?“
Henry schüttelte den Kopf. Er ist nicht hier! Verdammte Gewohnheit. Mit den Fingerspitzen strich er sanft über die Tastatur, ohne zu tippen. Eigenartig. Seine rechte Hand kribbelte mehr als sonst. Ein MS Schub? Ach was, sicher nur das Wetter. Noch einmal sah er über seine Schulter, horchte in die Wohnung. Aber alles blieb still. Alec war also noch unterwegs.
Unter einem Seufzen schmiegte er den Rücken gegen das abgewetzte Leder seines Schreibtischsessels. Wie unangenehm war es ihm zuerst gewesen, wenn sein falscher Butler, ohne anzuklopfen, ins Arbeitszimmer gekommen war. Nach all den stummen, leeren Jahren war Henry jedes Mal zusammengezuckt, wenn Alec wieder einmal mit Tee, Kaffee oder Macarons hereingeplatzt war. Aber gegen Beschwerden war der ja taub.
Seit wann stand die Tür eigentlich immer offen? Und wann genau hatte er sich an die warmen Getränke und das Gebäck gewöhnt, das ihm auf hübschem Geschirr an den Schreibtisch geliefert wurde? Wieso vermisste er eigentlich Alecs streichelnde Hand? Ungefragt strich der ihm mehrmals am Tag über den Rücken oder das Haar. Diesem Kerl schien es gar nichts auszumachen, dass Henry die Zärtlichkeiten nie erwiderte. Ob Alec merkte, dass er sie trotzdem genoss?
Nachdenklich legte Henry den Finger auf das Zebra aus Zinn, das neben der Tastatur stand. Das hatte er als kleiner Junge mit seinem Vater gegossen und angemalt, zusammen mit vielen anderen Tieren, die einen Zoo gebildet hatten. Die restlichen Zooinsassen hatte die Zeit verschwinden lassen, nur dieses Zebra war noch übrig und begleitete ihn täglich bei der Arbeit. Wehmut schob sich durch seinen Körper, ließ ihn traurig werden.
Sein Vater hatte ihn bis 12 in der örtlichen Schule gelassen und dann nicht nach Eton geschickt, weil er selbst dort so unter den strengen Regeln gelitten hatte. Ein modernes, gemischtes Internat hatte er für Henry ausgesucht. Ausgerechnet in der Nähe von London, damit er die Wochenenden bei seiner Mutter verbringen konnte, die damals in Haus Quincy lebte. Dabei wäre Henry viel lieber nach Hause, nach Cornwall, gefahren. Hätte mit seinem Vater geredet, über Rosen und Pferde und über all die unwichtigen Dinge, über die der eben gerne plauderte. Und mit Laurence hätte er Scones gebacken! Seine Mutter war selten zuhause gewesen und sie fragte immer nur nach seinen Noten. Etwas, das Henry bis heute nicht greifen konnte, stand auch Jahre nach der Trennung zwischen ihnen. Mehr als der Vorwurf, dass sie ihn verlassen hatten. Sie waren sich einfach fremd geblieben .
Aber Alec, der fragte ihn ... alles! Der kannte einfach keine Tabuthemen. Henry grinste und strich noch einmal mit der Fingerspitze über das Zinn-Zebra. Alecs indiskrete Fragen und Anweisungen kamen ihm in den Sinn. Mit welcher blöden Ausrede willst du dich heute vor dem Spaziergang im Park drücken? Wenn du noch mal die Macarons, die dir nicht schmecken, im Papierkorb verrotten lässt, serviere ich dir die Pampe am nächsten Tag zum Tee! Und heute Morgen: Wenn du meinst, nur weil du leise im Bett furzt, riecht es nach Rosen, irrst du dich! Wenn Alec fragte, wie es ihm ging, wollte er es tatsächlich wissen. Sonderbar.
Der Kerl klebte in seinem Kopf, ob er anwesend war oder nicht. Henry schnaufte und kam langsam auf die Füße. Seine Beine fühlten sich heute schwerer an als sonst. Besser nicht daran denken. Schwerfällig schleppte er sich in die Küche. Für einen Augenblick stand er nur da, sah sich um. Eine merkwürdige Panik schlich sich auf leisen Sohlen an, ergriff ihn. Kribbelte in seinem Körper, schloss ihre kalte Hand um seine Brust. Alleine! Niemand außer ihm war hier. Aber das war sein Leben, er hatte es doch selbst so gewählt! Woher kam plötzlich diese Beklemmung?
„Ich ... kann das jetzt nicht gebrauchen“, murmelte er und hielt sich an der Arbeitsplatte fest.
Sein Handy summte in der Hosentasche. Dankbar über die Ablenkung zog er es heraus. Selbst Bettys Nachricht hätte er jetzt beantwortet, so viel war sicher. Aber sie war von Alec.
Hey. Soll ich etwas mitbringen?, stand da.
Ja, dich , dachte Henry und unter die Panik mischte sich Sehnsucht. Schnell steckte er das Handy wieder ein, um nichts Verräterisches zu schreiben. Wenn Alec jetzt hier wäre, würde der ihn in den Arm nehmen oder etwas Lustiges sagen. Der würde versuchen, ihn dazu zu bringen, seine Gefühle auszudrücken. Na, zum Glück konnte er das bisher verhindern.
Henry sah sich, letzte Nacht, wie er auf dem Bett lag, die Hände auf dem Rücken mit einem Seidenschal gefesselt, und Alec, der zwischen seinen Schenkeln kniete, ihn mit Lippen, Zunge und dem Mund in den Wahnsinn trieb. So nah am Höhepunkt hatte er ihn gehalten, bis Henry, halb verrückt vor Lust, um Erlösung gefleht hatte. Er weiß viel zu viel über mich.
Ich möchte mehr von dir wissen. Immer wieder raunte Alec es ihm in der Nacht ins Ohr. Aber er kannte doch seine Vorlieben, die er vor der Krankheit nur selten ausgelebt hatte. Jemandem Macht und Kontrolle über ihn zu geben – der Gedanke war für Henry so erregend wie erschreckend zugleich. Ab und an hatte er es ausprobiert. Aber die erklärten BDSM Tops hatten sich oft nur arrogant verhalten, ganz so, als wäre er ein Stück Fleisch, das ihnen gehörte. Manche hatten ihn sogar beschimpft – und das war das Letzte, was ihn heißmachte. Henry seufzte bei der Erinnerung. Aber Alec ... der war liebevoll und behutsam und trotzdem dominant. Der küsste Henry regelmäßig jeden Widerstand aus dem Kopf.
Einige Male musste er tief ein und ausatmen. Dann straffte er sich und beschloss, diesem Gedankenchaos sofort ein Ende zu machen! Aber was hatte ihn früher eigentlich abgelenkt? Es war so lange her, seit er die dröhnende Stille in seiner Seele nicht mehr ausgehalten hatte.
Und dann fiel es ihm wieder ein! Die Wochenenden, die er zuhause auf Rosewater verbringen durfte, die waren seine kleinen Zufluchten gewesen. Ein warmer Ort, fern vom Schulstress, den ersten schwulen Gedanken und dem Gefühl, nicht richtig zu sein. Nicht so, wie er sein sollte.
Scones! Das war es! Die Winterabende in der großen, gemütlichen Wirtschaftsküche, zusammen mit Laurence fielen ihm ein. Sogar sein Vater hatte sich oft dazugesetzt, am Holztisch gearbeitet und über eine seiner neusten Rosenzüchtungen berichtet. An diesen Abenden hatte er sich sicher und aufgehoben gefühlt. Geliebt. Henry schluckte mehrmals trocken und presste die Lippen zusammen. Warum hatte sein Vater aufgehört, ihn zu lieben? Er würde nie eine Antwort darauf finden, da war er sicher.
Hinkend bewegte er sich auf den Schrank zu und öffnete eine Tür nach der anderen. Und – tatsächlich! Alec hatte Mehl eingekauft und eine Packung Zucker stand ebenfalls dort. Natürlich, der kochte und backte ja für ihn. Bevor die nagenden Gefühle erneut aufflammen konnten, beeilte er sich, zum Kühlschrank zu kommen, der vor Lebensmittel nur so überquoll. Noch vor vier Wochen war er verwaist gewesen. Henry wunderte sich und nahm Eier, Milch und Butter heraus. Eine große Schüssel stand abgewaschen auf der Arbeitsplatte und wartete, so wie er, auf Alec, der sie wegräumen würde.
Henry suchte einen Schneebesen und fand einen in der Schublade. Eifrig begann er, die Zutaten zusammen zu rühren und wirklich – langsam beruhigte sich der Sturm in ihm.
Zufrieden starrte er auf die zähe Masse in der Schüssel. Ah, der Ofen! Henry stellte die Temperatur ein und setzte sich auf die Fensterbank. Die Läden davor waren jetzt immer weit geöffnet und gaben den Blick über die Stadt frei. Zwei weiße Tauben gurrten auf dem Kaminsims und ließen sich nicht stören. Der Sommerwind, der zu ihm hereinwehte, streichelte seine Haut, ließ ihn lächeln .
„Ich sehe die beiden Tauben jeden Tag. Bestimmt sind sie ein Paar“, sagte Henry über seine Schulter hinweg und lachte bitter auf.
Er ist immer noch nicht da! Sein Hirn war heute erstaunlich langsam. Eine Weile ließ er die leichte Brise über seinen Körper streifen, betrachtete die Bank, weit unten im kleinen Park. Gestern Abend hatte er dort noch mit Alec gesessen und ... sie hatten sich wie ein verdammtes Liebespaar aufgeführt!
Verflucht! Er brauchte diese Gefühle nicht. Es war eine Abmachung und ein bisschen Spaß unter schwulen Jungs, sonst verband ihn nichts mit Alec! Unruhig zuckte Angst in ihm, trieb ihn weg von der Fensterbank und zum Ofen. Etwas tun! Dann musste er nicht mehr daran denken.
Gedankenverloren öffnete er den Ofen und wollte das Backblech herausnehmen. Ausgerechnet seine zitternde Hand streckte er danach aus. Fast zu spät fühlte er die Hitze, zog schnell die Hand zurück, aber die Kante streifte das heiße Blech.
Mit einem Schmerzschrei kippte er nach hinten, stieß gegen den kleinen Tisch. So weh tat die Stelle, Henry fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er taumelte zum Waschbecken. Das kalte Wasser tat so gut! Augenblicklich ließ der Schmerz nach, die betroffene Hautstelle wurde taub. Henry schloss die Augen und versuchte seinen Atem zu beruhigen .
„Welches Experiment hast du denn hier durchgeführt?“
Eine Hand legte sich in seinen Rücken, Henry zuckte nicht zusammen. Alecs Stimme beruhigte ihn, die Berührung ließ seine Glieder entspannen. Wann war der hereingekommen?
„Ich habe die Temperatur im Ofen geprüft“, sagte er und rührte sich nicht von der Stelle.
„Mit der nackten Hand? Mutig. Zeig mal.“ Alec stand jetzt neben ihm, umfasste Henrys Unterarm und zog ihn näher. Mit einem prüfenden Blick besah er sich die Handkante. „Die Verbrennung ist nicht tief. Ich denke, wir müssen nicht in die Klinik. Hätte böse enden können!“ Unvermittelt legte er seine Hand in Henrys Nacken und sah ihm für einen Moment in die Augen. Dann zog er ihn näher, umarmte ihn fest. „Ganz schön stressig, so eine Backaktion, was?“, brummte er und Henry fühlte, wie die anstrengenden Gedanken der letzten Stunde, zusammen mit dem Schock der Verbrennung aus ihm herausliefen. Er schmiegte seinen Kopf gegen Alecs Hals, sog den herben Geruch in seine Nase und ließ sich einfach halten. Gut, dass du zurück bist, dachte er und schwieg.
„Setz dich besser. Ich hole die Brandsalbe“, sagte Alec und schob ihn auf den nächsten Küchenstuhl.
Schon vermisste Henry die Umarmung und hasste sich für so viel Bedürftigkeit. Einzig seine Erziehung zu Haltung und Distanz hatte ihn viele Male in den letzten Wochen gerettet, da war er sich sicher. Alec versorgte alle Wunden, die an seinen Beinen und die, welche die einsamen Jahre in seine Seele gerissen hatten. Und er tat es mit so viel Hingabe und Zärtlichkeit, dass Henry den Gedanken kaum aushielt, bald wieder darauf verzichten zu müssen. Er meint gar nicht mich! Er will sein Gewissen beruhigen, weil er hier nicht wirklich den Butler spielen kann.
Schon kam Alec zurück und sank vor ihm in die Hocke. Er schraubte eine Tube auf und verteilte ein durchsichtiges Gel behutsam auf der verbrannten Stelle. Henry betrachtete ihn fasziniert. Alec verschloss die Tube und beugte sich hinunter. Dann küsste er eine gelfreie Stelle und grinste. „So hat meine Mutter das früher immer gemacht. Heilt schneller.“
„Danke“, sagte Henry artig und wusste, er sollte jetzt etwas Anderes sagen. Etwas ... Wichtigeres. Alles in ihm schwieg.
„Was sollte das eigentlich werden?“, fragte Alec und zeigte auf die Schüssel mit dem Teig.
„Scones“
„Hm“ Alec beugte sich über den Backversuch und roch daran. „Riecht gut. Die Ofentemperatur hast du ja schon unter Einsatz deines Lebens getestet, dann backen wir doch mal Scones!“ Prüfend hielt er einen Löffel in den Teig. „Ist zu flüssig, hast du noch Mehl?
Henry schüttelte den Kopf. Das Mehl war aufgebraucht.
„Macht nichts. Die werden auch so gut.“
Entschlossen nahm Alec zwei Ofenhandschuhe vom Regal und zog sie an.
„Spart Brandsalbe“, sagte er grinsend, nahm das Blech aus dem Ofen und tropfte, nach und nach, kleine Teighaufen darauf, dann schob er es in den vorgeheizten Ofen. „Na, wie geht’s, du Bäckermeister“, sagte er liebevoll, zog die Handschuhe aus und strich Henry eine Haarsträhne aus der Stirn.
Er fühlte sich schwer und erschöpft. Seine verletzte Hand lag immer noch unbeweglich auf dem Oberschenkel. Er blinzelte zu Alec. Der stand da, lässig gegen die Arbeitsplatte gelehnt. Noch in seiner Motorradhose, ein rotes T-Shirt und Helmhaare, die wild abstanden. Henry verlor sich in seinen Augen, tauchte darin ab, bewunderte den schönen Mund, die langen Wimpern, das milde Lächeln, das ihm galt. Oder? Lächelte Alec wirklich gerade ... für ihn?
Henry stand auf und trat einen Schritt auf Alec zu, dann noch einen. Der legte je eine Hand links und rechts auf seine Hüfte und zog ihn näher. Ein klarer Gedanke blitzte in ihm auf. Wie ein Ertrinkender umarmte er Alec, presste sich fest gegen ihn, spürte den Körper des anderen Mannes an seinem. Ich bin nicht mehr alleine! So übermächtig wurde der Gedanke, dass er ihn bald vollkommen anfüllte.
„Ich“, flüsterte er und wollte die Worte aussprechen, aber seine Lippen konnten sie nicht formen. „Alec“ Noch einmal versuchte er es. Aber das dröhnende Geräusch der Klingel ließ ihn zusammenzucken.